Wagt sich der Interimspräsident in ein Nachhutgefecht zwischen der Jelzin-Familie, der Tschubais-Mafia und den Geheimdiensten? Die ersten 14 Tage nach Jelzin jedenfalls legen - was das Revirement im Inner-Circle betrifft - diesen Eindruck nahe. Wladimir Putin hat einige der engsten Paladine seines Vorgängers - so Tatjana Datschenko, die skandalumwitterte Tochter des Ex-Präsidenten - entlassen und deren Posten mit eigenen Gefolgsleuten besetzt. Die Clique der "jungen Reformer" um Anatoli Tschubais ebenso wie Mitglieder der Geheimdienste rechnen sich öffentlich Chancen auf Posten in der neuen Regierung aus. Die Interessen dieser Gruppen allerdings - auch wenn sie erbittert um ihren Einfluss im Kreml streiten - sind weitgehend identisch: Ausbau der Machtstellung des privaten, genauer privatisierten Kapitals und Stärkung der Präsidialmacht. Oppositionelle Kräfte scharen sich hingegen um die Wahlverlierer vom Dezember: Vaterland - Ganz Russland und Jabloko sowie den ewigen Herausforderer, die KPRF. Deren Interessen sind - bei allen vordergründigen Differenzen - ebenfalls identisch: Einschwenken auf einen patriarchalen Sozialdemokratismus russischer, das heißt, korporativer Prägung bei einer Beschneidung präsidialer Vollmachten.
Bis zur Wahl des künftigen Staatsoberhauptes Ende März dürfte die Kernfrage lauten: Führt Putin den Tschetschenien-Krieg mit der gleichen Härte und Energie weiter wie bisher oder widmet er sich - wie die Rochaden im Kreml andeuten - dem Kampf gegen die Korruption? Will - und vor allem - kann er weiterhin von der Krise durch Verweis auf die Bedrohung von außen ablenken oder stellt er sich den Ursachen dieser Krise im Lande selbst? Die Lage ist brisant: der Interimspräsident könnte schon bald in ernste Schwierigkeiten geraten: Zum einen wird die Akzeptanz des Krieges abnehmen, sollte die Schlacht um Grosny in einen zermürbenden Guerilla-Krieg münden. Zum anderen wird Putin, sollte er tatsächlich der Korruption trotzen wollen, unter den Jelzin-Vertrauten Beresowski und Abramowitsch wie auch der Tschubais-Mafia Sturm säen. Was kann er also tun? Der traditionelle Ausweg aus dieser Lage ist versperrt, denn nun gibt es keinen Boris Jelzin mehr, der wie ein Gott-Vater für den fliegenden Wechsel verbrauchter Pferde sorgen könnte.
Einige Kommentatoren wollen in Wladimir Putin einen "neuen Andropow" sehen. Das ist er selbstverständlich nicht. Juri Andropow hatte, als er 1982 in der Nachfolge Leonid Breshnews zu einer letzten "Säuberung" gegen die Schattenwirtschaft, sprich: gegen die Mafianisierung der Sowjetgesellschaft ausholte, die Macht der Partei, einschließlich eines funktionsfähigen KGB, hinter sich. Trotzdem ist er gescheitert. Die Perestroika war schließlich der einzige Ausweg, der sich ab 1985 für die damalige Nomenklatura angesichts einer fortschreitenden Sklerose des Systems anbot. Wladimir Putin sieht sich derzeit in einer völlig anderen Situation: Was damals illegal war, ist jetzt legal. Heute stehen sich Nomenklatura und Schattenwirtschaft nicht gegenüber - sie sind identisch, allerdings aufgeteilt in diverse, rivalisierende Clans. Boris Jelzin verstand es, sie im Gleichgewicht zu halten - das aber nur, solange es etwas zu verteilen gab. Damit ist es vorbei - inzwischen geht es allein darum, sich in den neuen Besitzverhältnissen zu behaupten. Der Kampf Clan gegen Clan ist spätestens seit dem Rubel- und Bankencrash vom August 1998 eröffnet. Mit dem Ende der Umverteilung endete prompt die Ära Jelzin. Sein Erbe kann sich weder auf ein good will der Partei stützen wie seinerzeit Andropow, noch auf bisher unausgeschöpfte Möglichkeiten der Bestechung. Er kann bestenfalls einen Clan gegen den anderen auszuspielen suchen. Doch dafür hat ihm Jelzin die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hinterlassen. Putin steht kein auch nur halbwegs pluralistisches staatliches Instrumentarium zur Verfügung, mit dem er eine als Ausgleich von Interessen etikettierte Disziplinierung vornehmen könnte. Ihm bleibt allein die Möglichkeit, sollte er mit den nächsten Wochen ins Straucheln kommen, die Flucht nach vorn anzutreten. Oder - anders ausgedrückt - auf seine "Hausmacht", die Geheimdienste und die Armee - zurückzugreifen. Es sei denn, er beendet den Krieg in Tschetschenien sofort. In einer Situation, da der Krieg aus dem Ruder zu laufen droht, wäre das ein geschickter, aber unpopulärer Schachzug. Damit ließen sich jedoch jene matt setzen, die sich - wie Ex-General Alexander Lebed - gerade anbieten, den Krieg und die Korruption zu stoppen.
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