Pastoren mit Pistolen

70. Locarno Festival Die Retrospektive entdeckt das Werk von Jacques Tourneur
Ausgabe 33/2017
Joel McCrea spielt den Reverend Josiah Doziah Gray in Jacques Tourneurs „Stars in My Crown“
Joel McCrea spielt den Reverend Josiah Doziah Gray in Jacques Tourneurs „Stars in My Crown“

Foto: Zuma Press/Imago

Ein Pastor kommt neu in die Stadt. Mit zwei Pistolen und einer beängstigend dicken Bibel bewaffnet marschiert er geradewegs in den Saloon – und hält am Tresen seine erste Predigt. Der imposante Auftritt des Reverend Josiah Doziah Gray ist eine von zahlreichen Vignetten in Jacques Tourneurs Stars in My Crown (1950), eine im Rückblick erzählte Kindheitserinnerung über den Alltag einer Gemeinde im Süden, kurz nach dem Sezessionskrieg.

Der nahezu vergessene Ensemblefilm, für dessen Realisierung Tourneur sogar umsonst zu arbeiten bereit war (man zahlte ihm schließlich den vorgeschriebenen Mindestsatz, was ihn im Hollywood-Klassensystem dauerhaft zurückstufte), zählt zu den auteuristischsten Werken des französisch-amerikanischen Filmemachers.

Der Pastor ist eine Figur, wie Tourneur sie liebt: ambivalent, lakonisch und auch unter schwierigsten Umständen nicht zu hysterisieren. Charakteristisch für Tourneur sind zudem eine Sensibilität für die Beziehung von Figur und Umgebung, für räumliche Kohärenzen und Bewegungsdynamiken sowie die Sorgfalt für scheinbar nebensächliche Details (hier: ein Tischventilator fürs Verscheuchen von Fliegen auf Kuchen und Apfelschälmaschine). Eine Szene, in der ein Fackeln schwingender Ku-Klux-Klan-Mob einen schwarzen Farmer lynchen will, zeigt wiederum Tourneurs Meisterschaft in der Modulation von Licht und Schatten, die auch jenseits von Horror und Noir zum Tragen kommt.

Stars in My Crown war nur eine von vielen beglückenden (Wieder-)Entdeckungen der von Roberto Tuigliatto und Rinaldo Censi kuratierten Retrospektive des 70. Locarno Festival. Mit Jacques Tourneur widmete sich das Filmfest einer Figur des amerikanischen Kinos, die sich durchaus als ein Handwerker der Industrie verstand (seine Filmografie verzeichnet 74 Titel). Tourneur hat fast alle Genres durch, von Western, Abenteur-, Dschungel- und Sportfilm über Horror und Film noir bis zu unterschätzten Kriegsfilmen – mit Berlin Express (1948) drehte er unmittelbar nach Kriegsende im zerstörten Frankfurt und im Sowjetsektor Berlins.

Wandelndes Starkstromwesen

Nicht nur die Affinität zum Übersinnlichen macht Tourneur zu einem Spezialisten der „Twilight Zone“ (1964 drehte er eine Episode für die gleichnamige Serie), sein Kino ist alles andere als eines der generischen (und erzählerischen) Klarheit. Dennoch gelang ihm mit Out of the Past (1947) so etwas wie der prototypische Film noir.

Gelernt hat Jacques Tourneur bei seinem Vater, dem in die USA emigrierten französischen Regisseur Maurice Tourneur. Er arbeitete für ihn als Regieassistent und Cutter, bevor er in Frankreich seine ersten eigenen Arbeiten realisierte. 1934 kehrte er mit immerhin vier Spielfilmen nach Hollywood zurück – und musste wieder als Hilfsarbeiter anfangen. Erst die intensive Zusammenarbeit mit dem Autor Val Lewton, der bei dem kleinen Studio RKO die Leitung der Horror-Abteilung übernommen hatte, brachte für Tourneurs Laufbahn die entscheidende Wende. Die gemeinsamen Filme Cat People (1942), I Walked with a Zombie (1943) und The Leopard Man (1943) waren kurz, billig und brachten viel Geld in die Kasse. Sie basierten auf der einfachen Prämisse, dass mehr Angst macht, was man nicht sieht. In der berühmten Schwimmbadszene in Cat People vollführen Licht, Schatten und Wasser einen gespenstischen Tanz, das Unheimliche wird allein durch die Kräfte der Suggestion und Imagination mobilisiert.

Die Wertschätzung der Filmkritik für Tourneur folgte verspätet in den 1970er Jahren. Als die Cahiers du cinéma das amerikanische Studiokino der 1950er Jahre zuvor mit der politique des auteurs aufwerten, gehörte der Regisseur noch nicht zu den Autoren wie Howard Hawks (was allerdings auch mit der unzureichenden Distribution seiner Filme zu tun hatte).

Tourneurs Kino fand in Locarno interessanterweise gleich in mehreren aktuellen Filmen Wiedergänger – am Schönsten in Serge Bozons Madame Hyde. Isabelle Huppert spielt darin eine schwer überforderte Physiklehrerin an einer Schule mit hohem Migrationsanteil. Durch einen Blitzschlag transformiert sie sich in ein traumwandelndes Starkstromwesen, was sich nicht zuletzt auf ihre pädagogischen Fähigkeiten vorteilhaft auswirkt.

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