Sahara oder die Bereitschaft, bis zum äussersten zu gehen

(Ein Mensch unter Bäumen) Mensch: Es beruhigt mich, wie die Bäume kerzengerade tropfend im Regen stehen. Ich stehe kerzengerade und ganz leicht dazwischen. So leicht als wäre ...

Mensch: Es beruhigt mich, wie die Bäume kerzengerade tropfend im Regen stehen. Ich stehe kerzengerade und ganz leicht dazwischen. So leicht als wäre ich aus einem Material, das fast nichts wiegt. Das Eigengewicht von Blättern, von Schaumstoff oder von Asche.

Ich bin gerne zu früh. Ich mag es, zu warten, bevor er kommt. Am liebsten so, dass er mich nicht sieht. So verborgen zwischen den Bäumen stehend, fast mit den Bäumen eins werdend. Dass ich an seinem Schritt und an seinen Schultern sehen kann, wie er sich fühlt. Dass ich an seinen Kopfbewegungen und seinen suchenden Augen sehen kann, dass er mich sucht. Manchmal spielt er mit mir. Dann weiß er, dass ich gucke und tut so, als ob er mich nicht sähe. Tut so, als ob er nicht weiß, dass wir uns hier verabredet haben.

Ich habe nur ein paar Minuten, um Ihnen seine Unermesslichkeit zu beschreiben. Um Ihr Herz im Rhythmus meines Herzens klopfen zu lassen und zu versuchen, den Rhythmus zu beschleunigen.

Seine Knochen stechen heraus. Seine Hüftknochen und seine Rippen und sein Schlüsselbein zeichnen sich unter der Haut ab und können von kleinen Fingern ergriffen werden. Aber seine Wimpern sind lang und seine Lippen sind voll, und weil er so lang ist, ist er auch imposant. Von selbst, sagt er. Dass er von selbst so ist.

Ich habe mich schon mehr als eine Stunde nicht bewegt. Wenn ich mein Bein bewegen würde, dann würde es kribbeln und weh tun. Das weiß ich, also bewege ich mein Bein nicht. Solange ich mein Bein nicht bewege, habe ich kein Problem. Liebe ist die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen. Bis zum bitteren Ende zwischen den tropfenden Birken zu stehen. Zur Not. Reglos.

Als ich ihn sah, war ich verloren und verkauft. Da war kein Ausweg, kein Umweg, kein Rückweg, keine Ausflucht. Ich leerte meine Taschen und legte alles, was ich hatte, auf den Tisch. Ein halbes Päckchen Zigaretten, einen Zehner, meine Hausschlüssel, ein Rentierknöchelchen und mein Herz. Meine Wangen glühten und meine Hände glühten und meine Ohren glühten und mein Bauch war das Innere eines Vulkans.

Die Liebe ist ein Rausch. Ein trunkener Rausch, bei dem das Haarimplantat, die Sommersprossen auf der Nase, der Fussel in der Wimper den Unterschied ausmachen. Ich weiß das alles.

Dass das ein Rausch ist, weiß ich.

Und dass man aus einem Rausch erwachen, ernüchtert und mit einem Kater zurückbleiben kann.

Mein Bein zittert.

Sehen Sie das?

Ich habe es nicht bewegt und trotzdem hat es angefangen zu zittern.

(Sie schüttelt ihr Bein und springt ein paar Mal auf und ab)

So, das tut´s wieder.

Zweifeln Sie daran, dass er kommt?

Dass ich ihn zuerst sah. Hab ich eben schon gesagt.

Aber ich habe Ihnen noch keine Details erzählt. Ich trank Wodka und neben mir bestellte jemand einen Rotwein. Mein Gott, das ist unglaublich. Das ist so normal, wenn man das so erzählt.

Entschuldigung, ich wollte es Ihnen beschreiben, aber es geht nicht.

Vergessen Sie, dass ich ihn in einer Kneipe getroffen habe. Vergessen Sie, dass ich Wodka trank und er Rotwein. Vergessen Sie, dass er mich ansah und dass ich sofort einverstanden war. Vergessen Sie, dass er mich mit nach draußen nahm und in sein Auto setzte und nach Zandvoort fuhr. Vergessen Sie, dass er mich am kalten Strand stehen ließ und wegfuhr und eine Stunde später mit seiner Geige zurückkam und Schubert für mich spielte, während die Sonne aufging.

Vergessen Sie, dass wir später in seinem Bett stundenlang so getan haben, als ob wir schliefen und, als wir endlich eingeschlafen waren, miteinander schlafend aufwachten.

Vergessen Sie, dass er sagte, dass unsere Körper sich nicht verarschen lassen.

Vergessen Sie das alles einfach, denn ich würde nicht wollen, dass Sie es hören und denken: Ach, das kennen wir doch schon. Das ist die soundsovielste Version derselben Geschichte. Ich könnte nicht ertragen, dass es nur eine Version ist. Diese ganzen Gedanken kenne ich. Diese ganze Lebensweisheit, Hornhaut.

Ich liebte ihn seit dem ersten Tag und würde ihm über die ganze Welt folgen.

Das ist kein Gefühl. Das ist die Wahrheit.

Liebe ist die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen.

Er stellt mich auf die Probe. Das macht er als Test. Meinetwegen braucht er mich nicht zu testen. Er sieht mich unbewegt an und sagt, dass ich weggehen soll. Er sagt, dass er mich nicht liebt. Dass ich mir etwas einbilde. Ich weiß, dass er mich testet.

Liebe ist die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen.

Aus dem Holländischen von Alexandra Koch

Marijke Schermer, geboren 1975 in Amsterdam, ist Theaterautorin und Regisseurin. Unter anderem verfasste sie die Stücke Clay, Alaska, Brodders in arms. Am 3. Mai wird sie in den Berliner Sophiensälen zu Gast sein.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden