Schaufenster

UNHISTORISCHE SPEKULATIONEN Heiner-Müller-Marathon in Schwerin

Zum Auftakt der Saison 1999/2000 präsentierte das Staatstheater Schwerin eine D-eutsch D-emokratische R-evue. Drei Stücke von Heiner Müller, von denen heute zumindest zwei viel schöner sind als damals, weil die Missstände, die er beschrieb, längst durch andere ersetzt sind. Was den Schwerinern auf faszinierende Art gelang, war die Öffnung eines Schaufensters in den DDR-Alltag. In der Auslage: die Probleme der Menschen als Bewohner eines Systems, auf das man heute wie auf ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte zurückzublicken gelernt hat. Das glückte in der Inszenierung von Peter Dehler (Weiberkomödie), Ernst M. Binder (Die Bauern) und, stückbedingt weniger in DDR-Nähe, Claudia Bauer (Quartett).

Obzwar als idealistische Kritik an den Anfängen der DDR geschrieben, eignen sich Müllers Texte nun hervorragend zum Zweck der nachträglichen Analyse. Rückblickend erscheint Müllers Abbildung der DDR-Problemlagen als eine Art fotografisches Drama - solche präzisen Moment-Aufnahmen gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte lassen sich heute nicht auf andere Art wieder- oder nachholen. Die Weiberkomödie erzählt eine Geschichte von den Anfängen der Emanzipation der Frau im real noch nicht ganz existierenden Sozialismus der DDR. Vorlage für Müllers Komödie war das Hörspiel Die Weiberbrigade, geschrieben von der Dichterin Inge Müller, seiner ersten Ehefrau. Regisseur Peter Dehler hat das Stück mittels der Einbettung sozialistischen Liedguts zu einer komischen Revue erweitert. Die Geschichte handelt von einer Schlosserinnenbrigade, die, weil Not am Manne ist, eine typische Männeraufgabe, die Verlegung eines Krans, übernehmen soll. Da gerät das traditionelle, bürgerliche Geschlechterverhältnis arg ins Rutschen. Die Partei proklamiert den Fortschritt, tut sich in Gestalt ihres Parteisekretärs aber auch etwas schwer mit der neu zu gestaltenden Wirklichkeit. Dies findet im Bühnenbild von Martin Fischer trefflichen Ausdruck: es besteht praktisch einzig und allein aus dem überdimensionalen Schreibtisch dieses Parteisekretärs, der sich genötigt sieht, den Lauf der Dinge im übergeordneten (Partei-)Interesse leicht zu manipulieren. Die Schwierigkeiten der Emanzipation bestehen aber nicht ausschließlich im beruflichen und gesellschaftlichen Bereich. Die Bestarbeiterin Jenny Nägle gestattet sich darüber hinaus auch privat ein emanzipiertes Selbstbewußtsein, weil sie sich nicht mehr ausschließlich als treusorgende Verlobte und zukünftige Hausfrau verstehen kann. Das sorgt denn auch im ganz privaten Verhältnis zu ihrem Freund, dem Kranführer Häcksel und, nebenbei, dem Kaderleiter Zabel, für Verwerfungen. Liebe und Arbeit, wie das glücklich zusammen gehen kann, diese schon wieder oder immer noch offene Frage, machen Müllers Weiberkomödie auf desillusionierende Weise aktuell.

Die Bauern, durch Ernst Binder in die großen, symbolisch starken Bühnenbilder von Luise Czerwonatis gesetzt, erhellt die ganze Weite und die ganze Tragik des gescheiterten Massenexperiments: "Der Weg aus der bürgerlichen Gesellschaft durch das unvermeidbare Zwischenstadium des Sozialismus in den Kommunismus". 30 Darstellerinnen und Darsteller spielen eine Dorfeinwohnerschaft in der sowjetischen Besatzungszone. Zusammengewürfelt aus alten Klein- und Mittelgroßbauern, Flüchtlingen, echten Kommunisten und echten Trittbrettfunktionären, ergänzt um bürgerliche Restposten wie Wirtin und Pfarrer auf der einen, neuere Formen alter Berufe wie Volkspolizist und Landrat auf der anderen Seite.

Anhand der durchweg tragischen, weil mit Enttäuschungen und Erschütterungen gepflasterten Lebenswege der Landbewohner beider Seiten in diesem historischen Kampf zeigt sich, welch ein gewaltiges Unterfangen die Bodenreformen waren. Die erste Enteignungsphase bis Ende 1946 stellte dabei noch das geringste Problem dar. Schwieriger waren die darauf folgenden Phasen, die sich allesamt als Aneignungsphasen begreifen lassen. Binder hat diese Arbeit genutzt, um seine Fähigkeiten als Regisseur des Exakten, des Politischen und der Sprache zu einer komplexen Form verschmelzen zu lassen.

Die Bauern verführt in dieser Inszenierung zu sogenannten unhistorischen Spekulationen. Mit dem von Binder erweiterten Müller-Blick können wir uns plötzlich vorstellen, woran das System gescheitert ist, warum es scheitern mußte und wie es ein anderes hätte werden müssen, um vielleicht nicht zu scheitern. Das macht schon wieder neugierig auf eine Vergangenheit, die viele gern erst einmal vergessen würden.

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