Gell ich hab dich gelle gern. Gelle ich dich auch. Gelle, wenn du lachen tust, gell dann lach ich auch« singt man im rheinischen Karneval zwischen Köln und Düsseldorf gern laut und selig. Vielleicht hat Martin Walser seine neueste Romanheldin deshalb Susi Gern getauft. Denn ungefähr so naiv wie der volkstümliche Reim stellt sich Susi Liebe und Glück vor. In seinem neunzehnten Roman Der Lebenslauf der Liebe schildert der 1927 im deutschen Wasserburg geborene Schriftsteller, der bis heute in seiner Provinzheimat am Bodensee lebt, das ganz normale Unglück der Liebe. Eigentlich will die Tochter aus kleinbürgerlichem Essener Hause einen Mann für sich oder keinen. Doch sie bekommt den ehrgeizigen Edmund A. Gern. Der es vom Referendar der Ruhrkohle zum
der Ruhrkohle zum gefragten Wirtschaftsanwalt, schließlich zum global broker bringt. Walser führt noch einmal in die Zeit ganz kurz vor dem allgemeinen Werteverfall, in der noch nicht der gemeinsame Besuch in Swinger-Clubs auf der Tagesordnung stand, an der die Generation der Vierzigjährigen von Michel Houellebecq bis Ulrich Woelk heute so leidet. »Such dir jemand« sagt Edmund zu der spießigen Monogamistin Susi, als sie den sexuellen Appetit und die frivolen Leidenschaften des promisken Rudelbumsers nicht befriedigen kann und will. Eigentlich, so gesteht sie ihrer Putzfrau Ottilie Oschatz in einem ehrlichen Moment: »Liebe hieß bei mir immer Für immer«. Doch die Liebe, zu der sie Edmund zwingt, sieht anders aus: Eine Kette von kostspieligen Liebhabern, die sie über Annoncen findet oder auf der Straße aufliest, zum Schluss mit Restaurants oder Eigentumswohnungen abfindet. Dazu kommt ein Mann, der sie mit den Worten über die jeweils aktuelle seiner Affären tröstet: »Schnucke, sie kann dir das Wasser nicht reichen.« Die Fassade wird aber noch aufrechterhalten. Edmunds Motto bleibt: »Mord ja, Scheidung nie«.Susi Gern - die Gattin eines immergeilen Düsseldorfer Finanzschurken. Die sich auf der Düsseldorfer Konsummeile Kö die Pelzmäntel grundsätzlich drei mal kauft, weil sie sich sonst nicht versorgt fühlt. Hat sich Walser da nicht in der Zeit vergriffen? Was gehen uns die hohlen Talmibürger der verblichenen deutschen Westrepublik mit ihren Hauskatzen, Londoner Krawatten und der sexuellen Doppelmoral heute noch an? Die Kulisse mag abgelegt erscheinen. Doch abgesehen von dem Bild der Metamorphose bundesdeutscher Wirtschaftsgeschichte, das in Gestalt von Edmund Gern an uns vorüberzieht - sie funktioniert. Nach seiner fahrlässigen Rede in der Frankfurter Paulskirche und dem halsstarrigen Streit mit Ignatz Bubis um die Instrumentalisierung von Auschwitz ist Walser mit seinem Roman ein veritabler, ein außergewöhnlich beweglicher Sprung zurück in die Literatur geglückt. Während die einst antibürgerlichen Grünen in Deutschland die früher verteufelte Familie entdecken, lernt die deklassierte Bürgerliche Susi plötzlich den »Zwangsverband Familie« und die Schimäre der »Glücklichen Ehe« hassen. Aushöhlung einer bürgerlichen Keimzelle samt ihrer Bindemittel. Nicht nur der Sündenfall 1968, wie Houellebecq beklagt, sondern: Geld fressen Familie auf. Die behinderte, lethargische Tochter Conny, der Sohn Andreas, der früh Mamis Pelzjäckchen verhökert, dann wie der Vater halbkrimineller Broker wird, schließlich als Zuhälter scheitert und nach Südamerika türmt.In der Interview-Serie zum Erscheinen seines neuesten Romans rühmt Walser die 15 Jahre Vorarbeit und Recherche, die in seinem neuen Werk stecken. Damit will er das wieder einmal voluminös ausgefallene Projekt gegen Kritik immunisieren. Doch die vorsorgliche Einschüchterungskulisse wäre nicht nötig gewesen. Dass er sich seit seinen literarischen Anfängen vom Vorbild der Parabelästhetik Franz Kafkas gelöst hat, glaubt man bei dem emotionalen und materiellen Sturzbach Susi Gerns, den er auf über 500 Seiten nur mühsam kanalisiert, auf Anhieb. Und doch macht dieser nicht enden wollende Strudel aus Barcelona-Möbeln, Vicuna-Mänteln, Straußenlederschuhen und