Zwei große Schlachten hat die Bush-Regierung bereits gewonnen. Praktisch die gesamte politisch denkende und handelnde Weltgemeinde ist auf diesen einen Punkt konzentriert. Nicht Weltwirtschaftskrise und Bilanzskandale, nicht Hunger und Verelendung, nicht Ökokatastrophen und Schutz des Planeten - nur noch Irak. Die Macht, die Tagesordnung allein zu bestimmen, wurde eindrucksvoll demonstriert. Diesem ersten Sieg musste der zweite zwangsläufig folgen. Alle anderen Staaten - ob mit eigenen Ambitionen oder ohne, ob vorbereitet oder konfus, ob sie wollen oder nicht - müssen sich dem Thema stellen und der Supermacht ein Bekenntnis abliefern. Frei und souverän antworten kann aber niemand. Denn alle, auch die größeren und mittleren, haben die Konsequenzen ihrer Ha
Haltung zu bedenken. So kam es, wie es kommen musste: Nach der Ergebenheitserklärung von Blair, Aznar, Berlusconi und anderen nun der offene Streit in der NATO. Auch dies ist ein Gewinn für die Vereinigten Staaten. Denn sie brauchen die NATO nicht unbedingt, während den zerstrittenen Europäern, besonders aber dem verängstigten deutschen Bürgertum, der Schock eines drohenden sicherheitspolitischen Vakuums ins Gesicht geschrieben steht.Für die westliche Allianz rächt sich spätestens heute der Funktionswandel, den es seit 1990 auf der Suche nach neuer Sinngebung gegeben hat. Die Dreistigkeit des von den Amerikanern in Brüssel lancierten türkischen Begehrens besteht ja darin, das man den Bündnis- und Beistandsfall für einen provozierten Angriffskrieg reklamiert - mit anderen Worten: Handlungsmaxime des Bündnisses für den kollektiven Verteidigungsfall werden für einen Angriffsfall missbraucht und sollen nach dem Willen der USA im Kollektiv abgenickt und vollstreckt werden. Wer hier sein Veto einlegt, handelt bündniskonform, gemessen an den bei der NATO-Gründung von 1949 formulierten Prinzipien. Wer hier zustimmt, degradiert die NATO zur operativen Handlungsreserve und zum kontributionspflichtigen Alliierten Amerikas - komme, was da wolle. Der Präzedenzfall aktiver Beihilfe zu einer aus nationalen Interessen geführten Aggression - er geht noch über das Paradigma der NATO-Intervention gegen Jugoslawien von 1999 hinaus. Eigentlich könnten die Europäer ihren hoch gelobten Weltgerichtshof wieder auflösen oder sich selbst auf die Anklagebank setzen, nur wird es wohl an Richtern und Klägern fehlen, was niemandem ein Trost sein sollte. So hörbar, so dröhnend geradezu, war das Ausatmen der Geschichte seit dem Gezeitenwechsel von 1990/91 nicht mehr zu hören.Geschichte kann einige Zeit scheinbar stillstehen und sich dann um so stärker beschleunigen. Die Bundesrepublik Deutschland ist - trotz eines seit 20 Jahren anhaltenden kleinkarierten Stellungskampfes um Steuern, Renten, Sozialabgaben und Gesetzesdickicht - vergleichsweise immer noch ein Hort der Stabilität. Dass sie sich radikal verändern und den Sozialstaat herkömmlicher Prägung hinter sich lassen muss, wenn sie ein funktionierendes Gemeinwesen bleiben will, ist tausendfach wiederholt worden und mittlerweile zum gemeinsamen Programm aller Bundestagsparteien geronnen. Und dennoch scheitern sie bislang, egal in welcher Koalition, immer wieder am offenen und verdeckten Widerstand der Bevölkerung, die sich weigert, ganz auf den neoliberalen Zug der Zeit aufzuspringen.In diesem Jahr, mit dem Treibsatz Irak-Konflikt, könnte sich dieses Patt auflösen. Wenn die Amerikaner ihren Kurs erfolgreich durchhalten, wäre Rot-Grün, innen- wie außenpolitisch isoliert, am Ende. Eine bürgerliche, vorübergehend auch eine Große Koalition der Systemveränderer hätte mehr als je zuvor freie Hand und würde sich wohl großzügig an den Kosten amerikanischer Ressourcensicherung beteiligen, im Interesse der atlantischen Eintracht und um den Druck auf die eigene Bevölkerung zu erhöhen. Wenn, so das zweite Szenario, die Amerikaner ihren Krieg beginnen, aber nicht schnell beenden können oder gar einen Flächenbrand auslösen, wird auch eine rot-grüne Regierung, sollte sie im Amt bleiben, das Chaos der Weltwirtschaft und entsprechend der öffentlichen Haushalte nutzen, um "tiefgreifende Reformen endlich" durchzusetzen. So bleibt im Moment nur die verzweifelte Hoffnung, dass sich die Ironie der Geschichte fortsetzt: ein ansonsten prinzipienloser Kanzler reitet weiter, weil er längst nicht mehr anders kann, auf dem Prinzip einer friedlichen Lösung, wird auf wundersame Weise zum Katalysator der Vernunft und ermuntert ungewollt alle jene, die nicht nur eine friedliche, sondern auch eine gerechtere Welt verlangen.