Olivia Rodrigos Album „Guts“: Wie ein Tagebuch zum Mitsingen
Musik Mit 13 war Olivia Rodrigo Star eines Disney-Films, als sie 18 war, landete sie mit ihrem ersten Album „Sour“ zwei Nummer-eins-Hits. Was unterscheidet den Pop-Punk ihres zweiten Albums „Guts“ von Avril Lavignes oder Billie Eilishs Songs?
Olivia Rodrigo hat es wieder getan: Sie hat das Gefühlschaos unzähliger junger Hörerinnen auf den Punkt gebracht und in Pop-Punk zum Mitsingen verwandelt.
Sour, das Debütalbum der Singer-Songwriterin aus dem Jahr 2021, schrieb Musikgeschichte mit seinen zwei Nummer-eins-Hits. Es folgten drei Grammys im Alter von 18 Jahren. Die Erwartungen an das zweite Album waren groß: War ihr Debüt ein Glückstreffer oder hat Olivia Rodrigo mehr zu bieten?
Ihr zweites Album Guts (dt. „Eingeweide“, steht aber auch für den Mumm ebenso wie für Bauchgefühl, auch „das Herz ausschütten" – „to spill one’s guts“) begeistert zurzeit die Kritik und die Fans gleichermaßen. Der pop-punkige Sound weckt Nostalgie nach de
nkige Sound weckt Nostalgie nach dem Jahr 2007, als Avril Lavigne oder auch Bands wie Paramore groß waren, und bringt gleichzeitig einen frischen Wind in den Musikmainstream. Ewig ist es her, dass sich im Formatradio auch Gitarrenriffs hören ließen.Ihre größte Inspiration: Taylor SwiftDoch ihr Ass im Ärmel sind die Songtexte. Rodrigo begann mit 12 eigene Texte zu schreiben. 2016 zog sie mit ihren Eltern nach Los Angeles, um die Hauptrolle in der Disney-Serie Bizaardvark zu spielen. 2019 spielte sie in High School Musical: Das Musical: Die Serie mit und etablierte sich als Allrounder-Talent auf Disney+: Schauspiel, Gesang, Tanz, sie verkörperte das, was zuletzt Miley Cyrus geschafft hatte. Allerdings war für Rodrigo von Beginn an klar: Songwriting, das sollte ihr Unterscheidungsmerkmal im überschaubaren, aber höchst kompetitiven Disney-Talent-Pool sein. Sie unterschrieb einen Plattenvertrag außerhalb der Disney-Marketingmaschine (und zwar bei den Verlagen Geffen Records und Sony Music Publishing).Als ihre große Inspiration nannte Rodrigo stets Taylor Swift. Und wer die Zeilen, die Rodrigo im Pop-Punk-Stil rausbrüllt, aufmerksam mitverfolgt, stellt fest: Die rohe Emotionalität, die präzise Darstellung von Adoleszenz, der tagebuchartige Handlungsstrang, all das erinnert an Swift, die bei den MTV-Music Awards gerade neun Preise gewann, darunter für den besten Song und das beste Video. Die Ähnlichkeiten gehen so weit, dass Swift nachträglich als Co-Autorin von Rodrigos Song Deja Vu hinzugefügt wurde. Ob Rodrigo hierfür von ihrem Idol verklagt wurde, bleibt unklar – im Guardian-Interview verrät die 20-Jährige nur, sie wisse nun besser Bescheid über das Musikgeschäft.Coca-Cola-Dosen als LockenwicklerGuts beginnt mit dem Track All-American Bitch. Die sanfte Gitarre lässt es wie ein Folk-Lied beginnen, Rodrigos zarte Stimme eröffnet das Album mit einem Widerspruch: „I am light as a feather, I’m as stiff as a board.“ Sie bedient sich der Klischees über die perfekte Amerikanerin, welche gleichzeitig Mutter und eine „totale Maschine“ ist, Coca-Cola-Dosen als Lockenwickler nutzt, aber den Stil einer Kennedy besitzt. Ihre scharfe Feder wird im Chorus deutlich, denn schon nach 50 Sekunden, begleitet von den ersten punkigen Töne des Albums, kommt die Zeile: „I’m a perfect all-American…“. Die Inspiration, so Rodrigo zum People Magazine: Ein Zitat aus Joan Didions Essaysammlung The White Album, wo ein abgehauener Hippie seine Mutter als eine „All-American