schließlich: Windeln einen Sinn. Die Detailversessenheit, mit der er den Aufstieg und Niedergang seiner Heldin möbliert, ist dem Dingfetischismus eines Bürgertums geschuldet, das Leben und Tod nur in Ware ausdrücken kann. Am liebsten möchte Susi in ihrem dunkelroten Porsche beerdigt werden. Bis zu Edmunds Tod am Tag der Zwangsräumung aus dem Penthaus faselt der nach seinem Bankrott zum sabbernden und pissenden Greis verkommene Möchtegern-George-Soros von dem grünen Bentley, den er sich von den herbeiphantasierten Rettungsmillionen kaufen will. Mitunter geraten Walser Edmund und seine Schnucke da zu debilen Schießbudenfiguren. Auch dass sich Susi danach nur mit Bettelbriefen an ihre reichen Freunde über Wasser halten will, anstatt wenigstens versuchsweise einmal zu arbeiten, um ihren Katzen weiter Vitaminbonbons kaufen zu können, will einem abenteuerlich vorkommen. Doch subtil fühlt er sich in die schwierige Frauenperspektive ein. Die wird selbst dann nicht peinlich, wenn sich die wieder einmal alleingelassene Susi selbst befriedigt und eines Tages erschreckt ihre erste kahle Stelle im Schamhaar entdeckt. Was Walser schon in den früheren Seelenschilderungen der deutschen Kleinbürger perfekt beherrschte, gelingt ihm jetzt auch für das großbürgerliche Ambiente. Es gibt kaum einen deutschen Schriftsteller mit diesem Blick für das Gewöhnliche und den Durchschnitt. Und kaum einen, der so erbarmungslos das unheroische Drama des Alltags schildern kann, in dessen ganz gemeinen, liebes- und lebensverhindernden Schlingen sich Susi verfängt. Die ist das Gegenbild der Emanzipation: ein naives, biederes Dummchen, das keine Bücher lesen kann. »Ihre Sehnsucht: einem Mann so zustimmen zu können, dass nur noch dieser Mann übrig blieb. Am liebsten ginge sie auf in einem anderen.« Trotzdem wächst einem dieses getriebene High-Society-Häschen deshalb ans Herz, weil Walser nie die Loyalität zu seiner Hauptfigur verliert. Immer ist es der Erzähler, der schildert, wie Susi sich im Salon Palatini zwei Bällchen Nusseis holt, ihre geliebten Papierservietten »in lichtestem Blau« kauft oder sich im Auto mit Frank Sinatra oder Dionne Warwick high macht. Doch man meint ihr Aufgehen in den billigen Glücksmomenten oder ihre immer panischeren Psychospiralen direkt hinter Susis Augenlidern mitzuverfolgen. Walser gelingen hinreißende Selbstgespräche und blendende Dialoge, wie rhetorische Salven geschossen. Für diese Fähigkeiten sieht man dem unermüdlichen Chronisten der Entleerung der bürgerlichen Seele manche überflüssige Geschwätzigkeit und überbordende Stofffülle nach.Als achtundsechzigjährige, völlig mittellose Witwe lässt Susi im Drogeriemarkt auch schon mal ihre Augenfältchencreme ohne Bezahlung mitgehen. Die braucht sie für ihre späte Liebe zu dem achtunddreißig Jahre jüngeren Marokkaner Khalil, den erst ihre Tochter Conny kennenlernt und den dann aber sie schließlich heiratet. Diese Liebe kommt Susi Gern im Grunde unmöglich vor. Und auch Khalil lässt sie ständig allein, wie damals Edmund. Sie erträgt seine Schweigsamkeit nicht, wagt aber auch nicht, ihn herauszufordern. Panisch steigert sie sich in den Gedanken von einer baldigen Trennung, schürt bei jeder Verspätung des Muslimen ihr Misstrauen: Angst essen Liebe auf. Mit seinem bürgerlichen und psychologischen Realismus, den er gelegentlich zur Farce steigert, spürt Walser der Auflösung eines bürgerlichen Instituts nach. Und dem fesselnd langsamen Wachsen dessen, was er in einem Interview einmal den »Verfehlensschmerz« genannt hat. Der einen überfällt, wenn man merkt, dass der Strom des Lebens einen unwiderruflich an der Insel des idealen Entwurfs vorbeigeschwemmt hat. Eben das »Unglücksglück«, das jeder spürt, der atemlos dem nachjagt, was die amerikanische Verfassung zum Bürgerrecht erhoben hat: »the pursuit of happiness«.Martin Walser: Der Lebenslauf der Liebe. Roman. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2001, 525 S., 49,80 DM
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