Die Redaktion der ukrainischen Filmzeitschrift Kino-Kolo (Filmkreis) befindet sich in einem winzigen Zimmer, vollgestopft mit Ordnern, Büchern und Fotomappen. Dafür steht das Haus aus der Stalin-Ära im Herzen Kiews, so dass man aus dem Fenster des siebten Stockwerks direkt auf das 40 Meter hohe Unabhängigkeitsdenkmal blickt. Das übergroße Monument wurde 2001 errichtet, an der Stelle eines acht Meter hohen Lenin-Denkmals, das 1977 zum 60. Jubiläum der Oktoberrevolution aufgestellt worden war. Nun grüßt eine grün gewandete Frauengestalt mit vergoldeten Weinblättern von einer weißen Marmorsäule. Ihre Kleidung sei von großer nationaler Bedeutung, erklärte der Bildhauer Anatolij Kuschtsch; Ornamente aus den Volkstrachten aller Regionen der Ukraine seien darin eingearbeitet. Von unten lassen sie sich allerdings nur mit dem Fernglas ausmachen und selbst aus dem Redaktionsbüro in der siebten Etage ist nicht viel davon zu erkennen. Laut Presseberichten haben die Umgestaltung des Platzes, das umstrittene Denkmal, sowie die ominöse Feier zum zehnten Jahrestag der Unabhängigkeit den hoch verschuldeten Staat circa 400 Millionen Euro gekostet.
Die Zeitschrift Kino-Kolo hat gerade ein ehrgeiziges Projekt abgeschlossen: Eine digitale Datenbank erfasst nicht weniger als 1.500 Filme und genau so viele Biografien von Filmschaffenden der ukrainischen Kinoindustrie von Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Zweisprachig, auf Ukrainisch und Englisch, steht sie nun im Internet (www.kinokolo.ua). Stellt sich die Frage: Welche Filme sind eigentlich ukrainisch und wie lassen sich diese aus dem Nachlass der sowjetischen Filmindustrie herauslösen? Sind damit die Filme gemeint, die auf Ukrainisch gedreht wurden? Davon gibt es nur wenige, zumindest vor 1991. Oder meint man die, die sich thematisch mit der Suche nach einer nationalen Identität befassen? Oder Filme, deren Regisseure Ukrainer sind beziehungsweise aus der Ukraine stammen? Man hat sich für das einfachste Prinzip entschieden: In die Datenbank gehöre jeder Film, der auf dem Territorium der heutigen Ukraine produziert wurde, so der stellvertretende Chef-Redakteur von Kino-Kolo Alik Shpilyk. Das heißt, alle Filme, die je in Kiew, Odessa oder Jalta gedreht wurden, darunter eine Mehrzahl, die zu Sowjetzeiten kaum etwas mit der Ukraine zu tun hatten und in denen niemand die Landessprache spricht, werden nun zum ukrainischen Filmerbe gerechnet. "Heimgeholt" finden sich auf diese Weise sogar jene Werke, die in den zwanziger und dreißiger Jahren auf der Krim gedreht wurden, zu einer Zeit, als diese noch zur russischen Sowjetrepublik gehörte - lange bevor die Halbinsel unter Nikita Chruschtschow im Jahre 1954 dann an die Ukrainische Sowjetrepublik übergeben wurde.
Im Grunde sind in Kiew nur in den zwanziger und später in den sechziger Jahren einige wenige Filme entstanden, die bewusst nach einer ukrainischen kulturellen Identität suchten. Olexander Dowshenko, das Filmgenie der Zwanziger, hat die zentralen Themen des ukrainischen Universums in den Film gebracht: Acker, Fruchtbarkeit, Mythos. Im Gegensatz zum Konstruktivisten Sergej Eisenstein war Dowshenko ein Epiker mit tiefer Liebe zu seinen nationalen Wurzeln. In den sechziger Jahren wurde Dowshenkos Ästhetik von jungen Kiewer Regisseuren wie Sergej Paradshanow oder Leonid Osyka neu entdeckt. So entstand der so genannte "ukrainische poetische Film", der sich durch expressive Filmsprache, epische Erzählweise und Interesse für die nationale Folklore auszeichnete. Solche Filme passten aber nicht ins offizielle Konzept des "sozialistischen Realismus" und die neue Filmbewegung wurde bald von der Kiewer und Moskauer Filmbürokratie zerschlagen.
Nachdem die Ukraine unabhängig geworden war, wollten nun die selben Bürokraten den epischen ukrainischen Film aus dem Nichts wieder hervorzaubern. Nationale Identität mit Hilfe des Kinos zu befördern, war plötzlich zur Staatsaufgabe geworden. So entstanden zwei Mammutprojekte, die eher von staatlichem Größenwahn als von der Wiedergeburt eines nationalen Geistes zeugen. Bei Gebet für den Hetman Masepa, ein Werk des 66-jährigen Altmeisters Juri Iljenko und Bogdan Chmelnizkij, bei dem der 73-jährige Mikola Maschtschenko Regie führte, handelt es sich um Filmbiografien großer Staatsmänner, die im 17. und 18. Jahrhundert den Unabhängigkeitskampf der Ukrainer führten. "Beide Filme haben viel mit dem Unabhängigkeitsdenkmal gemeinsam," sagt Alik Shpilyk und zeigt mit ironischem Lächeln aus dem Redaktionsfenster, "teuer, pseudo-folkloristisch und hoffnungslos verkitscht". Das Ausmaß der Geldverschwendung sei beeindruckend. Masepa, so der Filmkritiker, erhielt vor zwei Jahren 2,3 Millionen Dollar aus der notorisch leeren Staatskasse und Chmelnizkij letztes Jahr 2,5 Millionen. Die Macher von Bogdan Chmelnizkij verbrauchten sämtliche staatlichen Filmmittel für gleich zwei Jahre. Dass beide Filme im Verleih floppen würden, war vorauszusehen. Doch wie zu Sowjetzeiten war im Dienste der Ideologie nichts zu teuer.
