Raben und Gespenster

Lebensreise Benjamin Leberts zweites Buch: "Der Vogel ist ein Rabe"

Ein Junge steht auf einem hohen Turm. Unten sieht er das Schwimmbecken und erwartungsvolle Gesichter. Für den Sprung muß er all seinen Mut zusammen nehmen. Er denkt an Malen, die ihm zusieht und tiefblaue Augen hat. Der Sprung in Hans-Christian Schmids Film Crazy kommt in dem gleichnamigen Buch von Benjamin Lebert, das den damals 16-jährigen Autor 1999 schlagartig bekannt machte, nicht vor. Aber er ist ein Symbol für das Generations- oder Lebensgefühl, das die Protagonisten in Leberts Buch und in Schmids Film gleichermaßen auszeichnet. Vor allem für Hauptheld Benjamin, der das linke gelähmte Bein beim Gehen nachziehen muss. Obwohl er gern zu Hause bei seinen Eltern wäre, unwissend, sorglos, umsorgt, befindet er sich im Internat Neuseelen. Im Grunde hat er den Sprung ins kalte Wasser also längst hinter sich. Aber immer wieder muss er springen, sich zurechtfinden, einen roten Faden suchen. Ständig wird in der "Benjamin-Clique", Schülern aus dem Internat, über das Leben und die Welt philosophiert. Auch darüber, ob Gott jemand ist, von dem man sich ein Autogramm holen könnte.

In seinem neuen Roman Der Vogel ist ein Rabe sitzen der Ich-Erzähler Paul und Henry, beide 20 Jahre alt, in einem Zugabteil. Zwischen ihnen stellt sich sofort Vertrautheit ein, sie rauchen zusammen, gehen in den Speisewagen. Lebert findet für die heimelige Stimmung ein gelungenes Bild: "So, als träfen sich zwei unbekannte Wanderer an einem Fluss." Das Reise-Motiv zieht sich durch die gesamte Erzählung, die fast ohne Handlung auskommt. Die Figuren sind auf einer "Lebens-Reise", auf der Suche nach sich selbst. Die Richtung der Zugfahrt hat natürlich Symbolcharakter: München-Berlin! Von der alten Provinzkönigin zur neuen Hauptstadt! Paul ist ein zugezogener Berliner Student, der die strahlende Stadt München verlassen hat, um in das unwirtliche Berlin zu kommen. Seine Heimatstadt steht für das Häusliche, Biedere. Berlin verkörpert den Mythos der Künstlerstadt, des Aufbruchs, eine Plattform für Außenseiter-Figuren. Aber diese Stadt erzeugt auch Resignation: "Berlin. Diese Stadt kaut an einem. Das fällt mir dazu ein. Beißt einem buchstäblich Körperteile ab. Wirklich." Lebert lässt seine Figuren in eine "glitzernde" Leere fahren. Sie hoffen, dass dort etwas passiert. Vielleicht das Leben.

Die Geschichte von Henry erfährt der Leser, zusammen mit Paul, während der Zugfahrt. Henry flieht nach dem Verlust seiner beiden einzigen Freunde nach Berlin. Das Drama in seinem Leben ist, dass er sich der Norm perfekter Körper und Beziehungen unterwirft. Henry erinnert Paul an einen Vogel: Ein trauriger Vogel, ein Verlierer-Vogel, der Pech bei den Mädchen hat, die ihm unerreichbar scheinen, der immer Durchfall hat und dessen körperliche Unzulänglichkeit seine soziale unterstreicht: einsam, unvollkommen. Eben ein Rabe, wie es ja auch schon so schön umständlich im Buchtitel heißt.

So weit, so gut. Der Rabe, in der Mythologie bekanntlich ein Todesbote, passt nun wirklich gut zum armen Henry. Aber er hat noch andere Aufgaben. Dieser Motiv-Doppelstecker schließt den erzählerischen Stromkreislauf mit dem Krimiversuch am Ende des Romans. In einem Rückblick wird erzählt, dass Paul einen Mord an einer Edelprostituierten begangen hat. Das alte Lied: Sie liebte ihn nicht! Und von da an geht´s in diesem Roman symbolisch bergab. Seine Konstruktion geht zwar technisch auf: Die Figuren wirken wie zwei Seiten einer Person. Ihre Dialoge kann man als einen einzigen Gedankengang lesen. Seinen Schmerz kann Paul, im Gegensatz zu Henry, der reden muss, nur durch Taten bewältigen. Aber was passiert mit dem Buch? Lebert will in diesem Part erkennbar über sein autobiographisch grundiertes Schreiben hinauswachsen, wird aber plötzlich literarisch unglaubwürdig - ein überzogener und psychologisch kaum begründeter Schluss.

Auf dem Einband seines Romans Crazy sah man Benjamin Lebert noch als blondierten Jungen. Das Foto auf dem neuen Buch zeigt einen reiferen Autor. Auch seine Figuren haben dazugelernt und sind dem Schulmilieu des Debütromans entwachsen. Die Mutproben sind komplizierter geworden. Doch sprachlich hat Lebert weitgehend den Stil des ersten Buches beibehalten. Mitunter gleitet die kindliche Wahrhaftigkeit ins Kitschige und Naive ab: "Und außerdem: ist die Erde wirklich ein Zielort? Ich weiß nicht. Und wie muss es im Universum zugehen, damit es eine Erlösung ist, ein Mensch zu sein?" Trotzdem lebt der Roman von einer Art "Lebert-Sound", davon, ohne Ironie von Gefühlen zu sprechen. Diese Ehrlichkeit macht die Erzählung spannend.

Nur um allen Missverständnissen gleich vorzubeugen: Leberts Buch, obwohl so vermarktet, ist keine Popliteratur! Hier geht es nicht um Oberflächen oder Markennamen. Auch mit den Vorbildern der Internats-Literatur wie Hermann Hesse (Unter´m Rad), Robert Musil (Törleß) oder gar Thomas Mann (Tonio Kröger) misst man einen sehr jungen Autor schnell an zu hohen Ansprüchen. Trotzdem gleicht Leberts Entwicklungsroman diesen in seiner romantischen, nach innen gerichteten Perspektive. In den Gesprächen zwischen Paul und Henry geht es immer wieder um Gespenster, die nachts zum Vorschein kommen, um Alpträume und Zweifel. Unheimliche "geflügelte Schweine", die nicht der Außenwelt, sondern der eigenen dunklen Seele entspringen. "möglicherweise gibt es ein Fenster, hinter dem die Schweine ihren Platz haben. Und wo zum Beispiel auch die ganzen anderen schrecklichen Viecher sind, die in einem wohnen.". Die Figuren kämpfen mit sich selbst und machen es sich dabei nicht leicht. Zusammenhänge oder Normen, an die sie sich halten können, sind ihnen abhanden gekommen. Sie haben kein Ziel, außer dem, glücklich zu sein. Es wirkt, als hätten die Helden erst einen kurzen Blick in die Welt geworfen, um sich noch einmal vor ihr zurückzuziehen und darüber nachzudenken, ob sie an ihr teilhaben möchten. Vielleicht ist der Erfolg Leberts damit zu erklären, dass die Hauptfiguren in beiden Büchern nach Liebe suchen, die "ungeheuer qualvollen Schmerz" bedeutet. Denn würde es nicht jeder so sehen, dass sie immer das Ziel ist, die Utopie?

Benjamin Lebert: Der Vogel ist ein Rabe. Roman. Kiepenheuer , Köln 2003,
127 S., 9,90 EUR

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden