Da oben, unter der Zimmerdecke, stehen sie nun: ein bißchen wie beschwipst, mal nach links, mal nach rechts gelehnt, der eine Papiermantel arg zerfleddert, der andere noch jungfräulich weiß, um den Bauch die bunten Banderolen, die in den ersten Jahren blaß ausfielen, später selbstbewußt leuchteten, nach der Wende in ein dezentes Pastell übergingen. Knapp drei Meter Literatur, viele Jahrgänge sind nicht komplett, manche fehlen ganz. Nicht für 50 Jahre Sinn und Form stehen dort, aber für 40 sind es bestimmt, ein scheibchenweise sich vermehrender Lebensbegleiter.
Es war immer ein besonderes Gefühl, einen Band in den Händen zu halten. Auch wenn wir Leipziger Studenten, dem Zeitgeist der Fünfziger verpflichtet, das Elitäre ver
as Elitäre verpönten: Der weiße Einband nötigte uns Respekt ab, erheischte Sorgfalt. Diese Hefte waren nicht für die Arbeiterfaust konzipiert. Die klassische Typographie im edlen Bodoni-Satz verlieh sogar dem Beitrag eines Kurt Hager den Anschein von Literatur. Es war schon gut, daß das Prachtstück durch sein graues Innenpapier wieder in die vertraute DDR heimgeholt wurde. Die erste von Huchel vorgelegte Nummer wurde allerorts mit Lob bedacht. Darein mischte sich im Westen Skepsis hinsichtlich der Überlebenschance eines solchen Konzepts. »Zwei, drei Hefte weiter, und man wird beim Stalinismus angelangt sein«, unkte es in einem Brief des Merkur-Herausgebers Hans Paeschke. Dreihundert Hefte weiter, und man ist es immer noch nicht, dank einer offenbar vererblichen Redakteurs-Hartköpfigkeit, dank einer der Literatur innewohnenden Verführungskraft, dank auch einem ordentlichen Schuß Glück. Übrigens: Stalin kommt doch vor, meines Wissens nur einmal. Die früheste Nummer, die ich besitze, trägt als Motto den Satz, den jedes Kind des Ostblocks auswendig kannte: »Der Frieden wird erhalten und gefestigt werden, wenn die Völker die Sache der Erhaltung des Friedens in ihre Hände nehmen und ihn bis zum Äußersten verteidigen.« Dieser Spruch prangt in sechs Sprachen, auch in kyrillischer Schrift und chinesischen Zeichen, an prominenter Stelle in dem Heft für die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1951. Irre ich mich, wenn ich heute einen Hauch redaktioneller Ironie herauszuhören glaube über den Festivalrausch, dem wir alle erlagen damals? Wie dem auch sei, wichtig waren uns die Beiträge von Bloch, von Huchel selbst, waren uns Brechts Lukullus und eine herzerfrischend unpathetische Majakowski-Reminiszenz.Dann das Krisenjahr 1953. Stalins Tod, der 17. Juni; Keulenschläge in der Kultur. Mit Spannung verfolgten wir Debatten um Stanislawski, um Eislers Faustus, um den Urfaust am BE. Auf »Dogmatiker« wie Abusch, Girnus, Johanna Rudolph schimpfend, sahen wir in Sinn und Form einen Maßstab für geistige Normalität. Von den kritisierten Texten waren einige - so der Faustus - überhaupt nur dort zugänglich. Wir wußten nicht, daß auch das Schicksal der Zeitschrift an einem Haar hing. Hinter verschlossenen Türen liefen dramatische Vorgänge ab. Nachdem Brecht nahezu handgreiflich gegen Abusch geworden war, nahm man in einer Akademieausschußsitzung die bereits beschlossene Absetzung Huchels zurück. Der warf sofort die zu Walter Ulbrichts 60. Geburtstag vorgesehene Jubelkantate von Johannes R. Becher hinaus, stattdessen durften wir vergnügt Brechts Antwort auf Abuschs Faustus-Verriß lesen.Vier Jahre später erschien das zweite Brecht-Sonderheft, wohl der dickste Band aller Zeiten. Wir