Quel Bordel!

Tom Mustroph Theater schließen. Intendanten jammern. Kein Geld, keine Ideen, keine Courage. Nur Wolfgang Bordel eröffnet neue Spielstätten

Es steigen nicht viele Leute aus in Anklam. Genau genommen ist es nur eine Frau. Eilenden Schrittes verlässt sie den Bahnsteig. Bloß nicht aufgehalten werden, denkt sie. Denkt man, dass sie dächte. Der Bahnhof wäre komplett verlassen, müsste nicht eine Jugendgruppe noch auf Nachzügler warten. Gewöhnlich passiert man Anklam nur auf dem Weg zur Insel Usedom. Halt macht hier keiner. Der Weg vom Bahnhof ins Stadtzentrum gerät zur Parade verblühter Landschaften. Ein Einrichtungshaus, das mitten am Tag zugesperrt ist. Staub in den Auslagen. Ein anderes wurde vor Wochen aufgegeben; verblasste Zettel zeugen von letzten Sonderangeboten. Von einem verlassenen Imbiss grüßt noch ziemlich intakt ein großer Aufkleber von Hansa Rostock herüber. Der Bundesligaverein als Lichtblick für die Region. Das zweite Zeichen von Hoffnung ist der Wüstenrot-Fuchs. Die Filiale der Bausparkasse - neben Autohäusern und Versicherungsagenturen die Vorauskommandos der Marktwirtschaft im Osten bildend - hat als eines der wenigen Geschäfte am Stadtrand überlebt.

So melancholisch gestimmt könnte man weitere Klischees über den kargen Nordosten Deutschlands reproduzieren. Man könnte hilflos kolorierte Plattenbauten beschreiben, die die Innenstadt trotz einiger klassizistischer Bürgerhäuser und Zeugen hanseatischer Backsteingotik dominieren. Oder kahlgeschorene junge Männer bemerken. Oder auch über den hellen Obelisken schmunzeln, der wie ein Leitwerk geformt gen Himmel strebt. Er ist Anklams bedeutendstem Sohn gewidmet, dem Flugpionier Otto Lilienthal. Einst lachte man ihn aus, als er mit Schwingen an den Armen die Hügel nahe der Peene hinabgleiten wollte. Dann ging er nach Berlin, wurde berühmt und mit einem Denkmal geehrt.

Nach Lilienthal hat Anklam jetzt einen neuen Sonderling. Wolfgang Bordel ist klein und rundlich. Lange graue Haare wehen im Wind. Sie machten ihn zu einem der letzten Althippies der Ostseeküste, gingen sie nicht in einen Bart über, der selbst uralten Seehunden zur Ehre gereichen würde. So wie der verrückte Otto L. sich der Schwerkraft widersetzte, so begehrt sein später Wiedergänger gegen vermeintliche »Sachzwänge« auf. Auch er will fliegen. Nicht allein, sondern mit Tausenden Menschen. Im übertragenen Sinne natürlich. Bordel betreibt ein Theater. Er betreibt es so erfolgreich, dass seine zehn Schauspieler im vorigen Jahr 85.000 Zuschauer anlocken konnten. Deshalb verschlägt es immer wieder die überregionale Presse - Zeit, Spiegel, Frankfurter Rundschau - in die Sandgrube an der Peene. Die Kollegin vom Stern ist gleich als PR-Frau dageblieben und wurde zur Chronistin eines Theaterwunders. In der Rolle des Wundertäters: Wolfgang Bordel, 50 Jahre alt, seit 18 Jahren Intendant, der dienstälteste in Deutschland mittlerweile.

Bekannt geworden ist Bordel als Gegenspieler Frank Castorfs. Der - noch so einer, den die Anklamer nicht verstanden, als er in ihren Mauern weilte - entwickelte dort als Oberspielleiter seinen Inszenierungsstil und trieb die Leute aus dem Theater. Umgekehrt Bordel. Im Arbeitertheater großgeworden, wollte er die Leute schon immer ins Theater holen, fast egal wie. Er setzte auf das Volkstheater, Komödien, derbe Stücke, »Ein irrer Duft von frischem Heu«, »Die Preußen kommen«, Brechts »Puntila«. Zwei diametrale Theaterauffassungen trafen so in Anklam aufeinander. Eine zuviel für die kleine Stadt. Bordel blieb. Castorf wurde in Berlin berühmt. Und berühmt wird Bordel jetzt in Anklam als Theaterretter und expandierender Kulturunternehmer.

