Größte Entfaltung findet kriminelle Energie in der Überraschung. Wer eine Bank überfällt, kann (außer Verrat ist im Spiel) davon ausgehen, dass er die Kundschaft und die Belegschaft überrumpelt. Dieses Momentum der Überraschung, verbunden mit dem Erwecken von Angst und Schrecken mittels Theatralik oder dem Einsatz von unmittelbarer, echter Gewalt, ist der entscheidende Vorsprung, der die Delinquenten davonkommen lässt, und womöglich der Grund, warum es immer Kriminalität geben wird.
Das Verhältnis des Westens zum gegenwärtigen russischen Machtapparat könnte durchaus mit der Beziehung Bank und Bankräuber verglichen werden. Allerdings wird dabei nicht Geld geraubt, sondern kofferweise in die Bank geschleppt. Nur zu ger
Nur zu gerne öffnete der Westen die Pforten und ließ die Gauner eintreten. Nun stellt er fest, dass ein Raubzug stattfindet. Beute ist die Rechtsstaatlichkeit der heimgesuchten Staaten – von Genf bis London – und am Ende des Tages womöglich Freiheit, Pluralismus und der Weltfrieden.Dieser Vorgang ist so komplex, so verwoben mit der Weltgeschichte, dass es schon eine extreme Kraftanstrengung bedeutet, diese Kloake aus Gier, Kaltschnäuzigkeit und Verkommenheit, diese hinter dem Schutzmantel einer ganzen Staatlichkeit aufgestaute kriminelle Energie, bis auf die Grundmauern auszuleuchten.Catherine Belton ist ehemalige Moskau-Korrespondentin der Financial TimesDie ehemalige Moskau-Korrespondentin der Financial Times Catherine Belton hat sich diese Mühe gemacht, und sie hat den Mut gehabt, denn sie hat mit zahlreichen Insidern gesprochen; vier Oligarchen sollen sie wegen Verleumdung verklagt haben. Ihre 700 Seiten starke Recherche führt direkt ins Purgatorium menschlicher Niedertracht. Putins Netz wird wohl noch in Jahrzehnten, sollte es da noch Menschen geben, den Goldstandard für investigativen Journalismus markieren. 2020 auf Englisch erschienen, wurde Beltons Recherche unter anderem von The Economist, Financial Times und The New Statesman zum Buch des Jahres gekürt.Das Ganze ist schwer zu lesen, zugegeben. Hunderte von Namen (tatsächlich fast ausschließlich Männer) schwirren schon nach Kurzem im Kopf und manchmal ist es eintönig, immer wieder von Scheinfirmen, zwielichtigen Machenschaften in diskreten Finanzschauplätzen wie der Schweiz, Liechtenstein oder den Kanalinseln zu lesen. Das versprüht in etwa den Charme eines matt glänzenden Aluminiumbriefkastens.Was sich jedoch durch all diese Machenschaften wie ein unsichtbarer Faden zieht, ist die Tatsache, dass es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion niemandem, wirklich rein niemandem an den neu zu besetzenden Hebeln der Macht um das Wohl der eigenen Bevölkerung ging. Und sich auch niemand die Mühe machte, das wenigstens zu behaupten.Mit jedem neuen Kapitel der Lektüre setzt ein zusehends kälterer Schauer ein. Es geht hier ja nicht um ein Shakespeare-Stück. Es geht um das Schicksal des größten Landes der Erde, das von einer kleinen Gruppe skrupelloser und verschlagener Geheimdienstler wie eine frische Zitrone ausgepresst wird. Und es geht um einen Westen, der bereitwillig die eigenen Werte für goldige Äpfel und diamantene Eier verscherbelt.KGB-Leute beginnen Mitte der 1980er Jahre, russisches Vermögen aus dem Land zu bringenAlles nimmt bereits Mitte der 1980er Jahre seinen Anfang. Dem KGB wird klar, dass die UdSSR nicht überlebensfähig ist. Dessen Leute beginnen, über seit Langem existierende Tarnfirmen im Westen Parteivermögen der KPdSU im sehr großen Stil aus dem Land zu transferieren. Mit diesem, mithilfe des organisierten Verbrechens aufgebauten Netz hatte man bis dahin westliche Technologie, welche so gut wie vollständig unter das Handelsembargo fiel, in die Sowjetunion transferiert und westliche kommunistische Parteien unterstützt. Nun ging es darum, noch vor dem Zusammenbruch so viel Kapital wie möglich aus dem Land zu schaffen, um damit dann aus der zweiten Reihe heraus den Staat zu übernehmen. Tatsächlich versucht der russische Staat noch in der Jelzin-Ära diese Machenschaften zu ahnden. Als sich der KGB jedoch etwa Mitte der 1990er endgültig durchsetzte, war damit Schluss.In der Zeit hatte sich der etwas blasse, aber sehr intelligente Emporkömmling Wladimir Putin bereits bestens in St. Petersburg installiert. Die Dresdener Episode von 1985 bis 1990 ist hinlänglich bekannt. Wohl etwas weniger bekannt ist, dass er da mit RAF-Terroristen in Kontakt stand, die, eigenen Angaben zufolge, bei dem sehr fokussiert wirkenden KGB-Offizier Inspiration und Hardware für neue Aktionen in der BRD holten. Es ist die Zeit des Attentats auf Alfred Herrhausen (1989) und der Erschießung von Detlev Rohwedder (1991).Es gibt diesen Witz vom kleinen Waldemar, der schrecklich ungezogen ist und deshalb von den Eltern zu einem besonders strengen Lehrer geschickt wird. Mit dem Resultat, dass am Ende der Lehrer ebenfalls schrecklich ungezogen ist. So verhält es sich in etwa mit Putin und seinem Netz. Darin verfangen, wird niemand anständiger, je mehr Macht und Verantwortung einer erlangt. Die Beteiligten holen den Apparat herunter auf die Ebene der Niedertracht. Selbstverständlich leben sie mit ihren Familien nicht etwa in dem Land, das sie systematisch ausbluten lassen. Nein, es zieht die Seilschaften in die westlichen Metropolen oder an die Côte d’Azur. Da kann man auch mal Bono die Hand schütteln oder mit Gérard Depardieu um die Häuser ziehen. Gleichzeitig ist man spinnefeind mit Pluralismus, Demokratie und Freiheit in der Heimat. Einfach weil das dem Geschäft schadet.Ideologisch wird das erst viel später, sprich heute. Heute erklärt man den Westen für schwach und dekadent. Dass der AfD darüber das Wasser im Mund zusammenläuft, wundert ja nicht unbedingt. Allen anderen Apologeten der gegenwärtigen russischen Politik sei dieses Buch empfohlen. Sofern sie bereit sind, sich von ein paar Illusionen zu befreien. Oder aber sie haben selber ein paar Krümel vom großen Kuchen abbekommen. Das würde natürlich einiges erklären.Placeholder infobox-1