verschlangen alles: den Arturo Ui, die saufrechen Augsburger Theaterkritiken, dazu eine Fülle Artikel über bb. Aus den Letzten Gedichten (den späteren Buckower Elegien) zitierten wir mit Vorliebe den Radwechsel. ... Ich bin nicht gern wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld? Erst vor kurzem erfuhr ich, daß eine wirkliche Autopanne dem Gedicht zugrundelag. Sie ereignete sich auf der Fahrt von Buckow nach Berlin, eben zu jener stürmischen Akademiesitzung um Sinn und Form.Voraussehbar und doch bestürzend kam die Absetzung Huchels nach dem Mauerbau. Das berühmte Doppelheft 5-6/1962, der trotzige Paukenschlag des nach 14 Jahren entlassenen Chefredakteurs, bescherte uns nicht allein Brechts Rede über die Widerstandskraft der Vernunft (von 1936), Gedichte von Paul Celan, Jewtuschenkos Babij Jar (über dessen Existenz bislang nur geraunt worden war), Isaak Babels Das Ende des Armenhauses - es brachte uns auch ein Beispiel des Imperativs, selbst in schwierigster Lage alle sich bietenden Räume auszuschöpfen.Als der vormalige Kulturredakteur des ND die Leitung übernahm, schien mir das Schicksal der Zeitschrift besiegelt. Aber es kam anders. Der als dogmatisches Schwergewicht verrufene Wilhelm Girnus warf nunmehr seine ganze Sturheit in die Waagschale, die ihm anvertraute Schatztruhe zu verteidigen. Zwar waren literarische Einbußen zu beklagen, und mancher Band blieb als belanglos ungelesen. Aber ihre Unabhängigkeit behauptete die Zeitschrift weiterhin und sie gelangte unter Girnus punktuell zu einer kulturpolitischen Brisanz, die sich der parteilose Huchel nicht hätte leisten können.Das Jahr 1955 (in dem mein Engagement am Deutschen Theater begann), erbrachte ein wahres Feuerwerk an Gegenwartsdramatik, wenn schon nicht auf den Bühnen der DDR, dann wenigstens auf den Seiten von Sinn und Form. Es gab Heiner Müllers Der Bau, von Peter Hacks war die Polly zu lesen, über Friedrich Dieckmanns scharfzüngigen Verrißdes Coriolan am BE konnte man schmunzeln ohne das Gefühl, Brecht verraten zu haben; mit Müllers Philoktet hatte es eine besondere Bewandtnis. Im Kubikel des Wohnturms in der Singerstraße, in dem Adolf Dresen damals hauste, erschien eines Tages Müller, etwas außer Atem, da der Fahrstuhl wieder nicht funktionierte. Mit emotionslosem Timbre, die Vokabeln sächsisch gefärbt, las er uns zwei Stunden lang, nur von gelegentlichem Räuspern unterbrochen, ein Manuskript vor. An der Stelle, wo der gebrochene Held zur Geschichtslegende umgelogen wird, löste sich unsere Spannung in schallendes Gelächter auf. Müller griente zufrieden. Monate darauf konnten wir den Philoktet in Heft 5 lesen, viel später gab es die Aufführung am DT; die Wirkung der stillen Lesung durch den Autor blieb freilich unübertroffen. In diesem Jahr erschien auch Peter Hacks' Komödie Moritz Tassow, bei der allerdings der Eindruck von Benno Bessons Inszenierung an der Volksbühne dominierte. War Philoktet das Drama vom sozialistischen Bündnis gewesen, so war Moritz Tassow das Stück vom Sozialismus in der DDR. Nie ist die Ablösung der alten Garde, der knorrigen Persönlichkeiten und Visionäre durch plattköpfige Pragmatiker so anschaulich zur Darstellung gekommen. Noch heute habe ich die Apotheose des Funktionärs Blaschke im Ohr, da er mit öliger Selbstgefälligkeit verkündete: Das Alte stirbt oder verkrümelt sich / Der neue Mensch bleibt auf dem Plane. Ich. Eines der ersten Opfer der Blaschkes war die Komödie selbst. Sie