Unverdiente Intimität

FOTOGRAFIE Richard Avedon, der erste Preisträger des "Berlin Photography Prize", über die Eigentümlichkeit seines Berufs

Sein Freund und Rivale Irving Penn hat ihn einmal den zuverlässigsten Seismographen der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft genannt. Seit sechs Jahrzehnten arbeitet er in fast allen fotografischen Disziplinen, hat die Modefotografie revolutioniert und Ikonen der Porträtfotografie geschaffen, hat in den Sechzigern die Bürgerrechtsbewegung dokumentiert und Reportagen über psychiatrische Anstalten gemacht. Nur Stilleben und Landschaften haben Richard Avedon bisher nicht inspiriert: "Mit einem Baum kann ich nicht reden." Als er vergangenen Freitag als erster Preisträger den Berlin Photography Prize entgegen nahm, brachte er Fotos aus zwei seiner wichtigsten Zyklen mit, die Teil der Dauerausstellung des Deutschen Centrums für Photographie werden sollen: Porträts von Wander- und Minenarbeitern aus In the American West sowie die Fotoserie, in der er das Sterben seines Vaters Jacob Israel Avedon dokumentiert hat.

FREITAG: Ich fand es sehr bewegend, wie Sie die Fotos Ihres Vaters, die einst zu ihren umstrittensten gehörten, in der Retrospektive "Evidence", die 1994 in New York und Köln zu sehen war, arrangiert haben: Man betrat diesen Teil der Ausstellung wie einen Schrein.

Richard Avedon: Das war eine exakte Kopie der Ausstellung, die ich 1974, gleich nach seinem Tod, für das Museum of Modern Art eingerichtet habe. Es stimmt, dass viele Kritiker damals verstört waren - sie konnten sich offenbar nicht vorstellen, dass das Fotografieren auch ein Akt der Anteilnahme sein kann. Mittlerweile zählt man sie zu meinen besten Fotos. Tiefer habe ich mich wahrscheinlich nie mit einem Thema beschäftigt. Mein Vater ist mein einziges Gegenüber, das ich über einen Zeitraum von mehreren Jahren betrachtet habe.

Worin besteht für Sie das Erbe Ihres Vaters?

Das Leben war für ihn ein fortwährender Kampf. Er hatte eine harte Kindheit, er wuchs in einem Waisenhaus auf. Sein Vater hatte die Familie verlassen, nachdem sie aus Russland eingewandert war. Diese Existenzängste hat er an uns Kinder weitergegeben. Mir hat er dabei ein starkes Verantwortungsgefühl vermittelt. Seit meiner Kindheit, während der Depression, spüre ich die Verpflichtung, meine Familie zu ernähren und zu beschützen. Mein Vater hätte es gern gesehen, wenn ich Geschäftsmann geworden wäre. Aber auch als Künstler hätte ich nie eine Bohème-Existenz führen können: Es war für mich immer selbstverständlich, dass ich auch kommerzielle Aufträge übernehmen muss. Mit den Fotos, die ich ausstelle oder in Büchern veröffentliche, könnte ich mein Studio nicht mal einen Monat finanzieren.

Sie sind als Modefotograf berühmt geworden, weil Sie Modelle erstmals in realer Umgebung, auf den Strassen aufgenommen haben. Wollten Sie überprüfen, ob die Mode die Probe des Alltäglichen besteht?

Nein, zur Mode hatte ich von Kindheit an einen ganz selbstverständlichen Bezug. Diese Erfahrungen konnte ich bei Harper's Bazaar durchaus einbringen, bei Vogue später dann schon nicht mehr. Mein Vater hatte ein Geschäft für Damenkleidung. Zugleich bin ich in einem Frauenhaushalt aufgewachsen. Wie ein Spion aus einem anderen Land habe ich meine Mutter, meine Schwestern und meine ältere Cousine beobachtet. Ich bekam hautnah mit, was für Mühen sie auf sich nahmen, um den Männern zu gefallen, wie wichtig es ihnen war, schön zu sein, mit einem bestimmten Hut, einer Frisur oder einem Lippenstift Eindruck zu machen. Die Anspannung, mit der sie ihre Auftritte vorbereiteten, war für mich geheimnisvoll und verlockend. Ich habe große Bewunderung für die Tapferkeit entwickelt, mit der sie sich den prüfenden Blicken gestellt haben. Ganz bewusst habe ich in meiner Autobiografie eine Modeaufnahme einem Foto meines Vaters gegenüber gestellt.

Was hat Sie stärker inspiriert: die Modelle oder der Stil eines bestimmten Designers, etwa Christian Diors "New Look"?

