Sklavenrebellionen des 21. Jahrhunderts?

Im Gespräch Der Schriftsteller Mark Ames über Amokläufe in den USA und eine Kultur, in der nur die Top Ten zählen

"Going Postal" ist ein amerikanischer Slangausdruck und bedeutet soviel wie: extrem wütend werden, bis hin zur Gewaltanwendung. Die Formulierung entstand Ende der achtziger Jahre, als innerhalb weniger Jahre mehr als 40 Mitarbeiter des United States Postal Service von Kollegen beziehungsweise Ex-Kollegen erschossen wurden. Mit den Amokläufen bei der US-Post begann, was seither zum Massenphänomen geworden ist: Massaker an Arbeitsplätzen, Schulen, nun auch Universitäten.

Der US-Autor Mark Ames hat unter dem Titel Going Postal: Rage, Murder and Rebellion ein zorniges Buch veröffentlicht, dessen Grundthese so simpel wie explosiv ist: Die Gründe für die Amokläufe liegen weder in der Persönlichkeitsstruktur der Täter noch in Computerspielen oder fehlenden christlichen Werten. Sie liegen da, wo die Massaker passieren: In unseren Büros und in unseren Schulen.

FREITAG: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Amokläufe als Rebellionen zu deuten?
MARK AMES: Ende 1999 kam ich zurück nach Amerika, um über die Vorwahlen der Demokraten zu berichten. Zu der Zeit gab es einen Arbeitsplatz-Amoklauf, und ich war abgestoßen von den Reaktionen darauf. Ich hatte die Hypothese, dass es sich um Rebellionen gegen etwas Zeitgenössisches handelt, das man nicht genau fassen kann. Bis vor kurzem existierte diese Art Verbrechen ja nirgendwo in der Welt, auch nicht in Amerika. Entweder ist also über Nacht diese seltsame psychische Krankheit ausgebrochen - was unwahrscheinlich ist. Oder es gibt einen sozioökonomischen Kontext.

Den Sie in drastischer Weise beschreiben.
Ja, irgendwann einmal werden die Leute auf die achtziger und neunziger Jahre zurückblicken und sagen: Warum zum Teufel haben die Amerikaner sich das gefallen lassen? Amerika ist in den vergangenen 25 Jahren noch reicher geworden. Aber dieser Reichtum ist bei ganz wenigen Leuten konzentriert. Nur eine Zahl, die alles beweist, was ich sagen will: 1979 verdiente ein Firmenchef im Schnitt 30 mal so viel wie seine Angestellten. Heute verdient er 578 mal so viel. Die Leute werden immer mehr ausgepresst - warum sollen sie sich nicht wehren? Es war bis Ende der achtziger Jahre undenkbar, dass man angestellt ist, als Mittelklasseamerikaner, und keine Gesundheitsversicherung hat. Dass man gefeuert wird, obwohl die Firma Gewinn macht.

Trotzdem scheint aber kaum jemand in den Amokläufen politische Statements oder Rebellionen erkennen zu wollen.
Viele der Massaker sind nicht offen politisch - das war bei den Sklavenaufständen ähnlich. Bis vor etwa 200 Jahren dachte jeder, dass Sklaverei normal ist. Jahrtausende lang. Ich vermutete, dass man damals angesichts der Gewaltausbrüche von Sklaven wahrscheinlich ähnlich fassungslos war, wie heute angesichts der Amokläufe. Ich habe mir die Quellen angesehen. Es gab sehr wenige Rebellionen, aber es gab viel so genannte willkürliche Gewalt: Plantage niederbrennen, den Besitzer vergiften, eines seiner Kinder umbringen. Und die offizielle Sichtweise war - das ist das Resultat von auswärtigen Einflüssen: der Papst, die Jakobiner. Oder es liegt an der natürlichen Niedertracht der Schwarzen, am Mangel an christlichen Werten.

Niemand sagte, was uns heute offensichtlich erscheint: die Sklaverei war die Ursache der Rebellionen. Und ich glaube, das trifft auf die heutigen Massaker auch zu. Die Leute, die da durchdrehen, müssen nicht unbedingt wissen, dass sie gegen die Folgen der Reagonomics rebellieren.

Gibt es Fälle, wo die Leute ihren Angriff erklärt haben?
Ja, Joseph Wesbecker zum Beispiel, der das erste Massaker in einem privaten Unternehmen verübte - 1989 in Kentucky. Er wurde von seiner Firma extrem mies behandelt, einem Unternehmen, das seine Aktionäre regelrecht ausbluten ließen. Das übliche Post-Reagan-Szenario. Und Wesbecker wehrte sich dagegen, dass er ungerecht behandelt und schließlich gefeuert wurde. In der Regel sind es aber die jugendlichen Täter, die in abstrakteren, philosophischen oder revolutionären Begriffen über ihre Motivation reden. Ganz offen. Die Columbine-Kids* hinterließen vor acht Jahren sehr viel Material: Sie wollten ganz explizit nicht nur die Arschlöcher in ihrer Schule zerstören, sondern die ganze Welt, die diese Arschlöcher hervorgebracht hatte.

Wie sieht diese Welt aus?
Es ist Amerika.

Wie muss man sich amerikanische High-Schools vorstellen, an denen so etwas geschieht?
Die sehen aus wie eine Lagerhalle. Meine sah so aus und viele, die ich gesehen habe. Wegen des Steuerkürzungsirrsinns der vergangenen 30 Jahre wird wenig Geld in öffentliche Schulen investiert. Das sind unmenschliche, schlimme Orte. Wie in dem Film Elephant von Gus van Sant. Wie ein mieses Krankenhaus oder ein Flughafen einer mittelgroßen amerikanischen Stadt im Mittelwesten. Neonleuchten, Linoleumboden. Aber die Architektur ist nur ein Teil des Problems. Vorstadtschulen sind überhaupt ziemlich bösartige Orte. Es herrscht eine Kultur, in der nur die Leute ganz oben zählen. Wenn du nicht dazu gehörst, bist du für immer geliefert. Viele dieser Kids werden misshandelt. Und der Rest der Schule toleriert das, auch die Schulleitung. Zugleich wird der Leistungsdruck immer größer.

Ich war schockiert, als ich an meine alte High-School kam. Das war immer eine der besten öffentlichen Schulen in Kalifornien gewesen. Heute schlafen die Kids dort drei oder vier Stunden pro Nacht, um es an eine gute Universität zu schaffen. Man hat diese Kultur, in der nur die Top-Ten-Prozent zählen, man hat den enormen Stress, und man hat gleichzeitig das Modell Amoklauf: ein Modell dafür, wie man sich wehren kann.

Dennoch, ist das alles schlimm genug, um Dutzende von Menschen umzubringen?
Ja. Weil du es einfach nicht mehr aushältst. Darum bringst du sie um. Du glaubst, dass dein Leben vorbei ist. Das war bei praktisch allen Amokläufen an Arbeitsplätzen so. Die Leute glaubten, dass sie von ihrem Arbeitsplatz umgebracht wurden. Und in den Schulen ist das genauso. Es ist ja nicht so einfach, loszugehen und Leute umzubringen, selbst wenn du 16 bist und die Hormone spielen verrückt. Manche Psychologen und Kommentatoren schreiben, dass seien Nachahmer. Aber wie musst du an den Abgrund gedrängt worden sein, bis du so etwas tust. Oder du bist völlig verrückt. Aber diese Kids sind nicht verrückt und die Leute, die Arbeitsplatzmassaker verüben, sind es auch nicht. Der Secret Service und das FBI haben das lange untersucht. Es gibt kein Profil. Es kann jeder sein. Jeder der ausgegrenzt wird, jeder der es nicht schafft.

Das Gespräch führte Uli Hufen

(*) Am 20. April 1999 töteten zwei mit Sturmgewehren bewaffnete Schüler an der Columbine-High-School zwölf Mitschüler und einen Lehrer - nach dem Massaker begingen die Täter Selbstmord.


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