GÜNTER GAUS: Am 4. November 1989 versammelten sich Hunderttausende auf dem Berliner Alexanderplatz, um für grundlegende Reformen in der DDR zu demonstrieren. Ihre Parole war "Wir sind das Volk" - zehn Jahre später, am 4. November 1999, hing am gleichen Platz ein großes Transparent mit der Inschrift "Wir waren das Volk". Sie waren damals als Baustadtrat des Berliner Bezirks Mitte dafür zuständig. Was sollte der Satz "Wir waren das Volk" ausdrücken?
THOMAS FLIERL: Die von Ihnen erwähnte Demonstration war wohl der unwiederbringlichste Ausdruck der heroischen Illusion einer sich selbst demokratisierenden DDR - Selbstermächtigung, aber auch Selbsttäuschung. Zehn Jahre später daran zu erinnern im Bewusstsein gelaufener Geschichte, das war sowohl Ausdruck des Stolzes "Wir waren das Volk", wie auch von Resignation. Es sollte die Botschaft mittransportiert werden "Volk bleibt Volk" - die Bevölkerung meldet sich von Zeit zu Zeit zurück. Insofern war es eine in den öffentlichen Raum hinein projizierte Mehrdeutigkeit, die großen Anklang fand.
Denken Sie, dass die sogenannten Ossis den Wessis etwas voraus haben, weil sie ein paar Enttäuschungen mehr erlebt haben und daher an Erfahrung reicher sind?
Ich denke schon, dass die einmalige historische Situation, einen Umbruch dieser Art erlebt zu haben, ihn in verschiedenen Positionen - dominierend oder subordiniert - mitgestaltet zu haben, ein Erfahrungspotenzial ermöglicht, mit dem zumindest meine Generation Verlustängste und Trauer um Vergangenes, aber auch das Mitwirken an Neuem positiv bewältigen konnte. Nicht alle, aber viele. Inzwischen können wir ja auf zehn Jahre mit gestalteter Veränderung im vereinten Deutschland verweisen.
Sie haben mich in Grenzen fasziniert. Sie antworten in einem vorzüglichen Deutsch und bringen auch komplizierte Sätze zu einem richtigen Ende. Dadurch gewinnt allerdings manches eine gewisse Glätte - wissen Sie das, wollen Sie das oder merken Sie das nicht?
Ich merke das, aber das ist auch Teil der Bewältigung des Problems.
Welches Problems?
Des historischen Bruchs.
Ihr Deutsch ist besser als das des Regierenden Bürgermeisters von Berlin oder des Bundeskanzlers. Ist Ihre Sprache für Sie auch Werkzeug, um unangreifbar zu sein?
Ich denke, dass man Brüche oder Widersprüche auch formulieren sollte, weil sie nur dann kommunizierbar sind.
Was empfinden Sie, wenn Westdeutsche Ostdeutschen vorwerfen, sie seien oft zu rückwärts gewandt?
Das ist ein Argument aus der ersten Hälfte der neunziger Jahre. In Berlin erleben wir ja gerade, wie der Veränderungsprozess eine ganze Stadt erfasst. Es gibt inzwischen im Westen ähnliche Verlustängste, wie es sie im Osten gab, und es gibt das gemeinsame Bewusstsein eines - vielleicht etwas zeitversetzten - gesellschaftlichen Wandels, der Ost- und Westberliner gleichfalls betrifft. Insofern schleift sich dieses Vorurteil langsam ab.
Aber beide werden nostalgisch und denken an die Zeit, als die DDR noch nicht rechnen musste und Westberlin immerzu subventioniert wurde.
Eine gewisse Wiederkehr von Nostalgie in Ost und West ist durchaus zu beobachten, aber auch mehr Realismus.
Entwickelt sich aus den Nöten Berlins eine gewisse Solidarität oder ist es eher so, dass die Ellenbogen stärker benutzt werden?
