Seelisches ohne Subjekt

Mehr als ein Nachruf Zum Tod von Alfred Lorenzer und zum Ableben (s)eines kritischen Denkens vom Subjekt

Ein Blick auf die Titelseiten der Magazine genügt: Das Seelische hat mächtig Konjunktur. Ob es dem Spiegel ums Lernen, dem Focus um die großen Gefühle geht - immer lautet die Frage, wie es im Menschen funktioniert, dass Hass ausbricht, wir uns verlieben oder Bewusstsein entsteht. Unübersehbar sind dabei jene Wissenschaften in den Vordergrund gerückt, die mit der Vorsilbe neuro- versprechen, aller Rätsel Lösung parat zu haben. Noradrenalin, Hippocampus und Amygdala seien die Mittel und Wege des Denkens, Fühlens und Handelns. Hochglanzbildchen wollen uns beibringen, welches Hirnareal in welcher Situation in Arbeit ist, also wie sehr unser Leben und Erleben in den Gesetzen des Gehirns wurzelt.
Alfred Lorenzer, der vorvergangene Woche im Alter von achtzig Jahren starb, behandelte das Seelische als Theoretiker der Psychoanalyse. Als Arzt von der Psychiatrie kommend, entdeckte er in den fünfziger Jahren die Freudsche Theorie und entwickelte in ihr eine eigenständige kritische Lesart, bis er vor zwölf Jahren schwerkrank die wissenschaftliche Arbeit abbrechen musste.
Den Menschen (wie der Spiegel, nur anders) als Körperwesen zu begreifen, diese Auffassung hat Alfred Lorenzer tatsächlich vehement gegen Versuche ins Feld geführt, seine Zunft einseitig als Sozialwissenschaft, als hermeneutische Beziehungspsychologie misszudeuten. Er bestand auf Freud und einem Triebbegriff, der in der körperlichen Bedürftigkeit des Menschen fußt. Nur so, betonte er, lässt sich der kulturkritische Impuls der Psychoanalyse, der "Stachel Freud", ohne harmonisierende Verflachungen bewahren.
In eine vermeintliche Nähe zum aktuellen Trend rückt Lorenzers Konzeption aufgrund seiner Konkretisierung des Körperlichen am Trieb im Begriff des neurophysiologischen Engramms. Bei genauerer Betrachtung tritt aber ein Unterschied zutage, der größer kaum sein könnte: Die innere Natur ist bei Lorenzer eine sozial hergestellte, und zwar von allem Anfang an, und damit wurde er zum vielleicht radikalsten Vertreter des sozialisierten Subjekts in der Psychoanalyse. In seinem Verständnis sind es konkrete Interaktionserfahrungen, die das Individuum bis auf die Ebene der Neurophysiologie strukturieren und somit das neuronale Fundament aller unserer Erfahrungen als Ergebnis von Sozialisation hervorbringen. Bereits vor der Geburt beginnen die Interaktionen mit der Mutter, die kindliche Biologie zu formen und damit als durch konkrete gesellschaftliche Bedingungen geformte herzustellen.
Der gegenwärtige Diskurs um die Biochemie der Seele geht dagegen selbstverständlich von universalen Sets genetischer Codes aus. Es wird beispielsweise ein festes Repertoire an "angeborenen Grundgefühlen" behauptet, die statt auf Lebensgeschichten auf "den Kampf ums Überleben in der Vorzeit" zurückgingen. So werden hier und heute hergestellte subjektive Strukturen als unvermeidliche Gegebenheiten zurückdatiert und damit der kritischen Infragestellung entzogen.
Entscheidender aber noch ist, dass es Lorenzer um nichts weniger ging als um eine Theorie des Subjekts. Sie handelt von Bedeutungen und vom Sinn, über die auch noch so genau lokalisierbare neuronale Erregungen keinerlei Auskünfte geben können. Dort, wo die Neurowissenschaften die von ihnen gefundenen neuronalen Netze schon für die Seele ausgeben und glauben, damit alles verstanden zu haben, ist in Wirklichkeit vom auf den Titelseiten groß angekündigten "Erleben" noch keine Spur. Stets sind es individuelle lebensgeschichtliche Bedeutungen, der jeweils (auch körperlich) erfahrene Sinn, der unser Seelenleben ausmacht und erst in einer "Hermeneutik des Leibes" zugänglich wird.
Psychoanalytisch vom Subjekt zu sprechen, heißt, eine Welt von Repräsentanzen anzunehmen, innerer Bilder von der Welt und von sich selbst, die im Kontakt mit wichtigen anderen entstehen und sich beständig verändern. Die psychische Realität gewinnt in der Auseinandersetzung von körperlicher und gesellschaftlicher Realität nicht einfach Kontur, sondern entsteht hier überhaupt erst, nimmt beides auf, um einen Raum von Bedeutungen nach eigenen Gesetzen hervorzubringen. Es ist Lorenzers Verdienst, diese Dialektik von einsozialisierten Körperformeln und der gesellschaftlichen Sprache auf den Begriff gebracht zu haben. Dem Seelischen als Sphäre eigenen Rechts zu folgen, seinen eigentümlichen Verwicklungen im intimen Dialog von Analytiker und Analysand nachzugehen, das ist die originäre Empirie der Psychoanalyse.
