»Osten erglüht ...«

CHINA Machtanspruch und Reform, Korruption und Rechtsstaatlichkeit - zehn Jahre nach dem Tiananmen-Inferno ist die Kommunistische Partei noch mächtig, aber im Alltag kaum mehr präsent

»Ohne die Kommunistische Partei gibt es kein neues China«. Das Lied gehörte im Gegensatz zur alten Mao-Hymne »Osten erglüht, China ist jung, Rote Sonne grüßt Mao Zedong ...« bis in die achtziger Jahre hinein zum Pflichtrepertoire aller Jungpioniere, Schüler und Parteimitglieder. Heute kann kaum noch jemand den vollständigen Text. Die Hymnen auf den Großen Steuermann Mao sind allenfalls in der eingängigen Pop-Version auf dem Markt und unter dem Titel Rote Sonne auf einer CD zu haben.

Seit jener Nacht zum 4. Juni 1989, als die Führung Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens im Pekinger Stadtzentrum schickte, um die friedlichen Studentenproteste zu zerschlagen, ist die Partei diskreditiert. Das Massaker, bei dem Hunderte Menschen umkamen, beschädigte das Ansehen der Kommunisten fast genauso wie die Verheerungen der maoistischen »Großen Proletarischen Kulturrevolution« Mitte der sechziger Jahre.

Die Partei hat sich seither gewandelt. Reform- und Öffnungspolitik stehen auf der Tagesordnung. Von jenen, die 1989 das Militär auf den Platz geschickt hatten - Deng Xiaoping, der damalige Premier Li Peng und der inzwischen wegen Korruption verurteilte Pekinger Oberbürgermeister Chen Xitong - gehört nur noch Li zur Führungsgruppe, aber er ist 71, und sein Einfluß schwindet. Im siebenköpfigen Ständigen Ausschuß des Politbüros - alles Männer - treffen vor allem Jiang Zemin, Ministerpräsident Zhu Rongji und der für die Sicherheit zuständige Wei Jianxing die Entscheidungen. Daneben wird das mit 57 Jahren jüngste Mitglied dieses Führungskerns, der stellvertretende Staatspräsident Hu Jintao, als Nachfolger Jiang Zemins aufgebaut. Dem einstigen Vorsitzenden des Kommunistischen Jugendverbandes traut man zu, die Jugend um die Partei zu scharen. Er wurde ausgesucht, als die jüngsten Studentenproteste vor der Pekinger US-Botschaft kulminierten, im Zentralen Fernsehen die Aktion zu sanktionieren, aber auch zur Mäßigung aufzurufen.

Die Strategie der KP hat zumindest bis zur asiatischen Wirtschaftskrise einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Wachstumsraten von zehn bis zwölf Prozent, die Erhöhung des Lebensstandards für große Teile der Bevölkerung und die Internationalisierung der Ökonomie legitimieren für viele die Führungsrolle der Partei. Der wirtschaftliche Niedergang des russischen Nachbarn sowie die NATO-Aktion gegen Jugoslawien werden dabei propagandistisch geschickt genutzt, um den sozialistischen Patriotismus wieder ins Gespräch zu bringen. Dabei bleibt die Reform- und Öffnungspolitik nach wie vor die Grundlinie - Patriotismus habe nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, und das Investitionsklima dürfe keinen Schaden nehmen, trommeln die Medien.

Die Partei weiß, daß ihre Position derzeit von keiner ernsthaften Alternative bedroht ist. Die Stärke und der Organisationsgrad der Opposition im Lande werden im Westen zumeist überschätzt. Die illegalen Zellen der Demokratischen Partei spielen politisch kaum eine Rolle. Die Sicherheitskräfte sorgen mit Repressalien, Verhaftungen und Verurteilungen rigoros dafür, daß dies auch so bleibt. Die Dissidenten außer Landes sind zu zersplittert und konzeptionslos, um eine konstruktive oppositionelle Plattform zu bilden. Zudem zeigen selbst kritische Intellektuelle wenig Neigung, sich die Belehrungen von Leuten anzuhören, die mit ihrer (zumeist erzwungenen) Ausreise ihre Wurzeln im Lande verloren haben und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - vergessen sind. Wer nur groben Antikommunismus anzubieten hat, alle Welt zum Boykott Pekings aufruft und sich zudem selbst maßlos überschätzt, läuft hier ins Leere.