Der Konkurrenzkampf könnte stärker werden. Es besteht natürlich in Berlin auch eine politische Konstellation, in der Ost-West-Ressentiments bewusst oder spontan reaktiviert werden. Andererseits kommt es darauf an, auch Solidarität zu finden angesichts der Probleme in der Stadt.
Sie meinen, die finden Sie?
Wir wollen dazu beitragen, dass durch diese ungewöhnliche Lage auf neue Weise Gesprächsituationen möglich und bisherige Blockaden überwunden werden.
Ich höre, dass man in der Berliner Theaterwelt fragt, wann fängt er eigentlich mal an, mit uns zu reden? Gehen Sie unter die Leute - unter Ihre Leute, für die Ihr Ressort zuständig ist?
Ich gehe da sehr viel hin, es ist aber zu wenig, weil es natürlich innerhalb von wenigen Wochen notwendig war, einen neuen Haushalt aufzustellen, sich einzuarbeiten, alle Akteure kennen zu lernen ...
... macht es noch Spaß?
Ja, es ist noch eine ernsthafte Herausforderung und wenn es zu Begegnungen kommt, habe ich den Eindruck, es lässt sich eine gemeinsame Sprache finden, die auch Öffnungen ermöglicht.
Wie kam der Kommunismus in Ihre Familie?
Erst nach dem Krieg. Mein Großvater väterlicherseits hatte meinen Vater vor nazistischen Illusionen bewahrt und trat dann nach 1945 in die KPD ein. Mein Vater war ein typischer Vertreter der Flakhelfer-Generation, geriet in französische Gefangenschaft und lebte dann in Westberlin, kam dann aber nach Ostberlin, erlebte den kulturellen Aufbruch dort und identifizierte sich mit dem Sozialismus-Projekt in der DDR. Das geschah alles in der Nachkriegszeit, es gibt also keine längere kommunistische Tradition, eher eine sozialdemokratische, denn mein Großvater mütterlicherseits war seit dem Kapp-Putsch in der SPD, kam in die SED und ging 1950 in die Bundesrepublik. So kam eine deutsch-deutsche Konstellation in die Familiengeschichte.
Ihr Vater war in der DDR ein profilierter Architektur-Kritiker, als Sie Ende der neunziger Jahre als Baustadtrat den Abriss des Mehrzweck-Gebäudes "Ahornblatt" an der Berliner Fischer-Insel zuließen, was nach Meinung von Intellektuellen in West und Ost ein Fehler war, hat da der Vater mit dem Sohn gehadert?
Zur Richtigstellung muss ich sagen, dass wir aus Gründen des Denkmalschutzes die Genehmigung nicht gegeben haben, sondern der Senat die Entscheidung an sich zog. Es gab da mit meinem Vater Reibungen, aber auch Übereinstimmung, dass die städtebauliche Situation höher zu bewerten sei als das Objekt. Es gab kein Zerwürfnis, das war kein zentraler Konflikt zwischen uns.
Worin besteht der zentrale Konflikt zwischen Ihnen?
In der Frage, wie ein widerständiges oder eigenständiges Denken in den gefestigten Machtstrukturen der DDR mit einer Mitgestaltung offener politischer Strukturen heute in Verbindung zu bringen ist. Da gibt es die Sorge das Vaters, was passieren könnte, wenn man Politik macht ...
Worauf läuft diese Sorge hinaus?
Dass zuviel Anpassung an das Systemische, an die Logik von Politik stattfindet ...
Misstraut er Ihnen bis zu einem gewissen Grad?
Das glaube ich nicht, nein.
Sie haben einmal gesagt, es gebe in einer bestimmten Schicht in der PDS mehr Berührungspunkte mit dem Bildungsbürgertum als - Zitat Flierl - "manche aufstiegsorientierte Teile der SPD sie haben". Steckt darin ein bisschen akademischer Hochmut gegenüber Kleinbürgerlichkeit? Sie können es nicht gut zugeben.
