Autodestruktion Künstler sind vom Verschleißprinzip immer wieder aufs Neue fasziniert. Mit seiner Homage to New York konstruierte beispielsweise Jean Tinguely, ein Vertreter des Nouveau Réalisme, im Jahr 1960 eine Maschine aus Schrottteilen, die sich binnen 27 Minuten selbst zerstörte. Der kubanisch-mexikanische Künstler Ariel Orozco dokumentierte mit Fotos 2005 das Vergehen eines Radiergummis. Immer wieder zeichnete er diesen Gegenstand der Auslöschung – und tilgte die Zeichnungen mit ebenjenem Radiergummi, bis der unter dem Verschleiß verschwand. Der Aktionskünstler Gustav Metzger widmete der „autodestruktiven Kunst“ 1960 ein Manifest: Sie offenbare „die Macht des Menschen, Auflösungsvorgänge der Natur zu beschleu
hen, Auflösungsvorgänge der Natur zu beschleunigen und zu steuern“. Metzgers Hauptthema ist der Terror des 20. Jahrhunderts. Er setzt auf Kunst, die sich selbst zersetzt, gestaltet Gemälde mit Säuren. Die Documenta in Kassel zeigte 2012 Zeichnungen von ihm, die 45 Jahre unter Verschluss waren. Etwas brüchig schon, aber noch lesbar. Tobias PrüwerFFrankreich Bis zu 300.000 Euro Strafe oder zwei Jahre Knast: Das droht bald in Frankreich, wenn die Lebensdauer von Geräten von den Herstellern absichtlich verkürzt wird (➝ Obsoleszenz). Gerade hat das Parlament in Paris ein entsprechendes Gesetz beschlossen, nun muss der Senat dem Ganzen noch zustimmen. Privatleute und Verbraucherverbände können dann gegen Hersteller klagen. Doch es dürfte schwierig sein, nachzuweisen, dass minderwertige Teile nicht nur aus Kostengründen eingebaut wurden, sondern um die Lebensdauer eines Produkts gezielt zu verkürzen. Die französischen Grünen hoffen künftig auf Hinweise von Whistleblowern aus entsprechenden Unternehmen. In Deutschland gibt es kein Gesetz gegen eine solche Verschleißstrategie. Felix WerdermannGGelenke Das Wort Arthrose stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie Gelenkverstümmelung. Menschen aller Altersgruppen kann es erwischen, die Gründe können verschieden sein: übermäßige oder falsche Belastung, Bewegungsmangel, ein erhöhtes Körpergewicht. Auch angeborene oder traumatisch bedingte Ursachen kann es geben. Oder die Arthrose geht auf vorherige Erkrankungen zurück, etwa Gelenkentzündungen. Typisch sind stechende, plötzlich auftretende Schmerzen, die vor allem nach Ruhephasen auftreten und bei weiterer Bewegung nachlassen. Arthrose ist die weltweit am weitesten verbreitete Gelenkerkrankung. In Deutschland leiden etwa fünf Millionen Menschen darunter. Am häufigsten sind Knie- und Hüftgelenke betroffen.Aber was passiert da genau? Der Gelenkknorpel wird allmählich abgebaut, was zur Beeinträchtigung der Beweglichkeit führt, bei Nichtbehandlung zur Zerstörung der Gelenkfläche. Im schlimmsten Fall muss das Gelenk künstlich ersetzt werden. Arthrosepatienten sollten stoßartige Bewegungen und feuchtes Wetter vermeiden. Katharina FinkeMMülltüten Neulich sprach ich in meiner Küche mit mir selbst. Mal wieder zerriss die Mülltüte genau in dem Augenblick, in dem ich sie aus dem Eimer heben und in den Hof befördern wollte. Ich war in Gedanken ganz bei jenen Leuten, die solche immer reißenden Mülltüten herstellen. Wie mag sich das anfühlen? Wie errichtet man eine Firma auf einer Idee, die nichts taugt? Wie geht man so jeden Morgen ins Büro? Was erzählt man seinen Freunden? Sagt man etwa: Komisch, dass unsere Mülltüten bei anderen immer reißen, wenn wir sie benutzen, halten sie immer. Ich kam zu keiner Lösung, bin noch immer zu keiner gekommen. Jana HenselNNostalgie Auch wenn der Ärger über