A–Z Noch ist Saison, doch nicht nur die Pilze auf den Wiesen und im Wald können Probleme bereiten. Heizpilze etwa machen das Klima kaputt. Sagt unser Wochenlexikon
Foto: Andrea Del Bò/Archivio Andrea Del Bò/Mondadori/Getty Images
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Autor Peter Handke sitzt am Esstisch in seinem Haus in Chaville. Ostentativ schneidet der nun frischgebackene Nobelpreisträger einen großen Pilz der Länge nach durch und erfreut sich voller Demut am Klang, den die Klinge beim Durchtrennen des Gewebes erzeugt. Die Szene stammt aus Corinna Belz’ Dokumentarfilm Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte (2016).
Im Sommer 2018 interviewten Freitag-Redakteur Mladen Gladić und ich Handke an ebendiesem Esstisch (der Freitag 34/2018). Das Pilzthema war gleich ad acta, da waren wir uns irgendwie alle einig. Zu viele Handke-Interviews kreisen irgendwann um dieses Thema. Vielleicht sagt das aber etwas über unsere inzwischen wie selbstverständlich wirkende Naturdistanz aus? Da sollten wir einmal im Gehen dr
stverständlich wirkende Naturdistanz aus? Da sollten wir einmal im Gehen drüber nachdenken. Trotz allem schwingt bei Peter Handke immer der Pilz mit. Er ist Symbol (➝ Energie) seiner Naturverbundenheit, die ihn wie eine Aura umgibt. Jan C. BehmannEEnergie Das Zerstörungspotenzial (➝ Krankheiten, ➝ Gift) des Atomzeitalters übersteigt unsere Vorstellungskraft, aber im Atompilz haben wir ein Symbol dafür gefunden. Heute ist er ein Popsymbol – tausendfach reproduziert, von Science-Fiction bis Punk – und schockt uns nicht mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Sinnbild für eine aus den Fugen geratene Welt. Aber Atomkraft löste auch futuristische Sehnsüchte aus. Zumindest in Las Vegas, der glitzernden Kasino-Metropole. Ihren Horizont säumten jahrelang majestätische Atompilze: Über 1.000 Bomben testete die US-Regierung in der Wüste von Nevada bis 1963. Die Explosionen waren eine Attraktion. Der „Atomtourismus“ zog Massen an, bei „Dawn Bomb Parties“ wurde, wenn die Detonation den Horizont erhellte, buchstäblich die Nacht zum Tag. Selbst eine „Miss Atomic Energy“ krönte man in „Sin City“. Paul SimonFFuß Nein, tun Sie es nicht, googeln Sie bitte kein Bild zu diesem Beitrag! Von allen hier gelisteten problematischen Pilzen dürfte dieser hier einer der unangenehmsten sein. Er hat sich nämlich einen ganz besonderen Ort zum Wachsen gesucht: unseren Körper (➝ Krankheiten). Die häufigste Form – interdigital genannt – befällt unsere Zehenzwischenräume. Die Haut löst sich und es juckt unangenehm.Der Spiegel, stets bekannt für seine gelungenen organischen Metaphern, schrieb im Jahr 2000 vom „verpilzten Volk“. Etwa jeder fünfte Deutsche habe Fußpilz. Erstaunlicherweise ist der Fußpilz im Gegensatz zu anderen Hauterkrankungen schambehaftet. Liegt es daran, dass der Fußpilzbefallene als schmuddelig gilt, meint man gar, er ist selbst schuld an seinem Leiden? Was tun also, wenn sich jemand die Birkenstocks ausleihen will und man zugeben muss, dass das keine gute Idee ist? Da hilft nur eines: Verpilzte, vereinigt euch! Brecht das Tabu, steht zu euren juckenden Zehenzwischenräumen! Nur durch Aufklärung kann der Pilz besiegt werden. Und durch Antimykotika. Leander F. BaduraGGift Ungefähr 200 Giftpilzarten bevölkern die nördliche Hemisphäre, aber nur zehn von ihnen sind tödlich. Der bekannteste Mörderpilz ist wohl der Knollenblätterpilz (➝ Umland). Nicht weniger gefährlich, aber in seinem Lachsrosa zart-feminin wirkend, ist der Birken-Milchling. Fahrlässig, die giftigen Fruchtkörper unbedacht ins Körbchen zu legen.Es sei denn – nun ja, wäre der Meuchelmord mithilfe eines Giftpilzes nicht der perfekte Mord? Schließlich ließe sich Vorsatz kaum nachweisen. Dazu passt eine (Scherz-)Kontaktanzeige, die online kursiert: „Fünffache Witwe, Hobbys: Pilze sammeln und kochen, sucht wohlhabenden Mann.