In dieser Situation wird die langsame Entwicklung zu mehr Rechtsstaatlichkeit zwar fortgesetzt, doch ist vorerst mit mehr Toleranz nicht zu rechnen. Die Partei zeigt sich folglich auch nicht bereit, die Blutnacht vom 4. Juni 1989 neu zu bewerten, die Opfer zu entschädigen und die politischen Gefangenen freizulassen. Entsprechende Aufrufe von Bürgerrechtlern im Lande, Dissidenten im Ausland und amnesty international werden abgeschmettert oder ignoriert. Das ZK habe seine Einschätzung über den »konterrevolutionären Aufruhr« von 1989 gegeben, und daran werde sich nichts ändern, ist die offizielle Linie.

Den institutionell wichtigsten Anlauf, weitergehende politische Reformen einzuleiten und die Militäraktion vor zehn Jahren neu zu bewerten, hatten im April 32 Abgeordnete der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes genommen, die sehr grob mit einer Zweiten Kammer vergleichbar ist. Das in Hongkong erscheinende Magazin Cheng Ming schrieb, die Delegierten sollen vor gravierenden Folgen und sogar Aufruhr gewarnt haben, wenn nicht gegen die Selbstherrlichkeit und Korruption in der Partei vorgegangen, der 4. Juni neu beurteilt und eine Amnestie für alle politischen Verfolgten und Gefangenen erlassen wird. Nach schwer zu überprüfenden Informationen aus Hongkong scheint das Politbüro solcherlei Vorschläge zwar erwogen, unmittelbar nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad aber wieder verworfen zu haben. In einem emotionell aufgeheizten Klima nach der Botschaftsbombardierung und den amerikanischen Vorwürfen über chinesische Atomspionage steht die Führung auch unter dem Druck der Falken und des Militärs, westlichen Forderungen nicht nachzugeben.

Den rund 60 Millionen Parteimitgliedern geht es ohnehin weniger um politische Veränderungen. Die Partei hat sich weitgehend aus dem Alltag zurückgezogen und ist für die meisten nur noch in den zentralen Medien präsent. Sorgen macht sich die Masse vielmehr um die ganz persönliche Zukunft, und die erscheint trotz der unverkennbaren wirtschaftlichen Liberalisierung immer unsicherer. Die Reform der hochverschuldeten Staatsunternehmen ist steckengeblieben, und immer mehr Menschen müssen um ihre Beschäftigung fürchten. Landesweit häufen sich Arbeitsdispute aufgrund von Aussperrungen oder ausgebliebener Lohnzahlungen.

Die Wohnungs- und Finanzreform kommen langsamer voran als noch im Frühjahr versprochen. Korruption und Kriminalität nehmen trotz gegenläufiger Kampagnen weiter zu. Auch Umweltprobleme und steigende Kosten für die Erziehung und Ausbildung der Kinder sowie die medizinische Betreuung sorgen für sozialen Zündstoff. Zudem schlägt die Asienkrise auch auf China durch, so daß die Exporte und die ausländischen Direktinvestitionen stagnieren oder sogar rückläufig sind. Es ist schwer abzusehen, wie die Partei all dies in den Griff bekommen und dabei die Stabilität der Gesellschaft sichern will. Damit könnte im 50. Jahr der Volksrepublik und zehn Jahre nach Tiananmen die Frage, ob die Partei stets recht hat, schon bald wieder lauter gestellt werden.

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