Vertrauen, Misstrauen, sich trauen

Hartz IV und die Protestkultur Der Regisseur Martin Keßler über seinen Film "Neue Wut"

Ein Jahr lang beobachtete Martin Keßler, wie sich der Zorn Tausender Arbeitsloser auf die Sozialreformen der Bundesregierung entlud. Mit seinem Dokumentarfilm Neue Wut ist ein aufwühlendes Zeitdokument entstanden - über die Hartz IV-Proteste, über die Wut der Betroffenen und die Reaktion der Regierenden. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten haben für diesen Film - bisher jedenfalls - kein Interesse.

FREITAG: Die Menschen in ihrem Film sind gereizt. Andreas Ehrholdt zum Beispiel, der Begründer der Hartz-IV-Demonstrationen, der erst zum Medienstar gemacht wird und dann als "isolierter Einzelkämpfer" im Hinterzimmer einer Kneipe seine eigene Partei gründet. Oder die arbeitslose Bankangestellte Barbara Willmann, die in die Mühlen der Hartz IV-Bürokratie gerät und im Protest kaum noch einen Sinn sieht. Sie schreiben diesen Menschen eine neue Wut zu. Was ist damit gemeint?
MARTIN KESSLER: Wenn man über neue Wut redet, muss man auch über alte Wut reden. Also die über soziale Ungerechtigkeit, die es ja eigentlich schon immer gegeben hat. Aber in der Bundesrepublik ist diese alte Wut besänftigt worden durch den Sozialstaat, der im Moment doch sehr verändert wird. Dadurch haben viele Leute den Boden unter den Füßen verloren. Deswegen sind sie wütend. Und ich glaube eben, dass das eine neue Wut mit alten Wurzeln ist, die wieder hochkommt.

Sie wagen die These, dass die "Neue Wut" der Hartz-IV-Demonstranten verantwortlich ist für die vorgezogenen Bundestagswahlen. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Das glaube ich nicht, weil mein Film eindeutig zeigt, wie groß der Akzeptanzverlust der Politik bei sehr vielen Menschen ist. Zwar haben die Demonstranten auf der Straße nicht das erreicht, was sie wollten, nämlich Hartz IV stoppen. Aber sie sind nicht mehr zu Wahlen gegangen oder haben den Verantwortlichen, der Regierung, auf andere Art und Weise das Vertrauen entzogen. Insofern haben die Proteste schon sehr viel mit den vorgezogenen Wahlen zu tun.

Aber die Montagsdemos gegen Hartz IV sind im Prinzip gestorben. In Magdeburg zum Beispiel, wo sie ihren Anfang nahmen, ziehen an jedem Montag nur noch rund 40 Arbeitslose durch die Innenstadt. Vor einem Jahr waren es Tausende. Wo ist sie hin, die soziale Bewegung, von der sie in Ihrem Film sprechen?
Ich glaube, soziale Bewegungen entwickeln sich immer in Wellen. Wir haben ja im letzten Jahr nicht nur die Hartz IV - Proteste gehabt, sondern es gab in vielen Betrieben Auseinandersetzungen. Ob das bei Mercedes oder bei Opel war, bei VW, Karstadt oder Siemens - da war sehr viel Bewegung bei den Menschen, die einfach unzufrieden sind mit dem, was ihnen zugemutet wird. Im Film beschäftige ich mich mit der Frage, ob es da einen Zusammenhang gibt - eine neue soziale Bewegung zum Erhalt des Sozialen. Wir haben in Deutschland ja bereits eine Frauenbewegung gehabt, eine Friedensbewegung und ich wage schon die These, dass da eine neue Bewegung am Entstehen ist. Nur kann man von einer sozialen Bewegung nicht erwarten, dass sie gleichförmig nur nach vorne geht. Es gibt Vor- und Rückschritte.

Der Arbeitslose Andreas Ehrholdt ist gewissermaßen der tragische Held Ihres Films. Wie haben Sie Aufstieg und Fall dieses Mannes erlebt?
Man fragt sich natürlich, warum die Medien plötzlich jemanden zu einer Galionsfigur aufbauen, und warum sich später niemand mehr für ihn interessiert. Am Anfang wurde noch sehr wohlwollend über ihn berichtet, und gerade Bild und andere Medien haben das ziemlich gepuscht. Aber an einem gewissen Punkt ist es dann umgeschlagen. Da hieß es dann plötzlich: Montagsdemos rechts unterwandert, Montagsdemos gespalten und zerstritten. Und da muss man eben auch wissen, dass hinter einer solchen Berichterstattung auch bestimmte Interessen stehen, und das wird im Film auch deutlich.

Was haben die von Andreas Ehrholdt begonnenen Proteste aus Ihrer Sicht langfristig bewirkt?
Sie haben bewirkt, dass Menschen öffentlich gezeigt haben, wir sind nicht einverstanden, wir lassen das nicht so einfach mit uns machen. Und darauf muss die Politik natürlich reagieren. Der Punkt war halt, dass die Politik im vergangenen Jahr nur sehr partiell auf die Proteste reagiert hat. Ein paar Zugeständnisse wurden gemacht. Im Grunde aber hat sie ihre Linie durchgezogen. Und das ist genau das Problem: Wenn man nicht die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung für seine Politik hat, dann wird man scheitern. Und genau das ist passiert.

Sie haben nicht nur Demonstranten interviewt, sondern auch die Regierenden. Zum Beispiel Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement. Haben Sie auch für ihn Sympathien entwickeln können oder haben Sie sich zum Anwalt des kleinen Mannes gemacht?
Ich bin nicht der Anwalt des kleinen Mannes, sondern ich bin Dokumentarfilmer, der schon mit einer gewissen Distanz die Sache beobachtet. Aber ich habe durchaus auch Sympathien für Clement. Er tut mir sogar ein bisschen leid, weil er unbeirrt seinen Zweckoptimismus verbreitet. Ich denke mal, er glaubt selber noch daran, dass er mit den Rezepten, die er verspricht, Arbeit schafft. Solche Leute wie Clement denken, sie haben die Rezepte. Aber sie haben sie nicht. Und das macht der Film auch deutlich, dass da ein ganz großer Bruch ist, zwischen den Verantwortlichen und denen, für die sie eigentlich Verantwortung haben.

Bilder von den Hartz-Protesten waren ja im vergangenen Sommer auf allen Kanälen zu sehen - warum sollte sich da jetzt noch jemand Ihren Film anschauen?
Ja genau aus dem Grund, weil der Film einen tiefen Einblick in die Protestkultur gibt. Das, was 2004 im Fernsehen lief, ist eben nur eine Fixierung auf bestimmte Bilder, auf bestimmte Ereignisse gewesen. Und die Zusammenhänge, die tiefer liegenden Wurzeln der Entwicklung: Warum sind Menschen wütend? Was wird aus deren Wut? Enden sie in der Resignation, machen sie weiter? - die wurden ausgeblendet. Dabei sind das doch die spannenden Fragen. Und deshalb habe ich mich damit auch befasst.

Bisher haben Sie noch keinen Fernsehsender gefunden, der ihren Film zeigen will. Wie soll er da Zuschauer finden?
Der Film hatte am 28. Juli Premiere in einem sehr großen Kino in Frankfurt am Main. Und es gibt schon viele weitere Termine in anderen deutschen Städten. Der Film wird auch auf DVD vertrieben, und auch da gibt´s schon eine sehr große Nachfrage. Natürlich hoffe ich sehr, dass dieser Film doch noch ins Fernsehen kommt.

Das Gespräch führte Robert Baumgarten

Informationen zum Film: siehe www.neuewut.de


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