Schlimmstenfalls viergeteilt

KOREA Willy Wimmer (CDU), langjähriger Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, über die Aussöhnung zwischen Nord- und Südkorea, bei der Undenkbares nicht gedacht werden sollte

"Es war ein historische Treffen", raunt Wendy Sherman, die Nordkorea-Beraterin von Bill Clinton voller Euphorie. Soeben hat das Weiße Haus einem "Schurkenstaat" zivilisatorische Weihen angedeihen lassen. Washington am 11. Oktober 2000, der Präsident der Vereinigten Staaten empfängt mit Jo Myong Rok einen Emissär des nordkoreanischen Staatschef Kim Jong Il. Noch findet sich das Refugium der nationalkommunistischen Orthodoxie auf der Liste jener Länder, denen Washington eine Schirmherrschaft für den internationalen Terrorismus unterstellt.

Aber eigentlich ist schon seit dem 12. Juni 2000 alles ganz anders. Seit jenem, selbstverständlich ebenfalls "historischen Händedruck" zwischen Kim Jong Il und dem südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung stehen die Zeichen zwischen Nord und Süd auf Entspannung, Annäherung. Wiedervereinigung? - Die Sunshine Policy stellt 55 Jahre Heißen und Kalten Krieg in Nordostasien zur Disposition und hat einem ihrer Protagonisten - Kim Dae Jung - gerade zum Friedensnobelpreis verholfen.

Für Korea wird das nächste Jahr entscheidend sein, bringt Willy Wimmer (CDU) seine Gespräche auf den Punkt, die er Ende September zum wiederholten Male in Pjöngjang mit nordkoreanischen SpitzenPolitikern geführt hat.

FREITAG: Wann rechnen Sie mit einer Wiedervereinigung zwischen Nord- und Südkorea?

WILLY WIMMER: Die Dinge, die zwischen Nord und Süd - in der Region überhaupt - laufen, sind hoch ungewöhnlich. Selbstverständlich bleiben für beide Seiten noch Fragezeichen, was die Solidität der Entwicklung angeht. Aber es ist mit der Sunshine Policy eine Dynamik losgetreten worden, die 55 Jahre regelrecht über den Haufen wirft. Im nächsten Jahr werden wir mehr wissen.

Halten Sie den Prozess der Annäherung zwischen Nord- und Südkorea für unumkehrbar?

Davon gehe ich im Moment tatsächlich aus, weil beide Seiten diese Dynamik mit viel politischer Substanz ausstatten. Man wird sehen, ob zutrifft, was mir hochrangige chinesische Gesprächspartner vor kurzem hier in Berlin zu verstehen gaben - nämlich, dass der nordkoreanische Präsident Kim Jong Il weiter so rational handelt, wie es bisher den Anschein hat. Es entspricht ja der inneren Machtlogik Nordkoreas, das eine solche Führungspersönlichkeit über erhebliche Entscheidungsgewalt verfügt. In Pjöngjang gewinnt man jedenfalls den Eindruck, dass die dortige Elite Kim Jong Il bei seiner Aussöhnung mit Südkorea folgt.

Also Abschied von der Dschutsche-Ideologie, die dem Land eine rigide Autarkie zuweist ...

Ich habe keine Veranlassung von Abschieden zu reden, was Ideologien angeht. Man sollte gerade bei der Dschutsche-Doktrin daran denken: Sie diente ja auch immer dem Zweck, das Maß an eigenständiger Entwicklung zu sichern, das Pjöngjang vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte für notwendig hielt. Die Nordkoreaner haben ihren Weg stets in einer gewissen Reserviertheit gegenüber dem Warschauer Pakt und dem COMECON (*) gesucht und eine ziemliche SchaukelPolitik zwischen Peking und Moskau betrieben. Sie mussten stets in einem Umfeld leben, dass von China und der Sowjetunion, aber auch von Japan und den USA bestimmt wurde. Da galt es einfach, sich zu behaupten, was vielleicht gar nicht so ideologisch durchwirkt war, wie es von außen immer schien.

War nicht gerade deshalb die Dschutsche-Ideologie stark nationalistisch gefärbt?