Bordel schließt keine Häuser, im Gegenteil, er errichtet immer mehr Filialen. Und je weiter die Vorpommersche Landesbühne sich ausbreitet, desto schwerer fällt es, sie verschwinden zu lassen. Mittlerweile steht Bordels Theaterbetrieb auf sechs Füßen. Eigentlich auf sieben. Neben einem halben Dutzend Spielstätten in Anklam, Heringsdorf, Zinnowitz, und Barth, hat Bordel vor einem Jahr auch noch eine Schauspielakademie auf Usedom gegründet. Um noch mehr Enthusiasten auszubilden, die den Virus Theater weiter übers flache Land verbreiten, bis, ja bis ein tätig Volk Bühnen baut, Kostüme näht und sich in fremde Leben hineindenkt, anstatt auf Arbeitsämtern und in Wohnmaschinen die Zeit verrinnen zu sehen. »Wir müssen in die Kultur investieren. Dieser Sektor benutzt Menschen extensiv. Und die Arbeit ist sinnvoll«, so lautet sein Credo. Der Mann ist Utopist.

Angefangen hat alles mit einer Trotzreaktion. Kurz nach der Wende prognostizierte der deutsche Bühnenverein dem Anklamer Intendanten, sein Haus hätte keine Perspektive. Die Stadt sei zu klein für ein Theater, die öffentliche Hand hätte kein Geld und das bürgerliche Milieu als klassisches Theaterpublikum sei hier zu wenig ausgeprägt. Der Rat des Spezialisten geriet zur Herausforderung. »Vielleicht kann man den Osten ja doch nicht so einfach nach bundesdeutschen Kriterien vermessen.« Bordel, der einst wegen »trotzkistischer Umtriebe« mit einem Parteiverfahren rechnen musste und damals noch dachte, Trotzkismus käme von »Trotz«, startete sein spezielles Aufbauprogramm. Theater als Privatunternehmen, das hieß zunächst weniger Leute: statt 90 nur noch 35. Jetzt sind es wieder 50. Bordel zahlt 10 bis 25 Prozent unter Tarif, jeden Pfennig muss sein Theater sich selbst besorgen; keine öffentliche Hand gleicht Defizite aus. Noch einen alten Zopf schnitt Bordel ab. Seit 1993 kennt sein Theater keine Sommerferien mehr.

Genau dies, die Sommerbespielung, wuchs sich zum Rettungsanker aus. Bordel konnte das Anklamer Repertoire auch auf seinen Nebenbühnen präsentieren, »Kabale und Liebe« etwa, »Woyzeck«, »Don Quixote«, Stücke von Peter Hacks und Rudi Strahl, verschweigen wir nicht »Das Wirtshaus im Spessart«. Komödien ziehen Publikum. Außerdem produziert Bordel eine eigene Revue für Heringsdorf. Sichtlich stolz ist er darauf, dass Urlauber aus München, Stuttgart oder Düsseldorf sagen, die Inszenierungen könnten auch mit denen an den großen Häusern ihrer Heimatstädte mithalten. Kein Mief von Provinz also. Oder in München, Stuttgart, Düsseldorf mieft es auch.

Bordel jedenfalls expandierte weiter. 1997 baute er in Zinnowitz ein ehemaliges Strandkorblager zur Spielstätte aus. Auch in der gelben »Blechbüchse« wird das Repertoire aus Anklam gezeigt. Dazu Live-Acts aus der alten DDR - »Renft«, »Stern Meißen«, Dirk Michaelis. Wiedererkennungseffekte für die Urlauber aus dem Osten, Staunen bei den Urlaubern aus dem Westen. Parallel dazu eröffnete die Freilichtbühne Zinnowitz mit dem ersten »Vineta«-Spektakel. Neun Monate nur hat es gedauert von der ersten Idee bis hin zur Inszenierung. Kerstin Baumbach, als Verwaltungsleiterin »die rechte und oft auch die linke Hand« von Bordel, wird heute noch ganz schwummrig zumute, wenn sie an diese Zeit denkt. Denn nicht nur die Inszenierung mit einem knappen Dutzend Schauspielern, mehreren Dutzend Laien, pyrotechnischen und Lasereffekten galt es zu erarbeiten. Die Freilichtbühne (ca. 1.200 Plätze) selbst musste erst hergerichtet werden. Das hieß Gelder akquirieren, Bauanträge einreichen, modifizieren, neu einreichen. Leute bei der Stange halten. Vor allem sich selbst überzeugen, dass das alles keine Seifenblase ist. Bordels »usbekische Ruhe« - wie man die hervorstechendste Eigenschaft des Intendanten inzwischen auch auf Schweriner Ministeriumsfluren nennt - sorgte selbst dann für Zuversicht, als Kerstin Baumbach Tränen der Verzweiflung nicht mehr zurückhalten konnte. Jetzt lächelt die kühle Schönheit tapfer. Es ist ja gut gegangen. »Wenn ich 1994 gewusst hätte, was für ein Ausmaß an Verantwortung mich hier erwartet, weiß ich nicht, ob ich mir das zugetraut hätte«, sagt sie heute. Weder mit Theater noch mit Management hatte sie vorher zu tun. Sie ist promovierte Chemikerin, Seiteneinsteigerin wie der Chef. Der studierte einst theoretische Physik und promovierte dann über Erkenntnistheorie. Die beiden Theaterautodidakten passen zusammen, weil sie noch an das Unmögliche glauben. Naja, und weil die Naturwissenschaft sie gelehrt hat, auch vermeintliche Wunder analytisch anzugehen. Außerdem ergänzen sie sich derart, dass es fast märchenhaft anmutet. Der wilde Geselle brütet spinnerte Ideen aus. Das Chaos lenkt Baumbach in geordnete Bahnen, ohne die kreativen Impulse im Verwaltungsdschungel versanden zu lassen. Als eine Art verwunschene Prinzessin sitzt sie jetzt im August allein in dem Fachwerkgebäude, das das Stammhaus beherbergt. Die anderen Mitarbeiter sind auf den Sommerspielstätten eingesetzt.

