Sozialpolitik ist kein Restposten

REGIERUNGSKRISE Michael Müller, Bundestagsabgeordneter der SPD, zur künftigen Arbeit seiner Partei

FREITAG: Für den politischen Beobachter hat das Arbeitgeberlager mit seiner »Revolution durch Verweigerung« einen beeindruckenden Erfolg erzielt. Der schwierigste Widersacher hat das Handtuch geworfen. Wer in der Regierung wird künftig noch wagen, eigene Akzente zu setzen, wenn sie nicht hundertprozentig mit den Wünschen des Kapitals übereinstimmen?

Michael Müller: Man darf Interessenpolitik nicht mit Wirtschaftspolitik verwechseln. Aus meiner Sicht, und ich habe keinen Anlaß, an ihr zu zweifeln, ist nicht zu bestreiten: Wenn oberste Ziele die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Wiederherstellung wirtschaftlicher Stabilität sind, dann müssen wir das im Zweifelsfall auch im Konflikt mit den wirtschaftlichen Interessenverbänden durchsetzen. Das ist ja nicht nur der Wille der Regierung. Wenn die Wirtschaft glaubt, sie hat mit plumper Interessenpolitik einen Sieg errungen, dann ist das ein Pyrrhus-Sieg. Das zeigt ein Blick in die Geschichte unseres Jahrhunderts.

Friedrich Schorlemmer hat in einer Debatte Politik als Gestaltung umschrieben, wenn die nicht mehr möglich sei, könne man dem Arbeitgeberlager in Gestalt von Hundt und Henkel den Bettel auch gleich übergeben. Was wollen Sie also tun, wenn jede Art von Veränderung mit faktischer Blockade beantwortet wird?

Das, was sich in der Blockade der Neuausrichtung von Politik zeigt, belegt nur, wie kurzsichtig viele Wirtschaftsverbände agieren. Wenn man nämlich überhaupt will, daß sich eine sozial und ökologisch ausgerichtete marktwirtschaftliche Ordnung stabilisiert, dann geht das nur als Orientierung am Gemeinwohl. Es gibt keine marktwirtschaftliche Ordnung ohne ökologische, soziale und damit demokratische Grundlage. Die zu garantieren, muß die Politik auch im Konflikt durchhalten. Ich habe, das will ich nicht verhehlen, auch Fragen dazu, in welchem Umfang unter den veränderten globalen Bedingungen gestaltende Politik noch möglich ist. Aber die kann man nicht abstrakt beantworten, man muß sie erproben. Besonders kritisch erscheinen mir die Bedingungen, unter denen sich die Erosion der räumlichen Ordnung vollzieht, sprich: der nationalstaatlichen Ordnung, an die die Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik, also alles, was mit Geld und Macht zu tun hat, gebunden ist. Und zum anderen, alles, was geschieht, steht unter einem »Diktat der kurzen Fristen«, also knapp bemessener Verwertungszwänge. Jede längerfristige ökologische oder auch soziale Umbaupolitik wird dadurch erschwert. Aber gerade weil die Rahmenbedingungen so sind, muß in der Praxis der Spielraum ausgelotet und erweitert werden. Ohne eine solche Politik würde es nicht nur ein Scheitern in den Sozial- und Umweltbereichen geben, sondern auch in der längerfristigen Stabilität; die Krisen kämen weit stärker zurück.

Wo muß denn der Politik»verbraucher« in den kommenden Jahren suchen, wenn er auf sozial orientierte Politik stoßen will?

Das ist eine Frage, die nicht auf die Sozialdemokratie verkürzt werden kann. Aber zweifellos haben Sozialdemokraten eine besondere Verantwortung. Wir sollten uns nichts vormachen: Vieles von dem, was sich in den letzten Jahren herausgebildet hat, verlangt ein neues Denken; aber auch die verlorengegangene Fähigkeit zur Analyse. Das, was zum Beispiel Karl Marx im Kommunistischen Manifest beschrieben hat, wird in vielen Punkten heute durch die Wirklichkeit bestätigt. Wichtiger aber ist, welche Konsequenzen man daraus zieht. Es ist durchaus richtig, sich auf einige strategische Fragen zu konzentrieren. Vielleicht ist das Bündnis für Arbeit die Chance, Ökonomie und Sozialpolitik neu zu bestimmen, und zwar so, daß daraus ein reformpolitischer Ansatz für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wird und nicht nur einer, der Interessen bündelt, wo der gemeinsame Nenner liegt.

Heißt das, der soziale Ansatz ist nicht mehr opportun, man ist dringend gefordert, ganz andere Ansätze zu finden?

Aus meinem Blickwinkel kommt die soziale Frage, die übrigens nie weg war, mit neuer Schärfe zurück. Sie wird eine Neubelebung erfahren, entstanden durch Verunsicherungen und Erschütterungen im Gefolge von Globalisierung. Wie wir die soziale Frage beantworten, wird überlebenswichtig sein, aber nicht in dem Sinne, daß Sozialpolitik zur Restgröße von ökonomischen Entscheidungen wird, sondern als Gestaltungselement zur Schaffung eines neuen Gesellschaftsvertrages.