allzu schnellen Verschleiß eine Art Volkssport geworden ist, hat die Abnutzung ihre guten Seiten. Shabby Chic: Das Schäbige kann auch als schick empfunden werden. Es hat etwas Schönes, den Dingen ihre lange Geschichte anzusehen. Kaum ein Hipstercafé gibt es, in dem nicht die Sessel oder Sofas auf hübsche Art verschlissen sind. Ein Oldtimer wird erst dann ehrwürdig, wenn ab und an eine Fehlzündung knallt, auch ein wurmstichiges Klavier hat seinen eigenen Reiz. Die Secondhandbranche lebt von der Anziehungskraft des Abgetragenen: Jeans sind erst dann richtige Jeans, wenn sie ordentlich abgenutzt sind. Der Verschleiß muss also auch für seinen morbiden Charme gewürdigt werden. Benjamin KnödlerOObsoleszenz Meine elektrische Zahnbürste ist kaputt. Nach einem Blick in die Studie „Geplante Obsoleszenz“ weiß ich, dass alle Reparaturversuche hoffnungslos sein werden. Drei Wirtschaftswissenschaftler führen seitenweise vor, welche Geräte von Herstellern absichtlich so konstruiert werden, dass sie bald nicht mehr funktionieren. Demnach sind elektrische Zahnbürsten mit schnell erschöpften, nicht austauschbaren Akkus heute Standard. Als industrielles Prinzip gibt es die geplante Obsoleszenz (Veralterung) seit bald einem Jahrhundert. General Motors nutzte sie geschickt, um Ford den Rang auf dem US-Automarkt abzulaufen. Heute ist das nicht mehr nur eine Wettbewerbsstrategie, sondern ein Überlebensprinzip: Die Märkte sind gesättigt, wir haben alles und brauchen eigentlich nichts. Um aber die Mär vom endlosen Wachstum aufrechtzuerhalten, trichtern die Hersteller Kunden ein, dass ein Neukauf unumgänglich ist. Ich putze meine Zähne jetzt wieder manuell. Sebastian PuschnerRRasierklingen Die Dame im Drogeriemarkt guckt mich jedes Mal mitleidig an, wenn ich am Kassenband stehe. Ich bin ein eher unfreiwilliger Stammkunde, und sie weiß es. Ich komme nur wegen der Rasierklingen. Immer und immer wieder. Es gibt wohl wenige Produkte, bei denen der Verschleiß so sehr einkalkuliert ist wie bei Rasierklingen. Da hilft es auch nicht, liebe Hersteller, immer mehr Klingen auf den Aufsatz zu quetschen (der aktuelle Rekord liegt bei sechs) oder sie vibrieren zu lassen. Mittlerweile gibt es Nassrasierer mit Namen, die man sonst nur in Transformers-Filmen erwartet hätte – ja, ich meine dich, Gilette Fusion Power Stealth! Wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste Smartphonerasierer in die Läden kommt. Der synchronisiert sich automatisch mit der eigenen Musiksammlung und spielt bei jedem Zug Cat Stevens’ Version von The First Cut Is The Deepest. Ach, soll mir recht sein, solange er kein Album von U2 herunterlädt. Simon Schaffhöfer Reparaturcafés Alles muss man selber machen! Ja: Reparaturcafés sind Orte der Selbsthilfe, wo Menschen unter kundiger, ehrenamtlicher Anleitung ihre verschlissenen Konsumgüter wieder in Gang setzen können. Die Besucher bringen defekte Apparate von zu Hause mit und gehen dem Fehler oder dem Abnutzungsproblem gemeinsam mit einem Fachmann auf den Grund. Jene Cafés verstehen sich als Gegenbewegung zur Wegwerfgesellschaft. Sie nehmen die Diskussionen um industriell beabsichtigte Verschleißphänomene (➝ Obsoleszenz) auf – und sind eine Antwort auf die Entmündigung des Verbrauchers. Denn der kann immer weniger selbst reparieren, weil Geräte heute oft verklebt statt verschraubt oder nur mit Spezialwerkzeug zu bearbeiten sind. Gut 170 solcher Cafés sind bei repaircafe.org gelistet. TPSSmartphone Wer behauptet, Smartphones seien ungefährlich, ist noch nie tippend gegen ein Straßenschild gelaufen. Eine