Dior war in der Nachkriegszeit interessant, weil er eine Aufbruchsstimmung repräsentierte. Aber das Temperament und die Persönlichkeit eines Modells waren viel wichtiger für mich. Die Mode ist gleichwohl ein interessantes Terrain, um Menschen, ihre Eigenheiten und Vorlieben zu untersuchen. Seit Anbeginn der Geschichte ist sie eine Metapher der Selbstdarstellung: das erste Feigenblatt wurde nicht grundlos getragen, und das zweite war vielleicht schon viel schöner. In China und Ägypten befinden wir uns bereits in Hochkulturen der Mode. Seither haben sich fast alle Maler mit dem Thema beschäftigt, schauen Sie sich Goya, Dürer, Whistler oder die Odalisken von Matisse an. In einem Gedicht hat T.S. Eliot eine perfekte Beschreibung der Mode geliefert: "Wir bereiten uns ein Gesicht, um den Gesichtern zu begegnen, denen wir begegnen." Leider haben sich bisher nur wenige Intellektuelle damit auseinandergesetzt, wie aufschlussreich die Oberfläche ist. Als Fotograf habe ich jedoch gelernt, dass man sie nur auf die richtige Weise manipulieren muss, damit sie einem alles enthüllt.

Heute sind Ihre Modefotos Relikte geworden, deren ursprüngliche Funktion zurücktritt, und die nun Zeitbilder sind.

Sicher, weil sich seither Geschmack und Verhaltensmuster verändert haben. Für mich sind das nun Artefakte meiner persönlichen Geschichte. Mit 21 habe ich die Welt ganz anders gesehen als mit 40 oder 60; ich nehme heute andere Bedeutungsschichten des Lebens wahr. Ich bin nicht mehr der unschuldige, romantische Fotograf von damals. Dessen Bilder kommen mir wie die eines Anderen vor. Ich erinnere mich nicht mehr, weshalb ich damals unbedingt dieses Modell zusammen mit den Elefanten im Pariser Cirque d'hiver aufnehmen wollte, oder was mich bewog, einen Bienenzüchter zu fotografieren, dessen Oberkörper ganz mit Bienen bedeckt war.

Dennoch ist mir inzwischen klar, dass diese Bilder sehr viel mit Isolation zu tun haben. Bei den Modefotos ist es die Isolation der Schönen: die meisten Menschen sehen nicht so aus wie die Modelle, die ich in den Fünfzigern für Harper's Bazaar aufgenommen habe. Meine Schwester, die eine außergewöhnliche Schönheit war, ist daran zerbrochen. Auch auf den Fotos vom Silvesterabend 1989 am Brandenburger Tor spüren Sie diese Isolation. Sie ist vor allem ein wichtiges Thema in meinen Künstlerporträts. Deshalb sind mir die Bilder meiner Heroen Samuel Beckett und Francis Bacon so wichtig: Ihre Arbeit scheint sie aus der Isolation zu befreien, aber ihre Sichtweise bleibt von dieser Grunderfahrung bestimmt.

Ihre Porträts erwecken den Eindruck großer, auch verstörender Intimität. Liegt den Sitzungen so etwas wie Pakt, ein Vertrag zwischen Ihnen und dem Porträtierten zugrunde?

Es ist eine Zusammenarbeit. Als Fotograf kann ich mich, im Gegensatz zu einem Maler, nicht ohne die Kooperation des Porträtierten ausdrücken. Das ist eine chemische Reaktion, bei der mich seine Wünsche ebenso beeinflussen wie ihn meine. Auch wenn jemand etwas verbergen will, nur auf eine bestimmte Weise gesehen werden will, ist das für mich interessant: Das wird dann das Foto eines Menschen, der ein falsches Gesicht aufsetzt, sein Narzissmus wird sichtbar. Man erkennt aber auch sofort, wenn sich jemand der Kamera rückhaltlos ausgeliefert hat.

Wie wichtig ist Vertrauen bei den Sitzungen?

Meine Arbeit ist bekannt. Die Leute, die für mich posieren, wissen, dass sie ein Künstler auf eine bestimmte Weise sehen wird. Bei Bacon oder Lucian Freud würde sich auch niemand fragen, ob er ihnen vertrauen kann. Niemand wurde je von einem Foto getötet oder verletzt. Auf Eitelkeit oder Narzissmus muss man keine Rücksicht nehmen, die basieren ohnehin nur auf Vorstellungen, die uns Hollywood oder die Modewelt aufgezwungen haben. Als ich das Foto von Henry Kissinger machte, bat er mich: "Gehen Sie freundlich mit mir um." Aber Freundlichkeit hat nichts mit Kunst zu tun. Ich finde die Vorstellung geradezu beleidigend. Von einem Künstler erwartet man doch nicht, dass er nett und rücksichtsvoll ist, sondern dass er sich ausdrückt, etwas über das menschliche Dasein aussagt.

Verdankt sich die Intimität auch der Tatsache, dass Sie nicht hinter, sondern neben der Kamera stehen?

Unbedingt. Wenn ich mich wie August Sander neben die Kamera stelle und sie mit der Fernbedienung auslöse, kann ich meinem Gegenüber immer genau in die Augen sehen. Ich beobachte ihn, verstricke ihn in ein Gespräch, der Rest der Welt wird ausgeblendet. Die emotionale Verbindung ist viel stärker als bei der Rolleiflex, die meine Augen verdeckt. Die eignet sich nur für Fotojournalismus und Reportagen, bei denen die Leute nicht bemerken, dass sie fotografiert werden.

