„V13“ von Emmanuel Carrère: Der Jahrhundertprozess zum Bataclan-Terroranschlag
Paris Die Gerichtsreportagen des Schriftstellers Emmanuel Carrère über den Bataclan-Prozess liegen jetzt in dem Band „V13“ vor. Das Buch wirft unangenehme Fragen über den Autor auf
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Ausgabe 44/2022
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Aktualisiert am
24.07.2023, 11:55
Mitunter klingt der Autor, als habe die Tat das Gute in der Welt vermehrt und nicht verringert
Foto: Eddie Keogh/Reuters
Freitag, der 13. November 2015: Das ist der Tag, an dem ein zehnköpfiges Terrorkommando des „Islamischen Staates“ zwischen Stade de France und dem Musikclub Bataclan ein Massaker anrichtet. Am Stadion kommen die Attentäter zu spät, um sich noch ins Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland einzuschleusen, zwei sprengen sich in die Luft und reißen einen Passanten mit in den Tod. Ihre Mitverschworenen beschießen mit Kalaschnikows verschiedene Restaurants im Zentrum, am Schluss in der Bar de Belle Epoque. 19 Personen kommen dabei ums Leben. Schließlich richten drei weitere Attentäter im Bataclan im Laufe von etwas mehr als zehn Minuten 89 Menschen hin, bevor sie von einer couragierten Streife gestellt werden und sich anschließend
nd zumindest der irdischen Gerichtsbarkeit entziehen. Alle Attentäter finden in dieser Nacht oder in den folgenden Tagen den Tod – zwischen St. Denis bei Paris und Molenbeek, einem Vorort von Brüssel.Aus der Terrorzelle überlebte einzig der knapp 20-jährige Salah Abdeslam, der am Stadion war, dessen Sprenggürtel aber nicht zündete. Er gibt vor, plötzlich von Mitgefühl erfasst worden zu sein. Der Prozess, der ihm und 13 weiteren, mehr oder weniger der indirekten Mitwirkung bezichtigten Kriminellen gilt und der in eine mehrfach unterbrochene neunmonatige Aufarbeitung münden soll, wird im Bürokratenfranzösisch schlicht nach seinem Datum benannt: V(endredì) 13. Über diesen Prozess gibt es nun ein Buch.Fünf Wochen PsychotherapieFür Emmanuel Carrère und die Zeitung L’Obs wie auch die italienische Repubblica, die aus seinen wöchentlichen Beiträgen von jeweils 7.800 Zeichen einen Podcast generierte, ist es nicht weniger als der „Prozess des Jahrhunderts“. Nach den jüngsten Ereignissen in Europa mag man sich fragen, ob die Halbwertszeit solcher Zuschreibungen hoch ist. Andererseits wird bei der Lektüre der nun zu einem Buch versammelten Beiträge deutlich, dass solche Superlative eben nicht auf das Ereignis, sondern auf seine Überhöhung – oder vielleicht müsste man sagen: Verallgemeinerung – durch das Ingenium des Autors zielen. Und genau hier wird es spannend.Carrère ist wohl neben der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux der zurzeit europaweit meistgelesene und -diskutierte französische Schriftsteller. Wilde Biografien und Tatsachenromane stehen neben einer Rekonstruktion des frühen Christentums sowie mehreren autofiktionalen Texten (zuletzt erschien in Deutschland bei Matthes&Seitz Yoga). Seine Prosa, hieß es in der Begründung für den 2021 verliehenen Premio Napoli, sprenge sämtliche Gattungsgrenzen – das stimmt, aber unterscheiden sich die Bücher trotzdem so sehr? Als Prozessbeobachter gibt er eingangs vor, er schreibe nicht im Auftrag, weder als Journalist noch als Wissenschaftler, er sei Schriftsteller, „autorisiert nur von sich selbst“.Die Selbstbefragung steht am Anfang seiner Reportage, die Frage nach dem: „Warum schreibe ich das? Warum gehe ich da hin?“ Ein wenig erinnert Carrère dann doch an BHL, Bernard-Henri Lévy, Dokumentarphilosoph im Sapeur-Outfit, der sich im bis zum Bauchnabel offenen Hemd neben kurdische Kampfschützinnen legt. Die Antwort: Das Autor-Ich möchte Gerechtigkeit erleben, vor allem aber die Verwandlung sehen, die das Ereignis bei Überlebenden und wohl auch bei den Tätern ausgelöst hat. Das kann man moralisch verbrämen, einerseits. Andererseits kann man auch daran denken, wie Elias Canetti schreibt, dass Menschen immer wieder Tiere töten, um an der Verwandlung teilzuhaben. Wer hineinschauen will in das, was im Menschen vorgeht, während er ein anderer wird – oder gar nichts mehr wird –, muss eine gewisse sadistische Ader haben. Gibt es Literatur, die zählt, ohne diesen Sadismus?Der Prozessbeobachter setzt sich also hinter das Plexiglas einer ebenso sehr ästhetischen als auch ethischen Distanz, bei der vor allem die anderen, die „dramatis personae“, die Hauptlast tragen. Dass Carrère dann in einer Folge den ersten, der Zeugenvernehmung gewidmeten Prozessmonat mit einer „fünfwöchigen Psychotherapie“ vergleicht, die die „Schönheit einer kollektiven