A
Ausverkauf Verlässt man die bedrohlich schwankende Fähre und betritt in Venedig eine Bar, in der man entspannt Kaffee trinken möchte, lächelt der chinesische Barmann, sagt: „Wir müssen polieren“, und geht noch mal mit dem Tuch über die Fenster. Dann wischt er schwungvoll den Tresen, presst schnell den Kaffee und macht sich daran, den Fußboden zu schrubben. Addio, dolce vita.
Zurück in den Gassen, kommt man dort, wo früher die Metzger ihre Läden hatten, an Taschengeschäften vorbei. Jeder der 30 Millionen Touristen pro Jahr kauft eine Tasche, die er genauso zu Hause kriegen könnte, wahrscheinlich auch mit der Aufschrift made in Italy – und in seinem eigenen Venedig. Der Chinese etwa in Dujiangyan oder ➝ Suzhou, der Brasilianer in Recife. Aber hier, im wahren Venedig des Südens, wirkt alles dann doch noch ein bisschen echter. Maxi Leinkauf
B
Brügge Kanäle, in denen sich die mittelalterlichen Fassaden der Häuser spiegeln, unzählige Brücken, gepflasterte Gassen, alles selbstverständlich UNESCO-Weltkulturerbe: Brügge ist (wie Amsterdam, Giethoorn, Hamburg, Kopenhagen, Sankt Petersburg und Stockholm) das Venedig des Nordens. Oder des Westens? Das belgische Städtchen hat jedoch mehr mit Venedig gemein als nur das viele Wasser und die ehrwürdige Architektur. Brügge zieht Touristen in Massen an. Auf gut 115.000 Einwohner kommen drei bis vier Millionen Besucher pro Jahr. Die bestaunen dann den alten Marktplatz Grote Markt mit dem Turm Belfried oder stehen ewig für eine Bootstour auf den Grachten an. Die Stadt wird da Kulisse, mit Freilichtmuseum, Kutschen und Souvenirshops ohne Ende. Doch natürlich hat Brügge auch sein eigenes, verwunschenes Flair. Das weiß man spätestens seit dem Film Brügge sehen ... und sterben? von 2008 mit Colin Farrell. Gondolieri braucht es dafür nicht. Benjamin Knödler
E
Eiscafé Das Eiscafé ist das Venedig für Arme. Nicht weil ein Eis viel weniger kostet als ein Easyjetflug, sondern weil es oft ein irgendwie trauriger Versuch ist, den Brücken-Gondel-Flair in die kurzen deutschen Sommer zu transformieren. Dreifarbige Neonröhren, Metallstühle mit dunkelroten Plastikpolstern, pfirsichfarbene Wischtechnik an den Wänden und ein verblichenes Foto der Rialtobrücke. In Cafés, die Venezia heißen oder Olimpio, sei das Eis überhaupt gar nicht zu vergleichen (so heimgekehrte Italienurlauber) mit dem „echten“ Eis im Süden, gemessen in Cremigkeitsgraden. Sei’s drum, ein Spaghettieis mit überzuckerter Erdbeersoße geht immer. Auch deshalb muss man die Fahne hochhalten für diese Läden, Relikte aus einer Zeit, in der man noch „multikulti“ sagte und es authentisch fand, wenn der Kellner Italienisch redete (➝ Ausverkauf).
Und nun übernimmt eine neue Spezies von Eisläden das Sommergeschäft. Läden, in denen die Theke aus unbehandeltem Holz ist, in denen es Basilikum-Zitrone- und Rhabarber-Rucola-Eis gibt – und drei Sorten vegan. Nur wo bekomme ich ein Banana-Split her? Juliane Löffler
Erfurt Klein-Venedig an der Gera: Thüringens Landeshauptstadt schmückt sich unter anderem mit diesem Beinamen, obwohl sie wegen Venedig eigentlich schwer zu leiden hat. Im Hobbingen des Thüringer Beckens (Thüringen wird gern – nicht nur vom Kabarettisten Rainald Grebe – als Heimat der Hobbitts verspottet) finden sich gerade mal ein paar Flussarme und Brücken. Für eine Venedig-Analogie muss das reichen, weshalb auch ein Stadtteilpark den Namen trägt. Dass es auch ein entsprechendes ➝ Eiscafé Venezia gibt: geschenkt. Der Park liegt in relativer Nähe zur Krämerbrücke, mit der sich Erfurt durchaus schmücken kann. Vor über 900 Jahren schon überspannte hier ein erster Bogen das Gera-Wasser.
Weil der Name des ältesten Erfurter Profanbaus zu profan ist, müssen fürs Tourismusmarketing Superlative her. Die Krämerbrücke wird damit beworben, die einzige bewohnte Brücke nördlich der Alpen zu sein. Tobias Prüwer
K
Kunstbiennalen In Venedig findet seit 1895 alle zwei Jahre die älteste und wichtigste Kunstbiennale statt. Am 9. Mai ist es wieder so weit, dann wird die 56. Ausgabe eröffnet. Erst 1951 wurde in São Paulo die zweite Weltausstellung dieser Art gegründet – wobei Weltausstellung auch in Brasilien zuerst nur europäische Kunst meinte. Bis in die 90er Jahre hinein gab es nur ein paar wenige Biennalen weltweit. Inzwischen existieren über 200. Die Kuratoren bleiben meist nur für eine Saison und ziehen dann weiter, Künstler und Werke im Schlepptau. Ulan Bator hat jetzt eine, Ouagadougou auch, und wer nicht so weit reisen kann, findet auch in Berlin, Athen und Istanbul welche. Weil da keiner mehr den Überblick behält, wurde kürzlich die International Biennial Association (IBA) gegründet. Ihre Mitglieder trafen sich vergangenes Jahr in Berlin zu ihrer ersten Generalversammlung. „Why Biennial?“, lautete das Motto der gut besuchten Tagung. Warum tun wir das eigentlich? Christine Käppeler
L
Las Vegas Die berühmteste Straße in Las Vegas ist der „Strip“, an dem sich die riesigen Hotels und Casinos ballen. Ihn bei Nacht mit all seinen Lichtern entlangzulaufen, fühlt sich an wie Globalisierung auf Koks. Da gibt es ein Schatzinsel-Hotel oder das Excalibur, das etwas mit einer mittelalterlichen Burg zu tun haben soll. Und es gibt Nachbauten mehrerer Städte. Das New York, New York wirbt mit der Skyline von Manhattan, vor dem Paris leuchtet der Eiffelturm – und das Venetian präsentiert in der Wüste Nevadas einen Markusturm und Kunstkanäle. Ende der 90er verbrachte ich eine Nacht mit Freunden in Las Vegas. Wir übernachteten in einem Billigmotel weit weg vom Strip. Ich erinnere mich aber, dass wir an den Glücksspielautomaten in den großen Hotels mit Fünf-Cent-Einsätzen zockten. Und dass ich 25 Dollar gewann, was sich nach wahnsinnig viel anhört, wenn 500 Fünfcentstücke in das Auffangfach klackern. Ich kann mich nur nicht mehr erinnern, ob das in New York, Paris oder Venedig war. So ist das mit der Globalisierung. Jan Pfaff
Liberland Der jüngste Venedig-Vergleich stammt von einem tschechischen Euroskeptiker, der Mitte April eine Kleinrepublik ausgerufen hat: „Ich weiß, dass es hin und wieder Überschwemmungen gibt. Wenn wir dieses Problem haben, dann sind wir eben für einen gewissen Teil des Jahres Venedig. Wenn es zu einem großen Thema würde, dann könnten wir eine Stadt auf Stelzen bauen“, sagte ein Initiator von Liberland dem Magazin Vice. Im Niemandsland an der Donau, zwischen Kroatien und Serbien, soll der Sumpflandstaat liegen. Sieben Quadratkilometer umfasst das virtuell ausgerufene neoliberale Wunderland, angeblich 300.000 potenzielle Neubürger haben den Pass beantragt.
Diplomaten geben sich bisher gelassen. Serbien erklärte, das Land liege außerhalb seiner Grenzen. Und Kroatien sprach von „virtuellen Grenzverletzern“ – der Staat existiere ohnehin nur im Netz. Tobias Prüwer
N
Neu-Venedig Eine Untergattung von Venedig ist Klein-Venedig. Innerhalb dieser Untergattung bildet wiederum Neu-Venedig eine Unter-Untergattung. Neu-Venedige gibt es zahllose, Klein-Venedig ist mir nur eines bekannt. Mein Klein-Venedig liegt im östlichsten Zipfel Berlins an der Müggelspree, nicht weit von Rahnsdorf, wo mich früher öfter eine Straßenbahn durch den Wald zur Schleuse in Woltersdorf fuhr, um am Ende des Ausflugs ein Gartenlokal aufzusuchen, in dem Menschen saßen, wie sie in Mitteprenzlauerberg ausgestorben sind.