Andrej Kurkow ist nicht nur der einzige ukrainische Schriftsteller, der es im Westen zu Bestsellerruhm gebracht hat. Nach seinem Roman Ein Freund des Verblichenen schrieb er auch das Drehbuch zum einzigen ukrainischen Film, der seit zehn Jahren einen europäischen Verleiher finden konnte. Der in Leningrad geborene Andrej Kurkow schreibt auf Russisch. Was ihm immer wieder den Vorwurf einbringt, kein "richtiger" ukrainischer Schriftsteller zu sein, sondern ein russischer Autor, der eher zufällig in Kiew lebt. "Ich selbst definiere mich aber als ukrainischen Schriftsteller russischer Herkunft, der in russischer Sprache arbeitet," sagt Kurkow. "Die ukrainischen Politiker wollen nicht akzeptieren, dass unser Land multikulturell ist", klagt er. Es werde vergessen, dass auch Juden, Russen, Krim-Tataren, Bulgaren und Ungarn zum Reichtum der ukrainischen Kultur beitragen. Der Krim-Tatare Enwer Ismajlow zum Beispiel zählt Kurkows Meinung nach zu den besten europäischen Jazz-Gitarristen. Doch wenn es um ukrainische Kulturwochen im Ausland geht, komme keiner der Kiewer Kulturbürokraten auf die Idee, ihn einzuladen. Der Schriftsteller glaubt, dass die Ukraine die Sowjetunion in ihren schlechtesten Zügen beerbe.
Die Perspektive des ukrainischen Films sieht Kurkow in kleinen, sparsam produzierten Geschichten über das heutige Leben des Landes. Wie sein neuestes Filmprojekt: Eine Absolventin der Kiewer Filmhochschule, Galina Kuwiwtschak führt Regie bei Glaube deinen Augen nicht, zu dem Kurkow das Drehbuch schrieb. Die Finanzierung des Films verdankt sich einem glücklichen Zufall - die Dreharbeiten zum zweiten Teil von Bogdan Chmelnizkij mussten nämlich verschoben werden. In der kurzen Pause im Betrieb der Kiewer Filmstudios durfte ein kleiner Film produziert werden. Eine Geschichte also ganz im Geiste der Kurkow-Prosa über bittere Absurditäten des postsowjetischen Alltags.
Der 30-jährige Regisseur Oles Sanin gilt als Hoffnungsträger des ukrainischen Kinos. Seinem Filmdebüt Mamaj hat die Zeitschrift Kino-Kolo 14 Doppelseiten gewidmet, obwohl der Film nach fast drei Jahren Arbeit noch nicht einmal fertig ist. Ich konnte in Kiew das Werk nur am Schnittplatz betrachten, da die Filmkopie gerade vom russischen Zoll beschlagnahmt worden war. Die Dolby-Mischung musste in Russland gemacht werden, da es in Kiew die entsprechende Technik nicht gibt. Nun fehlt der Produktion das Geld, um die Zollgebühren zu bezahlen.
Mamaj ist der sehr seltene Fall einer gelungenen Wiederbelebung einer Ästhetik von vor 30 Jahren. Sanin ist Schüler von Leonid Osyka und knüpft direkt an die Tradition des "Poetischen Films" an. Der Film erzählt die Liebesgeschichte eines auf der Krim gefangenen ukrainischen Kosaken und einer Krim-Tatarin. Er bringt Elemente aus beiden nationalen epischen Traditionen zusammen und verwendet dabei modernste audiovisuelle Mittel. Die gewaltige Bildsprache lässt im Regisseur einen Filmfreak erkennen, der vom Hongkong-Thriller genauso beeinflusst ist wie von den Autorenfilmen der sechziger Jahre.
Oles Sanin glaubt kaum, dass sein Werk Chancen hat, ein Publikumshit zu werden. Doch Erfolg bei den Zuschauern sei natürlich wichtig. Im Gegensatz zu seinen Lehrern ist Oles Sanin nicht nur Filmautor, sondern auch Produzent. Die Gesetze der neuen Marktwirtschaft will er gut begriffen haben. Geld lässt sich momentan im ukrainischen Filmgeschäft nur mit Werbung verdienen. Oder mit Auftragsserien für russische Fernsehsender, die gerne in der Ukraine produzieren, weil es hier noch preisgünstiger ist als in Moskau oder Sankt Petersburg.
Sanin ist ein Produzent mit Visionen, dem die weitere Entwicklung des ukrainischen Films viel bedeutet. Die einzige Hoffnung liegt für ihn beim Nachwuchs. Seine Firma bereitet gerade eine Kurzfilmreihe vor, die jungen Regisseuren eine Chance geben soll, mit eigenen Geschichten zu starten. Geld sei damit nicht zu verdienen. Liebe ist ..., der Obertitel der Reihe weist auf die Bewegungsgründe des jungen Produzenten hin. Das ukrainische Kulturministerium sei bereit, das Projekt zu 50 Prozent mit zu finanzieren. Nur die zweite Hälfte muss nun noch aufgetrieben werden.
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