Die Liste der Großen, die derzeit ins Fadenkreuz der Moskauer Staatsanwaltschaft geraten, wird immer länger. Jetzt widmen sich die Ermittler nicht nur Geschäften aus der Zeit einer "wilden Privatisierung" Anfang der neunziger, sondern auch manchem Eigentümerwechsel der vergangenen Jahre. Anfang Juli begann die Kampagne mit der Verhaftung von Platon Lebedjew, dem Vizepräsidenten des größten russischen Ölkonzerns Jukos. Inzwischen wird gegen das Unternehmen, das seine Bücher längst nach westlichen Standards führt, auch wegen Steuerhinterziehung ermittelt. Der Leiter des Obersten Rechnungshofes, Sergej Stepaschin, moniert zudem auch beim Jukos-Rivalen Sibneft für 2001 eine Steuerschuld von 294 Millionen Euro. Und dies just einen Tag, nachdem Sibneft-Chef Roman Abramowitsch freudig bekannt gab, er habe sich für 200 Millionen Dollar beim englischen Fußballclub Chelsea eingekauft. Eine Intervention des Unternehmerverbandes - Präsident Arkadi Wolskij sprach persönlich bei Präsident Wladimir Putin vor -, die Oligarchen doch zu schonen, erbrachte den dezenten Hinweis auf die Unabhängigkeit der russischen Justiz.
Die ist so unabhängig, dass sie sich ausgerechnet jetzt die Flaggschiffe des Big Business vorknöpft, deren Aufstieg in der Ära Jelzin begann. Sie gehören zur "Familie", wie die seinerzeit zur Macht Gekommenen genannt werden. Innenminister Gryslow, Verteidigungsminister Iwanow und Finanzminister Kudrin - ausnahmslos Vertraute Putins - haben es nun aber auf den Posten des Ministerpräsidenten abgesehen. Amtsinhaber Michail Kasjanow zählt zur "Familie" und hat sich bisher erstaunlich gut gehalten, trotz immer wieder kursierender Rücktrittsgerüchte.
Doch am 7. Dezember wird die neue Duma gewählt, und da hängt zumindest die Kampagne gegen den Ölkonzern Jukos offenbar weniger mit den juristischen Vergehen als den politischen Ambitionen ihres Vorstandsvorsitzenden Michail Chodorkowskij, Russlands erstem Milliardär, zusammen. Jukos unterstützt die Oppositionsparteien Union der Rechten Kräfte (UDK), die liberale Jabloko und die KP finanziell. Der 40jährige Oligarch selbst hat eine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2008 ins Auge gefasst. Erst wenn er diese Ansprüche aufgibt, werden die Staatsanwälte ihre Akten wieder schließen, wird im Vertrauen auf die Unabhängigkeit der Justiz spekuliert. Vielleicht tun sie´s auch aus anderen Gründen, wenn der Oligarch weiter ungerührt vor Kapitalflucht und Investitionsangst warnt. Die russische Wirtschaft könne bis Ende des Jahres "einige zehn Milliarden Dollar" verlieren, insistiert Chodorkowskij unverdrossen. Die Staatsanwälte könnten dies unter Umständen so verstehen, dass eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative nicht die Gewaltenteilung zwischen Politik und Ökonomie beschädigen darf.
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