Erzählung und die Grausamkeit eines Castings“ verstrahlt habe, sagt gewiss viel über die Welt des Films, zu der Carrère nicht erst seit seinem Debüt als Regisseur gehört. Unablässig wird Carrère, der höhere Gerichtsreporter, von der Wahrheit affiziert: vom Geruch von Blut und verbrannter Haut. Von der Zeugenaussage Aristides und seiner Freundin Alice, einer Akrobatin, die einander retten an diesem Abend und die nunmehr jeder „für sich, mit den anderen, aber nicht mehr gegen andere kämpfen“ – aber immerhin doch gegen die Unbrauchbarkeit ihrer versehrten Arme und Beine. Eine Art neuer Menschwerdung also.In manchen Passagen feiert Carrère einen Existenzialismus gegen den Konsumismus der modernen Welt, den er zwar auf der Seite der überlebenden Opfer des Massakers verortet, der aber – und das lässt einen schaudern – durchaus auf der Seite der Attentäter, nämlich ihrer Lust an unumkehrbaren Entscheidungen, zu Hause ist. Wessen Spiel, so muss man sich fragen, spielt Carrère? Der Autor macht klar, dass es an den Zeugen sei, uns zu affizieren. Ein schlechter Zeuge ist folglich, wer uns „nichts sagt“. Oder nichts, das über die reinen Fakten hinausginge.Die Buchfassung der Gerichtsreportagen – auch wenn diese Genrebezeichnung gewagt ist, da Carrère vielmehr in eine Art Gottesperspektive schlüpft, die mit der skrupulösen Suche nach der Wahrheit, wie sie den Richtern ansteht, nicht allzu viel zu tun hat –, diese Buchfassung der Zeitungstexte also enthält neben einigen Anhängen des Autors auch ein Nachwort von Grégoire Leménager, Herausgeber von L’Obs. Die Auswahl Carrères als Berichterstatter begründet er darin besonders mit dessen Expertise für Lüge, Tod und Schmerz. Tatsächlich erzählte etwa Carrères Dokumentarroman Der Widersacher den Fall eines Mannes, der sich gegenüber Freunden und Familie als erfolgreicher Mediziner darstellt, sich Geld leiht, in Wirklichkeit aber ein stellungsloser Studienabbrecher ist. Als sein Doppelleben auffliegt, will er den Seinen die Schmach der Enttäuschung ersparen, indem er sie umbringt. Der geplante Suizid indes misslingt, der Mann wird verurteilt und beginnt im Gefängnis seine Lebensgeschichte als auserwählter Sünder zu erzählen. Der Glaube „rettet“ den „Widersacher“, den Teufel – der Erzähler bleibt skeptisch.Tatsächlich hätte man sich gewünscht, Carrère würde sich ähnlich distanziert und zugleich empathisch mit Salah Abdeslam und dessen Freunden auseinandersetzen. Deren „taqiya“, ihre Verstellungskunst, die keinen Unterschied im Verhalten gegenüber anderen Muslimen und Nichtmuslimen macht, habe als Kern nicht nur den Glauben an die höhere Mission, sondern einfach an den besseren Ausweg für seinesgleichen: das Paradies mit seinen Jungfrauen. Als Verlierer, als die sie im Klassenkampf beschrieben werden könnten, sehen sie sich keineswegs. „Verlierer, das sind für sie all jene durchschnittlichen Muslime, die sich der korrupten westlichen Umgebung anzupassen versuchen.“ Die Dschihadisten haben, rastlos wie sie sich gebärden, diese Welt schon längst hinter sich gelassen – gewissermaßen eingeklammert zur reinen Verfügungsmasse. Und aus diesem Grund dürfen sie auch gegen offenkundige Verbote des Islam verstoßen. Als sei die Linie, die sie von ihren Glaubensgenossen trennt, so messerscharf, dass sie wiederum unsichtbar wird. (Für einen deutschen Leser läuft als innerer Soundtrack Wir sind ausgewandert des Rappers Denis Cuspert alias Deso Dogg alias Abu Talha al-Almani mit, auch hier haben die Ausgewanderten die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt aufgekündigt.)Es gibt im Buch jenen Moment, in dem der Glaube an die höhere Berufung, dem der „Widersacher“ erst im Gefängnis verfällt, während die Jünger des IS ihn vorweg tragen, von den Tätern auf den Autor übergreift. Oder, weil niemand von uns beim Prozess zugegen war, die Übertragung umgekehrt stattfindet. Das geschieht, als Salah Abdeslam, der einzige Verschwörer, der nicht getötet hat, der einzige, der sich entschuldigt, genauso wie sein Autor am Anfang der Reportagen gemeint hatte, sagt, die Opfer seien bessere Menschen geworden. Als habe die Tat die Menge des Guten auf der Welt nicht verringert, sondern vermehrt. Als habe man, auf eine vielleicht nicht ganz passende Weise, Gott gespielt. Einen Gott, der ebenso sehr in religiösen Weltbildern existiert wie im Selbstverständnis säkularer Gesellschaften.V13 ist also ein veritabler Carrère, und wenn er nicht eine Vielzahl früherer Bücher ebenso hätte betiteln können, so wäre „Mein Purgatorium“ der angemessene Untertitel gewesen.Placeholder infobox-1
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