Lorenzers "materialistischer Sozialisationstheorie" geht es um die Bruchstellen, die das Aufeinandertreffen von körperlich gefasstem Begehren und sozialen Verhaltensnormen am eigenen Leibe hinterlassen hat. Auch die Beschädigungen des Subjekts können als Resultat spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen verstanden werden, wenn die Psychoanalyse mit einer kritischen Gesellschaftstheorie vermittelt wird. Lorenzer war Begründer dieses Vorhabens im Umfeld der Frankfurter Schule, das sich selbst unter den Titel "Kritische Theorie des Subjekts" stellte.
Seine breite Bezugnahme auf die Neurophysiologie ist also nicht als einfacher Anschluss misszuverstehen, sondern ernst zu nehmen als genaue Reflexion auf das kategorial Trennende zwischen den beiden Gegenstandsbereichen. Auf dieser Grenzziehung entschieden zu bestehen, hat aber dieser Tage gewichtige strategische Nachteile: Will man auf den unter Volldampf längst gestarteten Zug "Neuropsychoanalysis" noch aufspringen, darf man es nicht zu genau nehmen. So wurden erst kürzlich Vorlesungen, die Lorenzer in den achtziger Jahren in Costa Rica gehalten hat, mit dem sich um Anschluss bemühenden Untertitel Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften versehen (Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte, Klett-Cotta 2002). Lorenzer soll als "Vordenker interdisziplinärer Diskurse der heutigen Psychoanalyse" herhalten, wie es die Herausgeber im Titel der Einführung formulieren, da mit seinem gesellschaftskritischen Impetus wohl weniger Aufmerksamkeit zu gewinnen ist.
Dass die modisch im Mund geführte "Interdisziplinarität" und eine genaue Abgrenzung verschiedener Gegenstandsbereiche sich auch hier nicht vertragen, muss außen vor bleiben. Mit diesem Schlagwort wird eine Kompatibilität zweier Arten theoretischer Befunde von vornherein unterstellt, die unreflektiert bleibt und daher hier, wie gesagt, auf ihre unausgesprochene kategoriale Gleichsetzung hinausläuft. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es Psychoanalytiker lockt, ihre immer schon als weich und schwammig diskreditierten Thesen hier nun endlich mithilfe harter naturwissenschaftlicher Fakten untermauern zu können. Tatsächlich aber werden sie untergraben und der eigenständige Gegenstandsbereich mitsamt Erkenntnisanspruch des Seelischen aufgegeben: Denn warum sollte den vagen Erzählungen von subjektivem Sinn und lebensgeschichtlicher Bedeutung im analytischen Kabinett noch Gehör geschenkt werden, wenn sie als physiologische Prozesse im Labor unmittelbar sichtbar sind?
Das als Paradigmenwechsel wichtig zu nehmen, ist keineswegs innerakademische Haarspalterei. Zunächst wird es Tausenden Studenten - zunehmend alternativlos - vorgesetzt - werden, während schon länger Lehrstühle im Fachbereich Psychologie beispielsweise sowieso fast ausschließlich an Hirnforschende vergeben werden. Zudem verändert sich das therapeutische Vorgehen, wenn die um Sinn, Verstehen und Konflikt zentrierte Psychotherapie tendenziell von pharmakologischen und bald auch gentherapeutischen Eingriffen abgelöst wird.
In ihrer populärwissenschaftlichen Variante prägen diese Konzepte aber vor allem das alltägliche Selbstverständnis unseres Befindens und den Umgang mit uns selbst. Anlässlich des eingangs erwähnten Focus-Titels werden uns beispielsweise Strategien und Techniken unterbreitet, Gefühle "erfolgreich einzusetzen". Offen wird hier eingestanden, dass derlei Selbstinstrumentalisierung dazu nötig ist, sich in den Konkurrenzverhältnissen in Beruf und Privatleben über Wasser zu halten. Darüber hinaus wird ein Anreiz geschaffen, die angebotenen Instruktionen begierig nachzufragen. Das Verstehen seelischer Zustände und mithin zwischenmenschlicher Verhältnisse, nicht zuletzt im Sinne Lorenzers, ist für die Zurichtung auf solcherart Überlebenspraxis allerdings weder gedacht noch zu gebrauchen.

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