Die DDR-Intelligenz existierte in einer Gesellschaft, die sozial gleicher war als die westdeutsche, sie konnte Bildung annehmen ohne sozialen Dünkel, und sie konnte das durchaus in gesellschaftsprägende Entscheidungen einbringen. Andererseits gab es natürlich auch eine Selbsttäuschung dieser Intelligenz über die soziale Lage der von ihnen mit vertretenen Werktätigen. Bei dem, was Sie angedeutet haben, geht es nicht um Hochmut, damit wird eher ein kommunikatives Problem zwischen PDS-Politikern und manchen Sozialdemokraten - zumal in Berlin - markiert.
Können Sie das genauer beschreiben?
Als zweite oder dritte Generation von DDR-Intelligenz, der ja viele der heutigen PDS-Politiker angehören, verkörpern wir natürlich eine gewisse Kontinuität von Funktionselite, obwohl wir in der DDR nie zentrale Positionen inne hatten und durchaus widersprüchliche Erfahrungen sammelten - es gab jedoch ein Bewähren im Umbruch. Und dabei seine Identität behauptet zu haben, das ist, glaube ich, ein großes Kapital ...
Wo kommt der Konflikt mit den Sozis?
Vielleicht bei einer gewissen Kulturfeindlichkeit unter manchen sozialdemokratischen Politikern, bei einem sehr instrumentellen Verhältnis zur Macht, einem sehr auf Äußerlichkeit bedachten Verhältnis zur Öffentlichkeit - Momente, die dazu führen, dass man das strategische Projekt, das wir zu bewältigen haben ...
... Sie meinen die rot-rote Koalition.
Ja, dass man dies zu eng sieht. Da sind wir natürlich in einer Lage, in der man sich Hochmut nicht leisten darf. Es kommt darauf an, dass wir Verständnis entwickeln, uns einbringen und nicht meinen, wir hätten etwas voraus.
Gibt es einen Punkt, an dem der Kultursenator sagt, bis dahin und nicht weiter?
Ja, den wird es geben.
Können Sie mir den nennen?
Der wird dann erreicht sein, wenn durch kurzsichtige Haushaltentscheidungen die Substanz der Berliner Kultur- und Wissenschaftslandschaft gefährdet ist.
Was macht Spaß an dieser Funktion?
Es ist eine Herausforderung, bei der es gelingen kann, Probleme auf andere Weise zu lösen und Spielräume in diesen stark begrenzenden Strukturen zu finden. Nehmen Sie den ursprünglichen Schließungsbeschluss zum Klinikum "Benjamin Franklin" ...
... das jetzt vielleicht privatisiert wird.
Ja, es zeigt sich da eine Möglichkeit des Umsteuerns, die sich auch durch persönlichen Einsatz ergeben hat.
Alle Theater lassen sich nicht privatisieren.
Das wird auch nicht sein. Und selbst wenn, sie brauchen ja weiter öffentliche Zuschüsse.
Sie sind als Baustadtrat nicht davor zurückgeschreckt, sich unbeliebt zu machen. Sie haben sich kommerzieller Werbung an der Berliner Marienkirche widersetzt und auch sonst einer Kommerzialisierung öffentlicher Plätze widersprochen. Sie haben viel schlechte Presse erlitten. Sind Sie ein linker Konservativer?
Nein, das glaube ich nicht.
Es ist keine Schande, ein linker Konservativer zu sein ...
Sicher würde ich ein linkes Projekt immer auch im Bewusstsein des Wertes konservativer Anschauungen formulieren. Etwas bewahren und erhalten zu wollen, ist ja in einem linken Projekt, das auf Nachhaltigkeit beruht, durchaus ein eigenständiger Wert. Und ich würde die damit verbundenen Widersprüche aufgreifen - ich sehe das nicht als etwas Negatives ...