Das Gartenlokal Neu-Venedig ist keine Reise wert, das Gasthaus aus der Gründerzeit der Kolonie existiert nicht mehr. Aber in Klein-Venedig gibt es reihenweise Wohnhäuser und Datschen, die direkt an einem der vielen Kanäle liegen.
Eine solche Datsche zu besitzen wäre ja noch besser als eine Datsche direkt an einem See und würde nur übertroffen durch den Besitz eines der prächtigen Hausboote, wie man sie in unserer wasserreichen Stadt, auch Spree-Athen genannt, am westlichen Ende des Tiergartens bewundern kann. Michael Angele
S
Seufzerbrücke Das Haus, in dem ich geboren bin, steht auf einem Fluss. In unserer Garage konnte man unter dem Auto die Bodenbretter anheben, manchmal winkte einem dann eine Forelle mit der Schwanzflosse zu. Nicht jede Forelle, die beim Wohnzimmer meiner Oma in unser Haus hineinschwamm, kam unter dem Balkon auf der anderen Seite wieder heraus. Das war aber nicht meine Schuld, sondern die meines kleinen Bruders. Erst später erfuhr ich aus einer Touristenbroschüre, dass ich meine Kindheit in Klein-Venedig verbracht hatte. Frappierend fand ich die Parallelen (➝Zeichen) nicht. Auf der Brücke hinter unserem Haus seufzten zum Beispiel keine Gefangenen auf dem Weg in den Knast, sondern höchstens die Nachbarin, wenn ihr Kater Bamberle wieder einmal ausgebüchst war: „Saukatz!“ Christine Käppeler
Suzhou Warum diese Zehnmillionenstadt bei Shanghai, in der gerade die Tischtennis-WM ausgetragen wurde, das Venedig des Ostens (➝ Erfurt) sein soll, ist mir ein Rätsel. Als ich mal dort war, sah ich nur Gärten, allesamt UNESCO-Welterbe. Ein bescheidener kaiserlicher Beamter in Rente legte dort zum Beispiel 1522 einen eher unbescheidenen Garten an – dummerweise verlor sein Sohn ihn beim Glücksspiel. „Garten des bescheidenen Beamten“, so heißt er bis heute. Im vergangenen Jahr schlängelte ich mich auf Zickzackwegen durch ihn durch. Ich umkreiste Bonsai-Baumschulen und duckte mich unter Steinkaskaden weg, immer auf der Flucht vor den Kameras chinesischer Touristen. Die wollten dann statt Beamten-Gärten viel lieber mich, die riesige Europäerin, fotografieren. Den „Garten des Meisters der Netze“ habe ich dann nicht mehr besucht. Luisa Hommerich
U
Udaipur Ein Schloss im Wasser, der Monsun-Palast auf dem Berg, hübsche Gassen: Die Älteren kennen die Kulisse aus dem dort gedrehten James-Bond-Film Octopussy von 1983. Ich habe vor mehr als zehn Jahren in Udaipur in einer Hilfsorganisation gearbeitet. Abends zeigen Restaurants diesen Film – ich kenne ihn mittlerweile auswendig. Udaipur, das Venedig des Ostens, liegt im Nordwesten Indiens, im Bundesstaat Rajasthan, dem Land der Maharadschas und Königspaläste. Neben dem pinken Jaipur, dem blauen Jodhpur und dem goldenen Jaisalmer in der Wüste Thar ist Udaipur, die weiße, eine der romantischsten Städte Indiens. Der Lake Pichola, in dem das Lake-Palace-Hotel schwimmt, war 2004 wegen des ausgebliebenen Monsuns völlig ausgetrocknet. Statt Booten brachten Kamele die Gäste zu ihrer Unterkunft. Elke Allenstein
Z
Zeichen Wie muss eine Stadt sein, um den Namen Venedig zu verdienen? Wenn es nach Tourismuswerbetextern geht, gibt es drei Zeichen: 1. Es handelt sich um eine Stadt, 2. Die Stadt hat viele Brücken und Kanäle, 3. Kultur und Geschichte der Stadt sind maßgeblich durch die Wasserwege beeinflusst. Für welche Hafenstadt gilt das nicht? Größere Städte wie Berlin können zusätzlich damit werben, „mehr Brücken als Venedig“ zu haben. Aber auch das ist keine Kunst: Das historische, echte Venedig ist sehr klein. Würde man statt der absoluten Zahl die Brücken pro Quadratmeter zählen, könnte kaum eine Stadt mithalten. Sophie Elmenthaler
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