“ Immerhin, es lockt eine köstliche Henkersmahlzeit! Marlen HobrackHHexeneier sind das Entwicklungsstadium eines Problempilzes, der gerade von der Deutschen Gesellschaft für Mykologie (DGfM) zum „Pilz des Jahres 2020“ ernannt wurde: die gemeine Stinkmorchel (lat. Phallus impudicus – heißt so viel wie „unzüchtiger Penis“). Mit der Ernennung will die DGfM auf das Insektensterben hinweisen. Diese im Volksmund auch Leichenfinger genannten Pilze werden zur Vermehrung benötigt. Deswegen riechen sie auch so problematisch. Der unappetitliche Aasgeruch soll Fliegen und andere Bestäuber anlocken. Apropos appetitlich: geschält und Scheiben geschnitten lassen sich Hexeneier wie Bratkartoffeln zubereiten. Diana GeversKKrankheiten, die durch Pilzbefall entstehen (Dermatomykosen), sind meist recht langwierig und tückisch. Jahrelang lebt der Mensch ahnungslos vor sich hin, bis er eines Tages kommt – der Juckreiz, der zermürbend ist, weil man ihn sich kaum verbeißen kann. Eine berühmte kleine Passage im Zauberberg lässt eine gewisse Frau Stöhr über dieses Phänomen zwischen Lust und Schmerz sinnieren.Wo überall auf der Haut der Pilz sein Wirken beginnt, soll nicht näher ausgeführt werden (➝ Fuß). Diese Art Organismen halten sich an die Bedingungen, die für ihr Entstehen optimal sind: Wärme und Feuchtigkeit nebst einer gewissen Düsternis. Wer sich das optisch gönnen will, kann im Internet nach Bildern googeln. Frau Stöhr hätte ihre Freude dran. Wer davon mal befallen war, guckt da nicht mehr hin. Wirklich lebensbedrohlich sind Pilzerkrankungen nur, wenn sie innere Organe besiedeln. Das ist hierzulande aber selten. Magda GeislerLLampe Ästhetisch nicht immer unproblematische pilzartige Lampen gab und gibt es viele, doch nur wenige haben es zum Klassiker gebracht. Die schönste ist und bleibt die Onfale von Artemide. Gestaltet von dem 1931 in Venedig geborenen Designer Luciano Vistosi, dem die Liebe zum Glas schon in die Wiege gelegt wurde. Er kam aus einer Familie von Glasmachern, wuchs in der Glasstadt Murano auf, wo er 1952 mit seinem Onkel Oreste sein Unternehmen Vetreria Vistosi gründete – und wo er bis heute lebt.Die Onfale-Kollektion aus den 70er Jahren ist aus weißem, mundgeblasenem Opalglas und hat einen Rand aus Kristallglas. Ein in drei Größen erhältlicher Designklassiker, der nichts von seinem Charme verloren hat. Schöner, weißer, geheimnisvoller leuchtete nie ein Pilz als der norditalienische Evergreen, dem nur ein weiterer Leucht-Pilz Konkurrenz machen kann: die 1965 ebenfalls für Artemide entworfene Nesso-Tischleuchte von Giancarlo Mattioli. Marc PeschkePPsilos Auf dem Internat haben wir das im Herbst oft gemacht: nach dem Mittagessen über die Schafweide den Berg hochlaufen und Psilos „fressen“, wie wir es nannten. Oben angekommen, waren wir „druff“, sahen ins Tal hinunter (➝ Umland). Der Blick reichte weit, bis zum Atomkraftwerk (➝ Energie). Alles bewegte sich nun im Rhythmus mit dem eigenen Atem. Teenie, Wald, Atomkraftwerk: alles eins. Neulich war ich mal wieder im Wald. Und da waren sie, grau und spitz mit Nippel obendrauf. Oder? Wachsen die nicht eigentlich nur auf Weiden? Egal. Rin damit. Nach einer Weile war mir