In einem Augenblick, da Frankreich mit einem respektablen Wirtschaftswachstums und einer zurückgehenden Erwerbslosigkeit aufwartet, sehen sich viele Unternehmen der "alten Ökonomie" in der Textil-, Stahl- oder Lebensmittel-Branche vom Konkurs bedroht. Im Kampf um den Erhalt der Firmen vollzieht sich dabei ein Kultur- oder Tabu-Bruch, den die Zeitung Le Monde so beschreibt: "Glaubte man bisher, die entfesselte Raserei Verzweifelter sei vor allem für französische Landwirte typisch, so zeigt sich dieses Phänomen nun auch in der Industrie." In der Tat drohen Arbeiter, ihre Fabriken zu zerstören oder die Umwelt zu verseuchen, wenn sie nicht gehört werden. In der Ausgabe vom 10. August veröffentlichte Le Monde eine eindrucksvolle Bilanz jener Fälle, b
lanz jener Fälle, bei denen die Betriebsbesetzung nicht mehr als letztes Mittel des sozialen Widerstandes gegen unternehmerische Willkür gilt, sondern die Angestellten auch bereit sind, "noch weiter zu gehen". - Wir dokumentieren den Text in seinen wesentlichen Passagen.Man wird uns zuhören, wenn man sich mit uns beschäftigen muss ...". Die Angestellte der Firma Cellatex in Givet (Ardennen) glaubt wie alle anderen Kollegen dieses Textilunternehmens an nichts mehr. Während der vergangenen Jahre hat sie das Schicksal ihres Betriebes als ein einziges Desaster erlebt; den rasanten Verfall des regionalen Marktes, den Wechsel der Eigentümer wie der Sozialpläne. Plötzlich aber interessiert sich ganz Frankreich für Cellatex. Diese Zuwendung ist schnell erklärt - sie resultiert aus der Besetzung der Firma durch die Angestellten und deren Drohung, den Betrieb in eine chemische Bombe zu verwandeln, indem damit begonnen wird, giftige Abfälle in den Fluss Maas zu leiten, verbunden mit erheblichen Risiken für die dicht besiedelte Nachbarschaft.Bislang galt es in Frankreich als kulturelles Tabu, sich an den Produkten, Arbeitsmitteln oder Ausrüstungen von Unternehmen zu vergreifen, um einen sozialen Konflikt zu bestehen. Die Angestellten von Givet haben es gebrochen."Gas- und Äthylenwaffe""Eine neue Form, Forderungen zu stellen, wurde bei Cellatex geboren - ich bedaure das sehr, denn es wird Schule machen", meint Remo Pesa, Chef der Betriebssicherheit des Unternehmens und Unterhändler der Firmenleitung während des Arbeitskampfes. Tatsächlich hat Givet bereits Nachahmer gefunden, etwa die Angestellten der Brauerei Adelshoffen (Strasbourg), die vom Besitzer ihres Unternehmens - der Heineken-Gruppe - dazu verurteilt wurden, im Dezember die Schließung ihres Betriebes hinzunehmen. Sie drohten Ende Juli damit, Gasbehälter zur Explosion zu bringen. Auch die Arbeiter bei Forgeval in Valenciennes haben versucht, im Arbeitskampf die "Gas- und Äthylenwaffe" einzusetzen, bevor sie - ebenfalls im Vormonat - von der Polizei zum Verlassen des Werksgeländes gezwungen wurden. In ähnlicher Weise sind die Angestellten von Bertrand Faure (Nogent-sur-Seine) vorgegangen, um einen besseren Sozialplan auszuhandeln. Arbeiter anderer Unternehmen haben öffentlich bedauert, über kein vergleichbares Bedrohungspotenzial zu verfügen, um Forderungen mit mehr Nachdruck durchsetzen zu können.Signalisiert das Phänomen einer solchen Radikalität die Wiederkehr eines gewissen Anarcho-Syndikalismus? Auch die Gewerkschaften sehen sich diesem Ausbruch spontaner Wut gegenüber und agieren eher zurückhaltend. Gedrängt von ihrer Basis haben Vertreter der CGT - beispielsweise bei Adelshoffen oder in Givet - versucht, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen. In