Sie war vor allem identitätsstiftend. Die Nordkoreaner haben ihre Identität aus dem Willen geschöpft, unter den von mir beschrieben Umständen zu überleben. Es gibt einflussreiche Stimmen in Seoul und Pjöngjang, die sagen, schlimmstenfalls könnten wir auch viergeteilt sein.

Die jetzige Annäherung favorisiert kleine Schritte - Familienzusammenführung, Eisenbahnbau, Wirtschaftshilfe. Ist damit das ursprüngliche Ziel der Nordkoreaner, eine Konföderation als Dach für zwei Systeme und zwei Regierungen zu bilden, ad acta gelegt?

Was ich gegenwärtig bewundere, das ist der Pragmatismus der südkoreanischen Seite, und das ist zugleich der Realismus im Norden.

Letztlich Pragmatismus auf beiden Seiten ...

Ich lege Wert auf die Unterscheidung - Pragmatismus hier, Realismus dort. Bei der künftigen staatsrechtlichen Konstruktion Koreas gilt hingegen, das Undenkbares nicht gedacht werden soll. Wir müssen natürlich in Rechnung stellen, dass die Führungen in Staaten, die nicht unbedingt unserem demokratischen Modell entsprechen, nicht gern in Entwicklung einsteigen, die zu ihrer eigenen Exekution führen. Also muss eine Lösung gefunden werden, die dem eigenen Volk dient und in ein regionales Umfeld passt, das mehr und mehr von Kooperation geprägt ist, was zwischen Nord- und Südkorea, China, Russland, Japan und den USA alles andere als einfach war und ist.

Ich habe den Eindruck, dass den Koreanern für ihre Zukunft eine Menge einfällt. - Dafür ist nicht zuletzt die Politik des südkoreanischen Präsidenten eine ganz entscheidende Voraussetzung ...


    "Sunshine Policy" und Wolkengebirge

    Juni 1994

    Ex-Präsident Carter handelt in Pjöngjang einen Gipfel zwischen Kim Il Sung und Südkoreas Präsidenten Kim Young-Sam aus.

    Juli 1994

    Tod des nordkoreanischen Präsidenten Kim Il Sung. Dessen Sohn Kim Jong Il tritt die Nachfolge an, übernimmt aber nicht offiziell des Amt des Staatsoberhauptes.

    Oktober 1994

    In Genf einigen sich die USA und die Demokratische Volksrepublik Korea auf den Entwurf eines Vertrages, der die koreanische Halbinsel zur atomwaffenfreien Zone erklärt.

    April 1996

    Die Präsidenten Clinton und Kim Young-Sam schlagen Vierergespräche mit Pjöngjang und Peking vor.

    September 1996

    Ein U-Boot Nordkoreas wird vor der südkoreanischen Küste zerstört. Für kurze Zeit liegt die Gefahr eines Krieges zwischen beiden Staaten in der Luft. Auf Druck Washingtons gibt Pjöngjang nach und entschuldigt sich am 29. Dezember 1996 bei der Regierung in Seoul.

    Februar 1998

    In seiner Antrittsrede greift Südkoreas Ende 1997 gewählter Präsident Kim Dae Jung die Carter-Initiative von 1994 auf und plädiert für einen Gipfel mit Kim Jong Il.

    Juni 1999

    Die Vizeaußenminister beider koreanischer Staaten verhandeln über Hilfslieferungen für den Norden. Abbruch der Konsultationen nach einem Marinezwischenfall

    Juni 2000

    Gipfeltreffen zwischen Kim Dae Jung und Kim Jong Il in Pjöngjang, bei dem ein Sechs-Punkte-Programm zu Aussöhnung und Annäherung beschlossen wird.

    Oktober 2000

    Zum 55. Jahrestag der Koreanischen Partei der Arbeit (PdA) bezeichnet die nordkoreanische Regierungszeitung Rodong Sinmun den südkoreanischen Verteidigungshaushalt als "Verbrechen gegen die Wiedervereinigung".

Wieviel Rückhalt genießt Kim Dae Jung für seinen Kurs gegenüber Pjöngjang im eigenen Land?

