Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin?» - seufzt, nein, kein Bonner Umzügler, sondern Alfred Kerr im Angesicht von Paris. Berlin liegt leider bloß an der Panke, befindet er. Und hat damit hinreichend erklärt, warum der boomenden Reichsmetropole das Urbane fehlt. Das war damals, vor gut hundert Jahren. Heute ist alles anders. Zumindest können wir unsere Nostalgie fürs Geistreich in Protzentown einmal mehr befriedigen. Denn der Aufbau-Verlag hat, beflügelt vom Erfolg der Kerrschen Briefe aus Berlin (Wo liegt Berlin?, 1997), nun diejenigen Briefe nachgeliefert, die seinerzeit aus Ersparnis- und anderen Gründen ausgelassen worden waren. Der neue Band, wieder kompetent von Günther Rühle besorgt, ist nicht mehr ganz so dick und auch nich
icht mehr ganz so stark, aber als Komplettierung unentbehrlich. Und außerdem ist ja schon bald wieder Weihnachten! Alfred Kerr: Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin? Briefe eines europäischen Flaneurs. Berlin: Aufbau Verlag 1999, 421 Seiten, 59,- DM Noch zwei Autorinnen. Diesmal über Flaneure, Musen und Bohemiens oder über das Literatenleben in Berlin. Also E.T. A. Hoffmann, Erika von Hornstein, Ernst Rowohlt und die Russen, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Leonie Ossowski und Kerstin Hensel - sag einer, die Pizza in Berlin wäre nicht bunt genug! Als Maiskörner gibt's noch einen »Sizilianer in Berlin» und Henry Ries zum Salat. Man fragt sich allerdings hirnzermarternd, wer das denn lesen soll. Denn wer Literatur lesen kann, wird das kaum lesen können - das meiste wirkt wie abgelehnte Hörfunkfeatures oder Lexikonartikel aus der Popcorn-Fritteuse. Soll man gar nicht lesen. Bloß kaufen. In diesem Falle tröstet man sich ausnahmsweise damit, dass die Lagerzeiten bei Taschenbüchern immer kürzer werden. Christiane Landgrebe und Cornelie Kister: Flaneure, Musen, Bohemiens. Literatenleben in Berlin. Berlin: Ullstein 239 Seiten, 14,90 DM Zugegeben, dagegen Michael Bienert zu loben, ist so, als ob man erklärt, das KaDeWe dem Edeka-Schnellkauf im U-Bahnhof Schloßstraße vorzuziehen. Aber wann sonst sollte man Bienert empfehlen als einmal mehr? Für den Literaturwanderer wird Berlin ohnehin langsam zu Bienertlin. Bertolt Brecht und Joseph Roth hat er bereits in literarische Stadtplan-Bücher eingearbeitet. Jetzt kommen eine ganze Reihe weiterer literarischer und kulturhistorischer Wanderungen hinzu. Mit Heinrich Heine unter den Linden entlang, mit Fontane in Kreuzberg, von Kleists Grab zum LCB, einmal um den Majakowskiring, mit Döblins Biberkopf durch den »wilden Osten«, aber auch hinaus nach Erkner, Friedrichshagen und Tegel. Stets ist das äußerst informiert, nie geschwätzig, eher unterkühlt und von wohltuender Lakonik. Selbst Ernst Jüngers Violette Endivien, zu denen man ihm im Traum bei Nöthling in Steglitz Menschenfleisch anbot, sind nicht vergessen. Auch wenn statt der Delikatessen dort heute Kettenkonfektion geboten wird. (Hier wäre aber eine milde Mahnung angebracht: Man darf ruhig anmerken, dass Michael Rutschky es war, der uns auf Jünger in Steglitz hingewiesen hat. Überhaupt - wie wäre eine Wanderung demnächst mit Rutschky?) Michael Bienert: Berlin. Wege durch den Text der Stadt, Stuttgart: Klett-Cotta 1999, 227 Seiten, 36 DM Bienerts Buch enthält auch eine Wanderung durch das ehedem jüdische Berlin um die Große Hamburger Straße. Artur Landsberger kommt darin nicht vor, weil er in Schöneberg lebte und in Wilmersdorf begraben liegt. Artur Landsberger, als Autor von Kolportageromanen aus dem Tiergarten-Berlin des Jahrhundertanfangs damals ebenso populär wie alsbald vergessen, hat 1925 einen Roman geschrieben, das verbietet, ihn vergessen zu dürfen: Berlin ohne Juden. Angelehnt an den kurz zuvor erschienen Wiener Roman ÂStadt ohne Juden', hat er auf erschreckende Weise hellsichtig den Mechanismus von populistischer Verhetzung, Ausgrenzung, Ausbürgerung und Verfolgung beschrieben. Aber - und das ist die eigentliche Tragik des Buchs - er hat es folgendermaßen fortgeführt: das Ausland hat nicht tatenlos zugesehen, sondern die deutsche Wirtschaft boykottiert und dadurch alles zum Guten gewendet. Artur Landsberger hat sich im Herbst 1933 aus Furcht vor der SA das Leben genommen.Ergänzt um ein knappes Nachwort von Werner Fuld, liegt Landsbergers Roman, herausgebracht von einem unermüdlichen Pionier der Wiederentdeckungen gerade Berliner Literatur, dem Weidle Verlag - angesiedelt in Bonn. Artur Landsberger: Berlin ohne Juden (1925). Mit einem Nachwort von Werner Fuld, Bonn: Weidle 1998, 217 Seiten, 38,- DM