Oh, du schrille, popkulturelle Allegorie

Russischer Albtraum Mit dem Roman „23.000“ beendet Vladimir Sorokin seine deftige Trilogie über eine faschistisch anmutende Sekte

Vladimir Sorokin ist der bad boy der russischen Gegenwartsliteratur. Mit Hingabe, fast obsessiv verarbeitet er die russische Geschichte und Gegenwart in exzentrischen Science-Fiction-Sujets. Darin hat er Routine, denn schon in den 80ern schrieb der gelernte Ingenieur im Moskauer Untergrund seine Erzählungen und Romane, die erst in Frankreich erschienen und seit 1989 auch in Russland verlegt werden. Heute ist er in seiner Heimat und international ein literarischer Popstar. Mit 23.000 kommt nun der dritte Teil seiner „Eistrilogie“ auch auf Deutsch heraus – fünf Jahre nachdem das Buch im russischen Original erschienen ist. Für manch eingefleischten, puristischen Sorokin-Fan sind diese Bücher des 1955 geborenen Schriftstellers uninteressant, weil sie sich inhaltlich wie formal sehr am Mainstream orientieren. Sorokin ist mittlerweile eben zum Bestseller-Autor geworden.

Mit 23.000 beendet Sorokin seine Trilogie, die hierzulande mit Ljod. Das Eis 2005 begonnen und in Bro 2006 ihre Fortsetzung hatte. Die einzelnen Teile lassen sich unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge lesen. In einer kruden Mischung aus Science-Fiction und Esoterik erzählt Sorokin die Geschichte einer Art Sekte, die aus 23.000 Wesen besteht, die als kosmische Lichtstrahlen einst auf die Erde kamen, sich jetzt sammeln und den Planeten wieder verlassen wollen. Dabei würde die Erde zerstört, was aber nichts macht, denn eigentlich ist sie aus Sicht der Sekte eh ein kosmischer Betriebsunfall. Das allein würde wohl kaum als Literatur durchgehen, verknüpfte Sorokin in dieser Trilogie nicht die Geschichte des Totalitarismus im 20. Jahrhundert mit dem Mythen umwobenen Tunguska-Meteoriten in Sibirien und rasanten Beschreibungen eines zeitgemäßen Russlands. Denn die faschistisch anmutende Sekte rekrutiert ihre Mitglieder, indem sie mit Eishämmern auf die Brustkörbe von möglichen Auserwählten schlägt und so ihr kosmisches Herz zum Sprechen bringt. Wer doch nicht dazugehört und es nicht überlebt, verreckt an einen Laternenpfahl gebunden in irgendeinem Vorort oder in einem Kellergewölbe an die Wand gekettet. Die Sektenmitglieder, allesamt blond und blauäugig, bekleiden hohe Ämter sowohl in Nazi-Deutschland als auch in der Sowjetunion und in der kapitalistischen Gegenwart.

Nachdem die ersten beiden Teile die Vorgeschichte der Sekte im frühen und späten 20. Jahrhundert erzählen, geht es im jetzt erschienenen letzten Teil um die Gegenwart. Sorokin stellt die überlebenden Opfer der Sekte in den Mittelpunkt, die sich in Selbsthilfegruppen organisieren und gegen den Sektenkonzern ermitteln – bis einige von ihnen gefangen und in unterirdische Internierungslager gesperrt werden. Die Sekte vermarktet derweil ihre industriell reproduzierten Ritualgegenstände gewinnbringend als multinationaler Großkonzern.

Popkulturelle Allegorie

Dieser Roman ist keine esoterische Verschwörungstheorie, sondern eine schrille, popkulturelle Allegorie auf die totalitären Unterdrückungsmechanismen in Russland und die dortigen Sehnsüchte fundamentalistischer Kräfte nach religiösen Heilsphantasien. Diese erzählerische tour de force enthält ebenso wilde Verfolgungsjagden mit dem Auto durch Moskau, wie Alptraumsequenzen, in denen Bautrupps eine Plattenbausiedlung überfallen und wie in einem Kriegsakt mit dem Einreißen der Gebäude beginnen und die Bewohner erschlagen. Wenn der Hauptteil der Handlung auch in Russland spielt, so springt die Erzählung doch auch über den ganzen Globus: von München über die chinesische Provinz nach Paris und New York.

Wie schon in den anderen Teilen greift Sorokin auch diesmal stilistisch in die Vollen und zieht gekonnt unterschiedliche Sprachregister, was letztlich die literarische Qualität dieses Buches mit ausmacht. Das reicht von den manchmal ermüdenden monologischen Gedankengängen der Sektenmitglieder über eine lebendige dialogreiche Prosa hin zu einer knappen Sprache, die sehr klare und die zum Teil drastischen filmischen Bilder entwirft. Natürlich ist diese Trilogie „Sorokin light“ im Vergleich zu seinen früheren Büchern, wie etwa Der himmelblaue Speck, in dem Hitler in seiner Bergfestung Stalins Tochter vergewaltigt, während Leni Riefenstahl im Hintergrund über ihren neuen Film, der die Ästhetik Londons nach dem Atomschlag zeigt, daherschwadroniert. Damals, vor fast zehn Jahren, wurde Sorokin wegen Pornographie angezeigt, und die nationalistische Jugendorganisation Putins verbrannte Sorokins Bücher in Moskau öffentlich in einer nachgebauten Toilette. Der Prozess gegen ihn endete mit einem Freispruch. Mittlerweile hat sich der Aufruhr um den in Moskau lebenden Sorokin gelegt.

Science-Fiction war in den Ostblockländern stets ein literarisches Genre, um Systemkritik zu formulieren. Auch Sorokin aus hat dieses literarische Tool zum Vehikel seines Schreibens gemacht – nicht als einziger in Russland. Auch Viktor Pelewin ist Vertreter des neuen magischen Realismus russischer Prägung. Für diese Literatur gilt, was Don Delillo schon Ende der Neunziger für seine postmodernen Großromane beanspruchte: Hier hat die Literatur Mittel des Erzählens, von denen Filmemacher nur träumen können.


23000

Vladimir Sorokin, Berlin-Verlag, 256 S., 24

Florian Schmidt ist freier Journalist. Er hat Geschichte und Hispanistik studiert

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