Spiegel der Literatur

Zeitschrift Wahrhafte Lektüre für wahrhafte Leser: Erhard Schütz über das "Schreibheft", das dieses Jahr vierzig wird
Ausgabe 21/2017

In einer Zeit, in der vor lauter Schreiben kaum einer Zeit zum Lesen des Selbstgeschriebenen hat, geschweige denn für das der anderen, ist das Schreibheft eine herbe Herausforderung. Zweimal im Jahr kommt es äußerst kompakt mit anspruchsvoller Lektüre daher. Dass sein Titel anderes suggerieren mag, kommt daher, dass es, als es vor 40 Jahren erstmals in Essen erschien, aus einem VHS-Kurs zum Selberschreiben hervorgegangen war. Ab Heft 4 kam Norbert Wehr hinzu. Sukzessive erweiterte sich das Spektrum über Lokal- und Regionalfabrikate hinaus. Afrikanische Literatur, Peter Weiss, aber auch seinerzeit „aktivistische“ Autoren wie Peter-Paul Zahl oder Michael Buselmeier. Wiederentdeckungen wie Djuna Barnes oder Ernst Weiß.

Im Heft 21 („Weibliche Ästhetik“) polemisierte Gert Mattenklott 1983 gegen die Selbsterfahrungs-Schreibbewegung. Spätestens da verabschiedete sich das Schreibheft vom Gutgemeinten und Selbstbesorgten. Der 1998 bei Zweitausendeins erschienene Nachdruck begann denn auch mit Heft 22 und endete mit Heft 50. Das Schreibheft war da längst für Entdeckungen und Wiederentdeckungen gut. Herausgeber Norbert Wehr, Jahrgang 1956, wurde in all den Jahren für sein Geschick und seine Zähigkeit bei der Akquise der nötigen Finanzen bewundert. Es ist schier unglaublich, dass die Zeitschrift, die vom Verkaufserlös nie hätte bestehen können, noch immer existiert. Noch höher zu rühmen ist Wehrs Gespür, die Raffinesse bei der Zusammenstellung der Texte. So nehmen die einzelnen Hefte zwar immer wieder gewisse Leitmotive auf – Figuren der klassischen Moderne und, man muss es wohl so nennen, klassisch gewordenen Postmoderne –, aber sie sind doch vor allem je für sich raffinierte Spiegelkabinette dessen, was emphatisch Literatur genannt zu werden verdient (also nichts für Neuneuköllner und Urlaubskrimileser).

Man kann das sehr schön am jüngsten Heft erkennen. Da gibt es hinten ein Dossier zu „couragierten“ französischen Autorinnen und Autoren, die hierzulande völlig unbekannt sind, Philippe Beck, Sylvie Kandé, die als Afrikanistin in New York lebt, oder Dominique Quélen, womit der Schwerpunkt eines früheren Heftes („Außer sich die Poesie“) aufgenommen wird. Deren vitales Engagement kontrastiert mit der konstruktivistisch-enigmatischen Oulipo-Spielerei von Frédéric Forte. Worauf ein Romanfragment des 2016 verstorbenen Bochumer Autors Wolfgang Welt, Jahrgang 1952 folgt, ergänzt von Texten Peter Handkes und Frank Witzels, sowie Briefen an Siegfried Unseld und Hermann Lenz. Hier setzt Wehr, der selbst den Literaturpreis Ruhr bekam, Welt, der ihn nie bekam, ein gebührendes Epitaph. Welt ist einer der Musikkenner und -katalogisierer, die man unter Pop-Literatur rubrifiziert. Seinen Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe von 1981 sollte man gelesen haben.

Harte Fügung

Dann folgt, auf den ersten Blick in härtester Fügung, ein großer Unbekannter der amerikanischen Literatur. Charles Reznikoff (1894 – 1976) ist eine Figur wie Melvilles Bartleby, in seiner Lyrik nahe an E. E. Cummings. Er hat in seinem großen Zyklus Testimony Zeugenaussagen vor Gericht aus den Jahren 1885 bis 1915 zu lyrischen Szenen verarbeitet, völlig kommentarfrei rhythmisiert, lakonisch, von unterkühltester Sachlichkeit.

Die Auswahl präsentiert mal knappe, mal quälend längere Zeugnisse von Kinderarbeit und Kindsmord, Lynchmord, Vergewaltigung, Maschinengewalt und Ausbeutung – Ungeheuerlichkeiten aus dem Alltag, die sich ins Gedächtnis einätzen. Wenige Zeitgenossen haben die literarische wie gesellschaftliche Brisanz dieses Autors wahrgenommen. Einer derer war T. S. Eliot. Und von dem nun folgt ein Konvolut an Texten zu Kriminalromanen, von Wilkie Collins bis Arthur Conan Doyle, S. S. Van Dine bis G. K. Chesterton. Allesamt längst Klassiker des Genres. Äußerst kundig reflektiert Eliot die beginnende Mode, definiert Krimi gegen Thriller und „Fieses“, gibt Qualitätskriterien an die Hand und hält schöne Sottisen bereit. Dem folgt eine Eloge von Friedrich Ani, die freilich eher eine Zusammenfassung schönster Stellen denn etwas nennenswert Neues ist. Aber auch das gehört dazu.

Info

Schreibheft. Zeitschrift für Literatur-Heft 88 13 €,Vier-Hefte-Abo: 36 €

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