wurde verboten, oder, wie das Gerücht ging, vom Intendanten in vorauseilendem Gehorsam abgesetzt.Nach dem eiskalten Wind des 11. Plenums der SED suchten die Dramatiker ihren Konfliktstoff zunehmend in der Klassik, die Ideologen machten es ihnen nach. Der Streit um das kulturelle Erbe eskalierte und blieb doch langweilig. Wie ein frischer Luftzug wirkte 1972 Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. Ein wahres Novum, diese schnod drige Jugendsprache in solch erlesener Umgebung! Das Postulat von der Erfüllung der Sehnsüchte der Klassiker in der sozialistischen Gesellschaft kehrte sich ins Gegenteil um. Weder war der Stoff erbaulich, noch kam die Klassik in erbaulicher Funktion darin vor. Ja, der bekannte Mißbrauch der Klassiker als Totschlagkeule erfuhr hier eine parodistische Inversion, wenn Plenzdorf seinen Helden, den Aussteiger Edgar Wibeau, Goethetexte aus seiner »Wertherpistole« gegen realsozialistische Schulmeister schießen ließ.Die Diskussion einige Hefte darauf geriet noch mehr zum Skandalon als das Stück selbst. Was hier an die Öffentlichkeit kam, war nicht mehr und nicht weniger als ein kleiner Aufstand der Akademie der Künste. Girnus druckte die (wie es stolz hieß) »ungekürzte Wiedergabe« einer Akademie-Diskussion ab, die sich dem offiziellen Wunsch nach einer Verurteilung geflissentlich verweigerte. Es war fast rührend zu lesen, mit welch Überschwang sich die erste Dichtergarde zu dem doch eher leichtgewichtigen Werk bekannte. Die Vernunft siegt manchmal doch, konnte man glauben. In einer redaktionellen Vorbemerkung macht Girnus kein Hehl aus seiner Verachtung für jene »Germanisten«, die es »vorzogen zu schweigen«. Dafür lieferte F.K. Kaul, Rechtsanwalt und Kriminalstückschreiber, eine Polemik in Gestalt eines Briefes an den Chefredakteur, in dem er seinen »Ekel« über die »Inbezugsetzung eines verwahrlosten ... Jugendlichen mit der Goetheschen Romanfigur« zum Ausdruck bringt«. In meinem Exemplar steht am Rand vermerkt ein von der Redaktion unterschlagener Satz aus Kauls Brief: »Wenn dieses Stück gespielt wird, habe ich umsonst im KZ gesessen.« - Eine verwirrende Sentenz.Nach Überlegungen des Politbüros sollte dieses Heft 1/1973 eingestampft und die weitere Publikation von Sinn und Form unterbunden werden. Auf meine Weise bin ich dem Politbüro gefolgt, denn das Heft ist bei mir durch wiederholte Lektüre fast zu Makulatur zerfleddert.In ihm kamen die Strömungen des derzeitigen Kulturlebens beispielhaft zu Worte. Da waren die korrekten Verse von Konstantin Simonow über Vietnam, die im Original vermutlich noch plakativer klangen als in der behutsamen Nachdichtung von Sarah Kirsch. Der Komödie Adam und Eva von Peter Hacks, einem Poem auf das Mündigwerden des Menschen, folgte ein Essay, der mit den schönen Worten ansetzte: »An seiner Höflichkeit zum Stoff erkennt man den Dichter.« Höflichkeit, Gediegenheit, Zivilität des Dichters Hacks traten uns in diesem Werk in reinster Form entgegen. Kontrapunktisch zu Hacks wie zum Plenzdorf-Disput standen drei breitbeinige Beiträge zum »Erbe«-Streit. Werner Mittenzwei trug Aufschlußreiches zu Brecht und die Probleme der deutschen Klassik bei, der Klassikerpapst Helmut Holtzhauer berichtete Von Sieben, die auszsogen, die Klassik zu erlegen, eine Schmähschrift, die für mich schon deshalb nicht in Betracht kam, weil ich die Sieben, denen sein Zorn galt - darunter Reinhold Grimm und Jost Her nand - gar nicht kennen konnte. Die