"Die meisten Musiker sind Schwachköpfe, sagt mein Freund Thomas Bernhard". Mit dieser Feststellung nahm ein angetrunkener älterer Herr am Tisch Platz, der Stammgast aller Ausstellungseröffnungen in der Galerie ist.
Beim letzten Mal hatte er "seinen Freund" Heiner Müller zitiert, um eine Dichterlesung abzuwerten. Diesmal kommentierte er den bevorstehenden Auftritt eines jungen Cellisten, der sich bereiterklärt hatte, zur Eröffnung eine Sonate von György Ligeti zu spielen. Der merkwürdige Mensch sprach seinen Satz in Richtung einer freundlichen älteren Dame, die ebenfalls häufig zu den Vernissagen kam. Als wir drei beim letzten Mal an diesem Tisch vor dem Eingang zur Galerie zusammengesessen hatten, hatte sie sich sogar als Cellistin vorgestellt. "Ja, so kann man sagen", die Dame war nachsichtig genug, die grobe Bemerkung freundlich aufzugreifen, "ja, Musiker seien hin und wieder etwas eindimensional, immer mit der Vervollkommnung ihrer Virtuosität beschäftigt. Und Thomas Bernhard sei ja ein sehr interessanter Autor gewesen, aber sei er nicht schon geraume Zeit tot? "Ja, ja" antwortete der merkwürdige Mensch, "aber kurz zuvor habe ich ihn kennen gelernt".
Nun musste man die Galerie aufsuchen, da dort die Ausstellung mit einer Rede eröffnet wurde. Sie war kaum zu Ende, da floh ich vor der überwältigenden Hitze wieder nach draußen an den Tisch, wo sich bereits andere Flüchtlinge eingefunden hatten, und hörte von ferne auf den musikalischen Teil. Das Cello war nur für ein paar Takte erklungen, als auch schon der Tischgenosse herauskam. Seufzend setzte er sich und stieß die Worte hervor: "Also, das tue ich mir nicht an." Noch blickten alle verständnisvoll, weil sie glaubten, er rede von den Temperaturen. Er jedoch fuhr mit Pathos fort:"Nein, nein, auch Stümpereien müssen sauber gearbeitet sein."
Ich mied seinen Blick, weil ich fand, dass Gemurmel von draußen die Darbietung drinnen unziemlich störe. Aber er verzog das Gesicht, als plagte ihn ein Zahnschmerz, zelebrierte eine Art von symbolischen Händeringen und ächzte zum Steinerweichen. "Furchtbar, das ist ja schrecklich". Dabei blickte er lauernd in die Runde. Eine Tischgenossin ging ihm auf den Leim, widersprach zu seiner Freude und fragte: "Können Sie´s besser?" Triumphierend hob er die Stimme weiter an und erklärte der Stichwortgeberin, dass es darum nicht gehe. Er kenne sich aber in Musik aus und überhaupt müsse man nicht selbst Musiker sein, um die Kompetenz zu besitzen, ihre Wiedergabe zu beurteilen. Ich bat um Ruhe. Für eine halbe Minute sank er in sich zusammen. Dann straffte sich sein Körper wieder, sein Gesicht drückte eine Mischung aus intensivem Lauschen und wiedergewonnener Zuversicht aus. Jetzt, ja jetzt, das sei gut. Jetzt könne auch er zustimmen. Das sei gekonnt, jetzt habe sich der Interpret "gefangen". Diesmal reichte ihm eine andere Dame am Tisch die Schüssel mit den Erdnüssen. Aber mit "Peanuts" war dem Großmeister der Kritik der Mund nicht zu stopfen.
Da ich nicht mehr zuhören konnte, irrten meine Gedanken ab: Als der loyale Jagdhund aus dem Nachbarladen an unseren Tisch kam, fiel mir ein, dass ein Hundebiss etwas sehr Nachdrücklich-Disziplinierendes haben könnte. Als ein Motorradfahrer auf dem Fußweg in unsere Richtung rollte, fragte ich mich, welche Wirkung es hätte, wenn er die Bank, auf dem der Schwadroneur saß, streifte und umkippte. Als ich sah, wie er sein Weinglas an den Mund hob, dachte ich darüber nach, welche Gifte man eigentlich in Rotwein auflösen kann ... Ich wurde ganz plötzlich in meinen Vorstellungen unterbrochen, da sich der alte Herr nun verabschiedete und unsicheren Schrittes zur Straßenbahnhaltestelle ging.
Meine Phantasie zur Ordnung rufend, fragte ich nach, wer dieser anstrengende Dauergast sei. Es war ein, dem Namen nach auch mir nicht fremder, Übersetzer russischer Literatur ins Deutsche. Wahrscheinlich kannte er wirklich den Thomas Bernhard, ganz sicher den Heiner Müller. Das ganze Leid des Übersetzerdaseins, dieser Fluch, wenig gewürdigt und schlecht bezahlt, kreativ im Dienste eines anderen Kreativen zu sein, hatte ihn wahrscheinlich den Trost des Rotweines suchen lassen. Und so hatte er wohl den Hang entwickelt, wenigstens beim gnadenlos-kritischen Herumätzen das zu inszenieren, was er für die Qualität seiner Originale hielt.
Auch ich hatte mich auf den Weg gemacht und ihn, der nur langsam vorankam, nahezu eingeholt, als der soziale Anteil in mir begann eine Art von Reuefantasien auszubrüten ..., wie dieser Thomas Bernhard da vor mir in seinem Suff auf die Fahrbahn treten, wie er die herannahende Straßenbahn vernachlässigen und wie ich - alkoholfrei und umsichtig - ihn im letzten Moment zurückreißen würde.
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