seltsam zumute. Der Regen schien feuchter, das Moos grüner, die Laune besser. Oh ja, Natur ist schön und ich hab’s gemerkt. Psilocybin oder Placeboeffekt? Ruth HerzbergRRock Das ist eine doppelte Gemeinheit. Da erfährt man beim Googeln über Pilze, dass es die Killerpilze tatsächlich noch gibt. Und dann will der Redakteur, dass man sie unter „Rock“ bespricht. Seit sage und schreibe 17 Jahren musizieren die Kinderzimmer-Popper, die sich selbst als Punker missverstehen. Gerade ist eine neue Platte herausgekommen. Sogar ein Kinofilm dokumentiert, wie sich der Niedlichkeitsfaktor der Barden allmählich herauswächst, das Ursprungsquartett auf ein Trio schrumpft. Dass sie sich unterm öffentlichen Radar bewegen und dennoch erfolgreich sind, liegt an der treuen Fangemeinschaft. Immerhin engagieren sich sie sich gegen Nazis, haben mit Spendengeldern Schulen in Äthiopien gebaut. Wenn das so wirkt, dann: Let there be, ähm, Rock! Tobias PrüwerUUmland Pilze im Umland. Zwischen Butterpilzen, wenigen Steinpilzen und vielen Maronen: ein spitzhütiger Knollenblätterpilz (➝ Gift). Vollgepumpt mit Amatoxin. Würde ich ihn essen, ginge es mir nach zwölf Stunden sehr schlecht. Erbrechen, Durchfall, Dehydrierung, Wadenkrämpfe. Nach drei Tagen ginge es besser, da hätte die Zersetzung der Leber aber bereits begonnen. Mit dem Leben nicht vereinbares Organversagen wäre die Folge. Erstaunlich, dass dieser Pilz noch nicht verboten ist, keine Kennzeichenpflicht oder sonst was herrscht. Pilze sind die letzten Objekte, wo nur echte Kenntnis vor der Katastrophe schützt. Ein Albtraum für die sonst engmaschige Sicherheitsgesellschaft. Marc OttikerWWegbier Das gute alte Fußpils hat sich zum Trend entwickelt. Plötzlich war es nicht nur in, auf Schaufensterbänken und Bordsteinen abzuhängen. Auch das Wegbier wurde salonfähig. So trendete das öffentliche Flanieren mit der Bierflasche in der Hand – etwas, das zuvor Gammlern, Punkern und anderem deklassierten Gesocks vorbehalten war, über das bürgerliche Pinkel die Nase rümpften.Gerade unter Studierenden ist das bourgeoise Bierspaziergehen hip. Ein neues Distinktionsmittel ist gefunden: Man kann über die Flaschenetiketten seiner Individualität neuen Ausdruck verleihen, mit Markenbewusstsein Klasse anzeigen. Das funktioniert leider nicht immer, denn auf dem Weg von Club zu Club muss die Hülse irgendwann geleert werden. Sonst kommt man im nächsten Hüpfschuppen nicht durch den Einlass. Hier endet für viele Fußpilsler der modisch leuchtende Pfad. Denn die Phase des Sturzbieres tritt ein. Und die ist mit bloßer Simulation nicht zu bewältigen, da braucht es wahre Könnerschaft. Tobias PrüwerZZauber Eine Raupe, auf einem Riesenpilz Wasserpfeife rauchend (➝Psilos) – was wie ein Drogentrip klingt, ist tatsächlich irgendwie ein Drogentrip, aber auch eine Episode aus Alice im Wunderland. Nachdem Alice schon einige Male gewachsen und geschrumpft ist, begegnet sie auf einer Wiese der Raupe auf dem Pilz. Zwischen beiden entwickelt sich eine zähe Unterhaltung: „Etwas größer, Frau Raupe, wäre ich gern, wenn ich bitten darf“, sagt Alice, „drei und einen halben Zoll ist gar zu winzig.“„Es ist eine sehr angenehme Größe, finde ich“, sagt die Raupe zornig. Dann jedoch gibt sie Alice einen Tipp: Die eine Seite des Pilzes mache größer, die andere kleiner. Alice schafft es nach einigem Hin und Her schließlich, ihre gewohnte Größe wiederzubekommen und ihr nächstes Abenteuer mit Hutmacher und Märzhase anzutreten. Sophie Elmenthaler
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