der Angelegenheit Cellatex hat Christian Larose, Regionalsekretär der CGT für die Textilindustrie, nichts unversucht gelassen, einen - wie er sagt - "rationalen Ausweg" aus der Krise zu finden, um eine "nicht mehr kontrollierbare Eskalation" zu vermeiden. Andererseits hat bisher kein Gewerkschafter öffentlich die Androhung extremer Gewalt verurteilt.Das alles zeugt von tiefer Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit. In diesem Frankreich der Konjunktur haben viele Arbeiter inzwischen das Gefühl so etwas wie die unverkäufliche Ware des Aufschwung zu sein.Selbst wenn die geschilderten Fälle auf den ersten Blick in unterschiedlichen Zweigen - also in Unternehmen der Textil-, Stahl- oder Lebensmittelbranche - anzutreffen sind, so gibt es doch etliche Gemeinsamkeiten. Alle Betriebe gehören zu den Sektoren der "alten Ökonomie", befinden sich an traditionellen Standorten und in Regionen hoher Erwerbslosigkeit. In der Stunde des Aufschwungs erscheint den jeweiligen Belegschaften die Lage immer unerträglicher, sie fühlen sich wie Parias: Nach 20 Jahren der Krise wollen die meisten Franzosen nichts mehr von Arbeitslosigkeit und Strukturwandel hören ...Die Betroffenen haben so den Eindruck, alle Strategien für eine Rettung ihrer Firmen sind längst erschöpft. In der zurückliegenden Dekade hat Cellatex viermal den Eigentümer gewechselt, die Firma Job dreimal. Die Angestellten von Forgeval wissen derzeit gar nicht, in wessen Besitz sie eigentlich sind. Drei Bewerber haben zuletzt ihr Interesse bekundet, das Hüttenwerk zu übernehmen, aber im letzten Augenblick entschloss man sich dann doch, "Investitionen in der Neuen Ökonomie vorzuziehen ...""Management des Stresses"Dieser Transfer von einer Hand in die andere ist ein Indiz für die fehlende Attraktivität der Standorte. Oft hat die beschriebene Kategorie von Eigentümern weder Anlagekapital, noch unternehmerischen Esprit. Das hindert jedoch manche nicht daran, sich zu bedienen. "Wie ein Insekt haben sie uns angestochen, ausgesaugt und dann fallen lassen ...", beschreiben die Arbeiter von Cellatex den Durchlauf einer Gruppen von österreichischen Aktionären. Dieser Eigentümer-Wechsel wird oft von veränderten sozialen Konditionen flankiert. Jedes Mal geht es dabei um mehr Wettbewerbsfähigkeit und sinkende Arbeitskosten gegenüber der Konkurrenz."Es ist unglaublich - die Arbeitszeit wurde erhöht, das Arbeitstempo auch. Und man musste akzeptieren, am Samstag und an Feiertagen zu arbeiten", beschreibt eine Angestellte von Bertrand Faure das "Management des Stresses", wie es in französischen Unternehmen "en vogue" ist. Und dann geschieht dennoch das Unbegreiflich, dass rentable Betriebe wie Adelshoffen vor der Liquidierung stehen.Die Belegschaften der "Alten Ökonomie" kennen zwischenzeitlich das ganze Vokabular der Sozialtherapie zur Genüge. "Derselbe Typ, der bei einer öffentlichen Versammlung beteuert, man werde sich besonders um die Frauen und Männer kümmern, die älter als 50 sind, sagt dir wenig später unter vier Augen: ÂFür euch kann man nichts mehr tun ...Â", erzählt empört Maurad Rabhi, CGT-Betriebsrat bei Cellatex.Wer keine Illusionen über seine Zukunft mehr hat, sichert sich unter diesen Umständen den einzigen Ausweg, der noch bleibt: Man lässt sich den erzwungenen Ausstieg aus dem Arbeitsleben so teuer wie möglich bezahlen, indem alle verfügbaren Druckmittel genutzt werden - einschließlich der gewaltsamen ...Übersetzung: Lutz Herden
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