Gab es Gegenüber, die Sie eingeschüchtert haben?

Als ich jung war, schüchterte mich jeder ein. Die Kamera war für mich die einzige Rechtfertigung, mit Berühmtheiten in Kontakt zu treten. Ich hätte nie gewagt anzunehmen, dass diese Vertraulichkeit auf mehr als dem Foto beruht, das ich von ihnen machen soll. Es ist eine unverdiente Intimität, ganz ähnlich wie bei unserem Interview: Heute beantworte ich bereitwillig jede Frage, denn uns haben bestimmte Absichten zusammengeführt. Aber wenn wir uns morgen begegnen sollten, würden wir uns sicher nur höflich grüßen.

Diese Schüchternheit und Angst begreife ich im Nachhinein als etwas sehr Notwendiges. Mein Herz raste ja auch wegen der einmaligen Herausforderung, diesen entscheidenden Moment der Vertrautheit herzustellen. Ein Fotograf hat wie ein Spitzensportler nur eine Chance, um einen Treffer zu landen. Nachaufnahmen gibt es nicht. Gewiss, beim Druck kann ich noch etwas verändern oder akzentuieren. Aber das Entscheidende kann nicht mehr eingeholt werden, es ist schon passiert.

Der Modefotograf ist auf den ersten Blick schwer vereinbar mit dem Fotoreporter, der in Vietnam Fotos von Napalmopfern macht.

Von einem Schriftsteller würden Sie ja auch nicht erwarten, dass er ausschließlich Romane schreibt. Sicher gibt es Künstler, die nur in einer bestimmten Ästhetik arbeiten, Robert Wilson zum Beispiel, oder Robert Frank und Cartier-Bresson, deren Stil man augenblicklich erkennt. Aber ich bin davon überzeugt, dass man sich immer wieder neu erfinden muss. Die Fotoserie In the American West beispielsweise war eine Befreiungsgeste. Ich wollte für eine gewisse Zeit den Anforderungen entfliehen, die der Betrieb meines Studios unablässig an mich stellt, und eine Klasse von Leuten fotografieren, die ich nicht kannte. Die Vietnam-Fotos entstanden aus meinem Engagement für die Anti-Kriegsbewegung. Ich habe die Leute hier auf ihren Protestmärschen und auch ins Gefängnis begleitet, um ein Gefühl für ihr Leben und Denken zu bekommen. Nach Vietnam bin ich als empörter Amerikaner gegangen, nicht, weil das die Gelegenheit zu guten, erschütternden Kriegsfotos versprach. Tatsächlich habe ich dann auch hauptsächlich Porträts mitgebracht.

Haben Sie mal erwogen, nach Bosnien zu fahren?

Ich habe es tatsächlich eine Weile überlegt. Das ist die Art von Aufträgen, die Zeitschriften einem berühmten Fotografen gern erteilen: "Fahr unbedingt dorthin, da gibt es verhungernde Kinder, das gibt eindrucksvolle Fotos!" Mir scheint das so offensichtlich, alle großen Fotografen sind da gewesen. Mich interessieren mittlerweile die inneren Reisen mehr.

Was hat Sie Silvester 1989 nach Berlin geführt?

Ich war fasziniert von den ungeheuren Umbrüchen in Ihrem Land. Das war ein einzigartiger historischer Moment, den ich festhalten wollte. Von den Brandenburger-Tor-Fotos fasziniert mich eines besonders. Der Gesichtsausdruck eines Mannes erinnert mich an die Verlorenheit von Jean-Louis Barrault in der Menge am Ende der "Kinder des Olymp".

Diese Assoziation hatte ich natürlich nicht, aber sie ist nicht abwegig. Sie bestätigt, dass man in jede Arbeit unweigerlich seine eigene Weltsicht einbringt. Diesen Abend hätte man auf ganz unterschiedliche Art erleben können. Man hätte lauter glückliche Gesichter fotografieren können. Ich spürte jedoch ein Klima der Gewalt und Gefahr, ein Gerüst mit Menschen stürzte um, überall wurden Flaschen und Feuerwerkskörper in die Menge geworfen. Es herrschten Verwirrung und Verunsicherung. Und in den Gesichtern - ich bilde mir ein, dass ich die der Ost- und Westberliner genau unterscheiden konnte - habe ich schon erste Anzeichen der Verlorenheit und Desillusionierung entdeckt. Ich glaube, darin sind die Bilder schon prophetisch, nicht wahr?

Immerhin war es eine friedliche Revolution.

Ja, das hat mich auch enorm beeindruckt. Aber glauben Sie mir, wenn Sie sich angesichts der Weltgeschichte an die Apokalypse halten, liegen Sie nie ganz falsch.

Das Gespräch führte Gerhard Midding

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