Das ist auch keineswegs negativ gemeint, Sie könnten es als Kompliment nehmen, ein linker Konservativer zu sein.
Ja, ich fühle mich aber als einer, der die postmodernen Erfahrungen aufgenommen hat und durchaus ein Modernist ist.
Worin besteht der stärkste Widerspruch zwischen Thomas Flierl und der herrschenden Spaßgesellschaft?
Ein Journalist hat einmal formuliert, aus mir spreche der postkommunistische Asketismus. Es geht mir allerdings schon darum, daran festzuhalten, dass Kultur öffentliche Selbstverständigung der Gesellschaft über ihre eigenen Problemlagen ist. Da halte ich am Erbe der Aufklärung fest, was Kritik an der hemmungslosen Kommerzialisierung aller Kulturbereiche einschließt.
Ihr Konzept von den öffentlichen Plätzen in einer Stadt als Ort einer politisch bewussten Bürgerdemokratie erinnert mich, wenn ich die Spaßgesellschaft bedenke, an die Träume kommunistischer Idealisten vom Neuen Menschen. Kommt Ihnen gelegentlich in den Sinn, dass Sie ein Konzept haben, aber nicht die Bürger dafür?
Nein, das denke ich nicht. Gerade in Berlin gibt es ein neues Interesse an gesellschaftlich bedeutsamen Räumen, denken Sie an den Aufbau des Regierungsviertels im Spreebogen oder die Neubestimmung des Areals um den Fernsehturm, die noch aussteht. Ich denke, da muss das Wort der Postmoderne nicht das letzte Wort sein. Um noch einmal auf die Spaßgesellschaft zu kommen: es gibt eine nachwachsende Generation der 20- bis 30-Jährigen, die sich durchaus einer neuen Ernsthaftigkeit öffnet. Sie lässt eine größere Offenheit gegenüber der Kultur aus den sechziger und siebziger Jahre erkennen als sie jetzigen Akteuren eigen ist, die sich vor allem des Historismus bedienen.
Warum hat Erich Honecker Friedrich II. wieder "Unter den Linden" reiten lassen?
Das war sicher zum einen Legitimationshandeln, aber es war, glaube ich, auch ein Zurückkehrenwollen in die eigene Geschichte und ein Zeichen für den Weg der inneren Aufklärung. Seinerzeit eine durchaus sehr umstrittene, aber - so glaube ich - richtige Entscheidung. Denn ein Sozialismusprojekt, das ohne Wahrnehmung der eigenen Geschichte konzipiert wird, hat auch keine Zukunft.
Hätte Erich Honecker die Reste des Stadtschlosses noch sprengen lassen, als er Friedrich II. wieder in den Sattel setzte?
Auf keinen Fall. Ich glaube, schon in den siebziger Jahren war klar, dass die Sprengung des Stadtschlosses in Berlin eine Tat war, die sich zu dieser Zeit nicht mehr nachvollziehen ließ. Dennoch war es eine enorme historische Leistung, diesen Palast der Republik dorthin zu bauen, ein öffentliches kulturelles Angebot an die Bevölkerung und an die Stadt zu unterbreiten.
Nachdem Sie als Kultursenator nominiert waren, hat man Sie in vielen Blättern als kulturelles Leichtgewicht verächtlich gemacht. Eine Zeitung schrieb, es sei so, als wäre der Direktor der Volkshochschule von Lüdenscheid ausgewählt worden. Wie tief hat Sie das gekränkt?
Das hat mich schon aus Respekt vor der Volkshochschule in Lüdenscheid nicht gekränkt. Aber es bleibt eine Herausforderung, dieses Amt auszufüllen, dessen bin ich mir bewusst. Ich kann gut damit leben, Vorurteile zu enttäuschen statt Erwartungen.
Komprimierte Fassung eines Interviews, das in der Reihe Zur Person am 13. März 2002 vom ORB ausgestrahlt wurde.
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