Studie zeigt jetzt, dass der Blick nach unten auf das Display nicht nur Beulen, sondern auch langfristige Schäden mit sich bringen kann. Durch den gesenkten Kopf steigt etwa das Risiko auf einen Bandscheibenvorfall. Inzwischen scheint es sogar einen Wettlauf zu geben, wer schneller verschleißt: Wir – oder das Smartphone. Käufer des neuen iPhone 6 klagen über verbogene Gehäuse; Androiden haben Probleme mit dem Akku; und zersplitterte Displays sind längst so alltäglich, dass sie euphemistisch Spider-App genannt werden. Wir Menschen wiederum erleiden Zerrungen am SMS-Daumen, krumme Schultern, müde Augen und erhöhten Blutdruck, wenn das Funknetz schlapp macht. Wie verlässlich die alten Handyknochen doch waren. Mit denen konnte man noch Nägel in die Wand schlagen. Simon Schaffhöfer Sollbruchstellen Manchmal ist der Einsatz eines fragilen Bauteils höchst sinnvoll. So werden Sollbruchstellen bei manchen industriell hergestellten Gütern extra geplant, um größere Schäden an dem Gerät oder über dieses hinaus zu verhindern. Eine Sicherung zum Beispiel dient dem Entlastungsschutz im Fall einer Überspannung; sie verhindert den Ausfall von elektrischen Apparaten und mögliche Brände. Pfosten und Poller im Stadtraum brechen bei Autounfällen an dafür vorgesehenen Stellen und senken dadurch die Gefahr für die Insassen. Schlüssel- und Katzenhalsbänder reißen häufig an beabsichtigten Abschnitten, damit sich Mensch oder Tier nicht erdrosseln. Bei Getränkedosen, Schokotafeln und Notausstiegsfenstern erleichtern Sollbruchstellen das Öffnen oder Zerteilen. Sollbruchstellen gibt’s auch in der Natur: Eidechsen können ihren Schwanz einfach abwerfen, wenn ein Fressfeind oder böswilliger Mensch daran zieht. Tobias PrüwerTTower Bridge Erst ein paar Wochen alt und schon demoliert: die neue gläserne Brücke des Londoner Wahrzeichens. Sie führt Fußgänger in 40 Metern Höhe über die Themse. Sehr stabil scheint sie nicht zu sein. Nachdem ein Passant aus Versehen eine Bierflasche fallen ließ und eine Frau mit Stöckelschuhen darüber lief, zersplitterte eine Glasplatte. Angeblich kein Grund zur Sorge: Die Brücke bleibt offen, denn es handle sich nur um die oberste von fünf Bodenschichten. Katharina FinkeTrainer Was wäre der Fußball ohne seine Entlassungen? Ohne die Schnappatmung bei miesen Ergebnissen, ohne das Anzählen der Trainer ginge es deutlich langweiliger zu. Unter den Vereinen haben sich wahre Meister des Trainerverschleißes profiliert. Etwa der HSV, bei dem in den letzten sechs Spielzeiten elf (!) verschiedene Trainer auf der Bank saßen. Doch es geht auch anders: Thomas Schaaf hielt sich stolze 14 Jahre bei Werder Bremen. Welches Modell eher zum Erfolg führt, daran scheiden sich die Geister. Ein Klassiker unter den Stammtischfragen. Benjamin KnödlerZZähne Unsere Beißerchen zählen zu den besonders beanspruchten Körperteilen. Die Folge: Mehrfaches Austauschen ist unerlässlich. Das beginnt im Kindesalter mit den Milchzähnen. Bei Säugetieren wie uns werden diese ganz natürlich durchs Nachwachsen der zweiten Beißergeneration, der permanenten Zähne, ersetzt. Zu Problemfällen entwickeln sich später oft die Backenzähne. Mit ihrer kraterähnlichen Oberfläche und versteckten Lage, weit hinten im Mund, sind sie besonders anfällig für Karies. Bei vielen Menschen hilft der Zahnarzt irgendwann mit Kronen aus. Reichen diese nicht mehr aus, wird mit Brücken, später mit Zahnprothesen nachgearbeitet. Früher oder später spricht man dann, zähneknirschend, von den „Dritten“. Katharina Finke
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