Vergesst das BIP!

Wachstum Paradoxe Entwicklung: Bis zur Krise stieg das Bruttoinlands­produkt ­stetig – aber die Einkommen der Bürger sanken. Der Wirtschaftsindikator hat keine Aussagekraft mehr

Ist das Bruttoinlandsprodukt noch ein Maßstab für den sozialen Fortschritt und die Wohlfahrt von Gesellschaften? Dieser Frage ist eine hochkarätige Kommission von Spitzenökonomen (siehe Kasten) nachgegangen. Ihre Antwort ist eindeutig: Das BIP taugt noch nicht einmal mehr als Indikator für das rein materielle Wohlergehen. Wer sich weiterhin am Bruttoinlandsprodukt orientiert, riskiert, eine völlig falsche Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die Vergangenheit hat das gezeigt.

Von 1999 bis 2005 ist das BIP pro Kopf in der Bundesrepublik um 5,4 Prozent gestiegen. Zwar nicht berauschend, aber immerhin. Umgerechnet auf einen Erwerbstätigen käme man auf einen guten halben Monatslohn mehr und drei zusätzliche Tage Ferien. In Wahrheit aber ist das real verfügbare Einkommen des Durchschnittshaushaltes im Zeitraum von 1993 bis 2005 um ein halbes Prozent gesunken. Das Markteinkommen aus selbstständiger und unselbstständiger Arbeit nahm gar um 13,8 Prozent ab.

An den Rändern der Gesellschaft hat sich die Umverteilung schon früher ausgewirkt. Das reichste Zehntel der Haushalte konnte sein Einkommen aus Arbeit und Kapital von 1993 bis 2005 um 24 Prozent erhöhen, beim ärmsten Fünftel sackte es hingegen um nicht weniger als 36 Prozent ab. Durch Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und andere Transfers konnte der Rückgang der Nettoeinkommen auf neun Prozent begrenzt werden.

Versteckte Daten

Diese Zahlen lassen sich aus dem Jahresbericht 2008 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage errechnen – was allerdings große Mühe macht. Wären die Daten rechtzeitig erhoben, verständlich für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet und von den Politikern zur Kenntnis genommen worden, dann gäbe es in der Bundesrepublik wahrscheinlich eine ganz andere wirtschaftspolitische Diskussion. Vielleicht hätte man dann rechtzeitig den Verdacht gehabt, dass der Sozialstaat von einer historisch wohl einmaligen Umverteilung der Markteinkommen an den Rand des finanziellen Abgrunds getrieben worden ist – und nicht von der „Faulheit“ und vom „Anspruchsdenken“ der Hartz-Empfänger. Vielleicht wäre es dann nicht zu „Reformen“ gekommen, die das Gegenteil von dem bewirkten, was sie vorgaben zu erreichen.

Besserung ist möglich

Dem statistischen Teil der Stiglitz-Studie kann man entnehmen, dass es durchaus Länder gibt, in denen die Haushaltseinkommen weiterhin gleichmäßig verteilt sind und mit dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf einigermaßen mithalten. In Frankreich etwa stieg das BIP pro Kopf von 1997 bis 2007 um 21 Prozent, die Nettoeinkommen des Mittelstandes wuchsen im gleichen Zeitraum um 15 Prozent und selbst das ärmste Fünftel der Gesellschaft konnte sein Einkommen um 16 Prozent steigern. Ähnliche Ergebnisse gab es in England, Italien, Belgien und Holland.

Besserung ist möglich. Wenn sie politisch gewollt ist. Die zentrale Schlussfolgerung des Stiglitz-Berichts lautet: Wichtiger als das, was in den Fabriken produziert wird, ist das was in den Haushalten ankommt. Konzentriert euch mehr auf die Haushaltseinkommen und deren Verteilung. Vergesst das BIP!

Werner Vontobel, Jahrgang 1946, hat Volkswirtschaft in Basel studiert und arbeitet als Journalist in der Schweiz. Für das Massenblatt schreibt er das Internet-Blog "Vontobels Notizen".blick.ch

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