So leer wie Anklam ist, so voll ist Zinnowitz. Eine ganze Völkerwanderung macht sich auf zur Freilichtbühne. Eine kleine Stadt ist entstanden. Gastro-Stände, Souvenirs, Vineta-Keramik von der ortsansässigen Töpferin, auch T-Shirts und CDs vom Theater werden verkauft. Hinter den Tresen stehen die Laiendarsteller. Man wird sie als Elfen, Vineta-Jugend und Akrobaten wiedersehen. Sie bedienen mit einer Freundlichkeit, die echt scheint und noch nicht verschlissen ist von jahrelanger Arbeit auf Märkten. Die Vineta-Kids sind Bordels größter Trumpf. Mit ihrer Begeisterung verhelfen sie dem Theater zu großer Akzeptanz bei der Bevölkerung. Eltern sehen ihre Kinder gut aufgehoben. Die haben jetzt eine Beschäftigung; sogar eine Perspektive. Einige aus den ersten Jahrgängen sind inzwischen zur Schauspielschule gegangen. Drei andere lernen im ersten Durchgang an Bordels neuer Schauspielakademie in Zinnowitz. Ein gutes Dutzend erarbeitet im Winter eine Inszenierung im Jugendtheaterensemble, die regelmäßig in Bordels Reich und in den Schulen des Umlands gezeigt wird. Bordel sieht seine Aufgabe darin, den Kindern und Jugendlichen, die noch nicht zu Problemfällen geworden sind, Angebote zu machen. Eine Allzweckwaffe gegen Rechtsradikalismus ist das natürlich nicht. Aber, sagt er, »man spürt, ob eine Stadt ein Theater hat oder nicht. Die Unterschiede sind winzig, man merkt es an der Atmosphäre, daran, wie man empfangen und gemustert wird.«

Ob Barth sich da schon verändert hat? Seit einem Jahr verfügt die Stadt am Darß über ein Theater. Bordel funktionierte die Zuckerfabrik »Störtebeker« zur Barther Boddenbühne um. Programm wie gehabt: Klassik, Komödie, Kinder. Außerdem: »Vineta«. Barth ist schließlich Vineta-Stadt. Eine geschützte Marke. Vor einigen Jahren hat der Berliner Wissenschaftler Klaus Goldmann eine Theorie entwickelt, nach der die versunkene Stadt am Darß gelegen haben soll. Flugs erklärte sich Barth - wie Anklam nur Transitstation für den Tourismus und von der Deindustralisierung arg gebeutelt - zur Vineta-Stadt. Der Bürgermeister rief den Vineta-Künstler und Bordel kam. Wenn Wolin ein »Vineta«-Spektakel haben wollte - Bordel würde auch kommen und eine dortige Variante etablieren. Momentan spukt in seinem Kopf eine »Vineta«-Rallye mit Fuhrwerken vom polnischen Wolin über Zinnowitz bis hin zum Darß. Die salomonische Verbindung aller Orte, die mit einigem Recht Vineta für sich reklamieren.

Im Hafen von Barth jedenfalls lässt Bordel gerade auf einer schwimmenden Bühne die Sage neu aufleben. Allerdings in veränderter Form. Dieses »Vineta« braucht Arbeitskräfte vom Festland und nicht alle, die wollen, dürfen rein. Der Dialektiker jubelt seinem Publikum einen Kommentar zum Einwanderungsgesetz unter. In Zinnowitz nennt man Bordel schon einen Moralisten, doch mit seiner Narrenkappe auf dem Kopf kann Bordel sich öffentlich äußern wie er will. Zwischen Usedom und Darß ist bekannt, dass dieser Mann der Region zu so etwas wie Identität verholfen hat. Und Arbeitsplätze schafft er obendrein.

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