Pièce de résistance aber war Wolfgang Harichs Philippika Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. Harich zog zu Felde gegen die vom Westen her überschwappende Unsitte des literarischen Schmarotzertums; als Fallbeispiel knöpfte er sich Heiner Müllers Bearbeitung von Shakespeares Machbeth vor. In dem Bemühen, seinen Wertkonservatismus vor dem Stigma des Dogmatismus zu bewahren, verknotete sich Harich in den sonderbarsten Verrenkungen. Des öfteren verfiel er in unfreiwillige Komik, so wenn er sich ab und an einen »Schluck Parteilichkeit« aus der Flasche genehmigte (»Zu welchem Jahrgang hat er gerade gegriffen?«, fragt eine Randnotiz.) Mein Gegenartikel, in Rage begonnen, kam über wenige Seiten nicht hinweg. Müller zu exkulpieren, eine Leichtigkeit; aber trotz der abstoßenden Attitüde des Verfassers war seinem Feldzug gegen Scharlatanerie in der modischen Avantgarde nicht ohne weiteres zu widersprechen. Die Replik schrieb dann der noch von Leipzig her befreundete Schauspieler Jürgen Holtz.Die Fülle dieses Hefts hat Sinn und Form für mich nicht wieder erreicht. Volker Brauns Unvollendete Geschichte erweckte in der Druckfassung Respekt vor dem Chefredakteur und Schadenfreude gegenüber der Funktionärsbande, die da an den Pranger gezerrt wurde. Die Erzählung selbst kannte ich bereits, Braun hatte sie uns Monate zuvor in Dresens Wohnung - immer noch in der Singerstraße, 14. Stock - vorgelesen. Unvorstellbar schien uns damals, daß sie je veröffentlicht werden könnte. Jahre später erzählte Braun, Girnus hätte infolge der Maßregelung nach dieser Veröffentlichung einen Herzanfall erlitten; den Chefredakteursposten konnte er mit Hängen und Würgen behalten. Daß Brauns Heldin, das Opfer der Staatssicherheit, zugleich deren Agentin gewesen war, erfuhr Braun erst nach der Wende. Das Leben hält immer noch ein As mehr im Ärmel bereit.Aus den achtziger Jahren ist der Disput über den bis dahin tabuisierten Nietzsche in Erinnerung. Eröffnet wurde er durch einen Essay von Heinz Pepperle, es folgte eine mit charakteristischem Schwung verfaßte Erwiderung von Wolfgang Harich; einer gefürchteten Nietzsche-Renaissance in der DDR stellte er trotzig das Brecht-Wort entgegen: »Ins Nichts mit ihm!«Mit besonderem Wohlgefallen las ich 1981 den Essay des »neuen« Autors Horst Drescher über den schon lange verehrten Dresdner Maler Wilhelm Rudolph. In dem stillen, gewitzten Aufsatz trat einem der geradlinig-verschrobene Meister in seiner ganzen Widerständigkeit vor Augen. Hier war ein Künstler, der sich, allen Umwälzungen und Katastrophen zum Trotz, ein Leben lang treu geblieben war. Dreschers die real existierende Korruption nicht verschonender Essay blieb ohne offizielle Reaktion. Erst als der gleiche Text in einem preiswerten Reclam-Bändchen jedem Studenten zugänglich gemacht wurde, schrillten oben die Alarmglocken. Die Studenten hatten es sogar gewagt, mit Kerzen zum Grab des inzwischen verstorbenen Künstlers zu pilgern! Jetzt rollte die Walze der Repressalien gegen den armen Horst Drescher, der bereits 20 Jahre lang mit Publikationsverbot hatte leben müssen. Der Vorfall mag die Frage nach der Duldung von Sinn und Form zum Teil beantworten: Massenwirkung war von dieser Zeitschrift nicht zu befürchten. Das war die Kehrseite ihrer Erlesenheit. Und wie sagte Wilhelm Rudolph? »Machtmenschen verstehen nischt von Kunst, aber sie schmücken sich gerne.«
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