Bitch“ bezeichnet.Das zweite Lied und die Hauptsingle des Albums, Bad Idea Right? weist eine unwiderstehliche Melodie auf, die auf und ab geht. Lyrisch handelt der Song von einer On-Off-Beziehung und dem Prozess einer widersprüchlichen Selbstermutigung, den*die Ex zurück ins Leben zu lassen: „I only see him as a friend/The biggest lie I ever said“ singt Rodrigo und überzeugt den Hörer, sich auf die Achterbahn einzulassen. Die Gitarrenriffs runden den Song zu einem Chaos erster Klasse ab.Direkt danach geht das Album emotional eine Stufe runter: Vampire ist eine Ballade über eine ehemalige Beziehung, die Rodrigo zerstückelt zurücklässt, obwohl sie von anderen Frauen vor dieser Person gewarnt wurde: „You called them crazy/I hate the way I called them crazy too“, so fasst sie ihre verliebte Naivität zusammen, die auf den eigenen feministischen Anspruch im Moment der Ernüchterung trifft. Wie ein Tagebucheintrag klingt das. Rodrigos Hintergrund im Musicaltheater lässt ihre perfekte Diktion erkennen, die Erkenntnisreise geht in einem Crescendo im Chorus aufgeht: „The way you sold me for parts/As you sunk your teeth into me/Bloodsucker, famefucker/Bleeding me dry like a goddamn vampire“.Rodrigo vermittelt Gefühle nicht, sie spricht die Dinge wörtlich ausPop-Punk und starke Lyrics, das ist eigentlich nicht neu. Avril Lavigne schrieb ihr erstes Album Let Go im Alter von 17 Jahren. Ein aktuelleres Beispiel ist die Singer-Songerwriterin Billie Eilish, die mit 13 Jahren ihren Durchbruch mit dem Lied Ocean Eyes hatte. Doch Olivia Rodrigo schreibt wörtlicher, theatralischer, eben als könnte das Lied von einem High School Musical-Charakter gesungen werden: In Making the bed vermittelt Rodrigo nicht das Gefühl, sie sei am falschen Ort, sie spricht es wörtlich aus: „Well, sometimes I feel like I don‘t wanna be where I am“. Das erinnert an Gabriella und Troy (gespielt von Vanessa Hudgens und Zac Efron) in deren High School Musical 2-Duett, I Gotta Go My Own Way – „I just don’t belong here/I hope you understand.“Die Bilder, die Olivia Rodrigo mit ihren Worten malt, sind nicht abstrakt – sie sind wie eine Drehbuchanweisung. Sie lässt die Metapher einer wilden Fahrt durch die Stadt ohne Bremsen nicht stehen, sondern singt: „I read somewhere it’s cause my life feels so out of control“. Rodrigo singt aus einem Tagebuch vor, in dem sie die Gefühle nicht nur niederschreibt, sondern auf therapeutische Art aufarbeitet. In The Grudge, einer Ballade über eine Trennung, heißt es: „I try to understand why you would do this all to me/You must be insecure, you must be so unhappy.“Nicht jedes Lied ist ein TrennungsliedDoch nicht jedes Lied auf Guts ist ein Trennungslied: Ballad of a homeschooled girl, ein schnelles Mitsinglied („It’s social suicide“ geht überraschend leicht über die Lippen), hört sich an wie ein Geschenk für alle Zuhause unterrichteten Mädchen mit einer Vorliebe für darstellendes Spiel – eine Nische, zu der Rodrigo vor dem Ruhm dazugehörte und die in Internetforen wie Reddit und TikTok überrepräsentiert ist.Der finale Song von Guts ist die Ballade Teenage Dream. Thema: Der Werdegang eines Kinderstars. Für Normalsterbliche ist das vergleichbar mit dem – umgangssprachlich spöttischen – „Gifted-Kid-Syndrom“, also mit der Befürchtung der ehemals Begabten, dass sie ihren Höhepunkt bereits im Schulalter erreicht haben. In ihrem buchstäblichen Ton teilt Rodrigo ihre Angst mit, die besten Teile von ihr schon gegeben zu haben. Guts beweist das Gegenteil.