Wer wird das durchsetzen, wenn die Protagonisten eines solchen Kurses ausgebremst werden?

Das ist eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Was beispielsweise bedeutet, daß Gewerkschaft nicht nur mit dem Rücken an der Wand gegen weitere Abbaumaßnahmen kämpfen, sondern stärker als bisher politisch mitgestalten muß; daß Umweltgruppen sich nicht auf die Vertretung ökologischer Fragen reduzieren können, sondern gesellschaftliche Konzepte mit vertreten müssen.

Werden sich Parteien in Zukunft nur noch als Anlaufbahnen für politische Karrieren empfehlen, die man nach dem Machtgewinn als Klotz am Bein empfindet und abstreift?

Das wäre schlimm, denn es ist eine Zeit, in der die Rückkehr des Politischen dringend geboten ist. Ich sehe dafür in vielen Organisationen und Bereichen auch hoffnungsvolle Tendenzen. Richtig ist, wir leben in einer Phase von Ambivalenz. Fortschritt und Rückschritt, wie Theodor Adorno sie als Wesensmerkmale des Spätkapitalismus herausgearbeitet hat, liegen eng nebeneinander. Fortschritt braucht den politischen Akteur und Reformparteien. Ohne Perpektive würde sich die SPD aufgeben.

Was muß Gerhard Schröder tun, um die zwei Flügel der SPD zu überzeugen und hinter sich zu bringen?

Er wird eine andere Rolle als bisher übernehmen. Er braucht die Gesamtheit der Partei und alle ihre Positionen. Ich bin da gar nicht pessimistisch.

Oskar Lafontaine beschreibt in seiner Erklärung mindestens für die Regierungsarbeit einen Mangel an Solidarität und Gemeinsamkeit. Wie verträgt sich das mit ihrer Prognose?

Ich glaube nicht, daß eine Verlängerung der alten Konzepte auch nur ansatzweise zu Lösungen oder auch nur zur Entspannung der Situation auf dem Arbeitsmarkt führen kann. Umso entscheidender ist die Frage, ob es zu einer Reform-Radikalisierung von Politik kommt. Wenn wir dazu beitragen, daß diese Debatte nicht von dem Deutungsmuster von gestern monopolisiert wird, dann sehe ich durchaus eine Chance. Es darf nicht sein, daß viele schnell einknicken, nur weil Interessenvertreter, die uns in diese Misere geführt haben, weiter die Interpretation politischer Prozesse vorgeben. Da müssen wir energischer gegenhalten.

Diejenigen, die die »Deutungsmuster von gestern« bestimmen, sind die, die den Frontalangriff auf die bisherige Koalitionspolitik vortragen und mit hochschnellenden Börsenkursen ihren Sieg feiern ...

Sie sind aber nicht der Maßstab. Der wird dadurch bestimmt, ob wir in der Lage sind, die sozialen Netze zu erhalten und den Abbau der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Ich glaube im übrigen nicht, daß die Gesellschaft heute weniger solidarisch ist. Die Formen sind verändert. Solidarität war früher sehr viel mehr schichten-, und klassenspezifisch ausgeprägt, heute ist sie eher organisch. Sie wächst auf anderen Voraussetzungen, wird aber weniger abgerufen.

Sie sehen Lafontaines Rücktritt nicht als vorläufiges Ende eines linken Veränderungskonzepts?

Einige Positionen sind sicher schwerer durchzusetzen, zumal sich die Verhältnisse neu bestimmen. Das streite ich nicht ab. Aber ich sehe keine Zwangsläufigkeit von Entwicklungen in eine bestimmte Richtung. Gerade jetzt gibt es einen Druck, sich neu zu legitimieren und damit deutlich zu machen, daß man den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit umfassend berücksichtigen wird. Das gleiche gilt für die Umweltpolitik. Auch da sind Sozialdemokraten viel stärker verankert als andere Parteien zugeben. Es wird keine Arbeitsteilung geben, in der die SPD nur für Wirtschaft und Soziales verantwortlich ist und die Ökologie anderen überlassen bleibt, auch nicht, wenn das der Koalitionspartner ist.

Ist der Weg für amerikanische Politikverhältnisse frei? Wird künftig der Wechsel einer Regierung weniger mit einem Programm, mit anderen Inhalten, dafür mehr mit anderer Methodik zu tun haben?

Daß es in den politischen Auseinandersetzungen auch eine Übernahme amerikanischer Politikelemente gibt, bestreitet niemand. Ich weiß nicht, ob man das in einer Mediengesellschaft verhindern kann. Aber wichtiger scheint mir zu sein, daß gerade die CDU und vor allem die CSU sich zu rechtsnationalistischen Parteien entwickeln und programmatische Unterschiede eher größer und sichtbarer werden, denn die automatische Bindung des konservativen Lagers über die Macht in Bonn und Berlin geht nicht mehr. Die Unterschiede sind da: Bei allen Fehlern und Problemen, wir sind dabei, den Praxistest erfolgreich zu bestehen. Das Steuerreformpaket wird nicht wieder aufgeschnürt.

Das Gespräch führte Regina General

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