Man darf nicht vergessen, die koreanische Geschichte war einst von der Rivalität zwischen drei Königreichen bestimmt: Shilla und Kwangju im Süden und Koryo im Norden. Und wir wissen aus der jüngeren koreanischen Geschichte, welche Spannungen zwischen Shilla, sprich: Seoul, und Kwangju bestanden, man denke nur an den Volksaufstand dort vom Frühjahr 1980, als Hunderte ums Leben kamen. Erst Kim Dae Jung hat für Südkorea eine innere Balance zustande gebracht, die auf Machtteilung, Respekt und gleichberechtigten Beziehungen fußt. Das hat die Nordkoreaner überzeugt, weil sie gesehen haben, es kommt Bewegung ins koreanische Spiel.

Welche Rolle spielen die USA in diesem Spiel - sind sie Trittbrettfahrer oder Mäzen im Hintergrund?

Oder Betroffener. Was sich da in Nordostasien abspielt, kann den Amerikanern einige Probleme bescheren - ihnen kommt der Gegner abhanden.

Weil Nordkorea seit Clintons Gespräch mit dem Kim-Jong-Il-Gesandten nicht mehr als Schurkenstaat gilt ...

... weil die Militärpräsenz der USA in Nordostasien Spannungsfelder voraussetzt. Neben der Konfrontation zwischen Nord- und Südkorea ergeben sie sich vor allem durch das gespannte Verhältnis zwischen Taipeh und Peking und den Streit um die Spratly-Inseln (**). Je mehr allerdings diese Spannungsfelder entladen werden, desto mehr wird die Dominanz der USA in dieser Region mit einen Fragezeichen versehen.

Diese Dominanz wird doch in Washington weniger mit den von Ihnen genannten Spannungsfeldern begründet als vielmehr mit dem nordkoreanischen Nuklearpotenzial ...

Natürlich, vieles spricht dafür, dass der Abschuss einer nordkoreanischen Rakete vor gut drei Jahren den Amerikanern als Begründung für ihr Raketenabwehrprogramm (NMD) von Nutzen war. Aber wenn die entsprechenden Systeme in Nordostasien platziert werden sollen, hat das für alle Staaten in diesem Raum Konsequenzen - für China als ganzes, für Japan und für Russland. Es könnte also sein, dass Peking und Moskau gegenüber Pjöngjang ihr Unbehagen darüber zum Ausdruck gebracht und signalisiert haben: Passt auf, dass ihr nicht plötzlich ganz allein dasteht ...

Deshalb die Versicherung Kim Jong Ils gegenüber Präsident Putin, keine Alleingänge mehr zu riskieren.

Der militärische Aktionsradius Nordkoreas ist ja in den vergangenen Jahren immer mehr erodiert, wegen der wirtschaftlichen Probleme, der Naturkatastrophen, der Auszehrung der Bevölkerung. Außerdem ist nach meinem Eindruck die Erinnerung an den Korea-Krieg auf beiden Seiten der Waffenstillstandslinie von 1953 so traumatisch, dass sich dem niemand, der politische Verantwortung trägt, entziehen kann.

Wenn Nordkorea - zugespitzt formuliert - geostrategisch neutralisiert wird, geht den Amerikaner ein wichtiges Argument für NMD verloren ...

Die USA haben Jahrzehnte lang über das Verteidigungs- und Energiebudget ihre WirtschaftsPolitik betrieben - heute hingegen gibt es eine neue Situation. In allen westlichen Staaten spielt die RüstungsPolitik längst eine andere Rolle als in den USA. Auch dort weiß man jedoch, Militärprogramme können nicht mehr die ökonomische Vorteile verschaffen, die früher möglich waren. Außerdem werden diese Programme durch die weltweite Entwicklung delegitimiert. Jetzt ist den Amerikanern MilosŠevic´ abhanden gekommen - bald trifft das möglicherweise auf Ghaddafi zu. Also die Welt ändert sich, auch dank der konsistenten Politik der USA. Und das zeigt sich besonders deutlich in Korea.

Das Gespräch führte Lutz Herden

(*) Westliche Bezeichnung für den multilateralen Wirtschaftsverbund der sozialistischen Staaten: Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW).

(**) Inselgruppe im Südchinesischen Meer, die von China und Vietnam sowie den Philippinen, Taiwan und Malaysia beansprucht wird.

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