Als Europäer in den USA wundert man sich, wie wenig man vom Wahlkampf sieht. Keine Plakate an den Straßenlaternen, keine Demonstrationen, keine Wahlveranstaltungen, bei denen Luftballons oder Kondome mit einem Parteilogo verteilt werden, weder auf dem Campus meiner Gastuniversität noch in Downtown Palo Alto. Gelegentlich fährt auf dem Highway ein Auto mit einem blauen oder roten Bumpersticker vorbei, aber die Farbkodierung der beiden wahlentscheidenden Parteien fällt im allgemeinen amerikanischen Beschriftungs- und Botschaftenwahn kaum auf. Anzunehmen, dass sich die Bilderschlacht ins Internet verlagert hat, schließlich hat Obama die letzte Wahl auch mit den sozialen Netzwerken gewonnen, ja, so wird gesagt, er habe die Bürgerrechtsbewegung im Netz neu erfunden.
Erst als ich Kalifornien verlasse und den Südosten des Landes bereise, merke ich, dass der Wahlkampf in einigen Staaten durchaus präsenter ist als in anderen, allerdings nicht unbedingt sichtbarer. Ich nutze die Gelegenheit, um alte Freunde zu besuchen. Bei einer Familie in Onancock, einem kleinen Küstenort im Bundesstaat Virginia, klingelt von morgens bis abends das Telefon, der Bedarf an ständig aktualisierten Umfragen ist hoch. In den sogenannten Swingstates – jenen Bundesstaaten, die sozial, ethnisch und ökonomisch heterogen und also politisch schwer berechenbar sind –, wurde ein engmaschiges Netz der Wählerbeobachtung gestrickt. Die Familie hat einen jungen Wahlhelfer aus Virginia Beach bei sich aufgenommen und bietet ihm freie Kost und Logis für die Zeit der Kampagne. Er arbeitet jeden Tag um die 14 Stunden, wird kaum bezahlt, fühlt sich aber moralisch und politisch richtig und kann außerdem seine College-Chancen verbessern.
In Washington D.C. gibt man sich gelassen, so als wäre die Wahl schon vorbei und Obama bereits in der zweiten Amtsperiode angekommen. Aber wer auf Capitol Hill wohnt, ist eh angekommen, gehört entweder zum Staat, zur Presse oder zu einem der Sicherheitsdienste. Ich übernachte bei Freunden von der Presse. Zum Frühstück gibt es italienischen Espresso und druckfrische Tagespresse, die gleich auf dem Laptop zu einem schnellen Polit-Blog weiterverarbeitet wird. Das gehört zum Job. 500 Meilen weiter südlich in Asheville, North Carolina, ebenfalls Swingstate, allerdings statistisch mit einer leichten Romney-Tendenz, erzählt mir ein Historiker, dass die Obama-Bekennungsschildchen, die von den Wahlhelfern ausgeteilt und auch aufgestellt wurden, Nacht für Nacht aus den Vorgärten geklaut werden. Die Unsichtbarkeit des Wahlkampfs scheint hier auch handfestere Gründe zu haben, als sein Verschwinden in die virtuelle Welt.
Alte Medien als Inhaltslieferant für die Neuen
Zurück im Silicon Valley fange ich an, die dem Wahlsystem zugrundeliegende Datenlogik zu verstehen. Allerdings erst, nachdem ich die dritte und letzte TV-Debatte zwischen den beiden Kandidaten nicht im Fernsehen, sondern live im Internet verfolgt habe. Beim Aufklappen des Computers am nächsten Morgen begrüßen mich Facebook-Witze über Pferde und Bajonette von deutschen und amerikanischen Freunden. Ich verstehe erst, nachdem ich „horses+bajonets“ google: Der Schlagabtausch zwischen Obama und Romney über sinkende Militärausgaben wirkte im Fernsehen eher lahm, und Obamas Konter, dass es heutzutage nicht nur weniger Schiffe, sondern auch weniger Pferde und Bajonette beim US-Militär gebe, ist mir während der Sendung glatt entgangen. Wie sonst im Fernsehen bei jeder Sitcom oder Talkshow üblich, hat auch keiner gelacht.
Ich schaue mir die Stelle noch einmal auf Youtube an: Obamas Spitze ist gut, wirkt aber in ihrer Ornamentik fast komponiert. Der Witz, denke ich, wurde zwar im Fernsehen platziert, Adressat ist aber offensichtlich die Twittergemeinde, die auch prompt mit entsprechenden Tweets, Blogs und Webseiten reagiert. Noch vor Ende der Debatte wird im Netz eine ganze Welt aus Pferden, Bajonetten und Präsidentschaftskanditaten errichtet. Inhaltlich ist die Geschichte irrelevant, medientheoretisch aber eine Offenbarung: Das neue Medium macht sich schlicht das alte zum Inhalt.
Obama scheint die Nase in Sachen Medienstrategie also erneut vorne zu haben, auch wenn die Republikaner zweifellos aufgeholt haben. Allerdings bedeutet Wahlkampf in den USA mehr denn je wissenschaftliches und ökonomisches Kalkül, und das spielt sich auf dem kalten Boden von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung ab. Die Frage ist also, ob das Internet überhaupt noch einen großen Unterschied machen kann zwischen den beiden Kandidaten. Dagegen spricht auch die Tatsache, dass immer noch fast 100 Prozent der Werbebudgets der Parteien in die klassischen Medien Fernsehen und Print fließen.
Zielgruppengerechte Werbung
Unter dem Stichwort des „Geotargeting“ wertet die Suchmaschine Google seit geraumer Zeit das Wahlverhalten und die politische Präferenz der amerikanischen Bevölkerung aus. Als neutraler Beobachter bietet der Konzern seine Dienste allen an, und beide Parteien nutzen die hübsch aufbereiteten Daten, um zielgruppengerechte Werbung auf Smartphones, Tablets und PCs zu schicken und vielleicht auch, um über regionalspezifische TV-Sendezeit zu entscheiden – Google wirbt entsprechend mit dem Slogan „Four Screens to Victory“.
Der Wähler ist bei Google aber ausschließlich Internetuser und kann offenbar aufgrund seiner Online-Datenspuren so exakt modelliert werden, dass einen immer häufiger auf allen vier Kanälen beziehungsweise Screens dieselbe Botschaft erwartet – informationstheoretisch eher ein Zeichen von Dysfunktion. In seinen Tendenzen weichen die „Four Screens to Victory“ kaum von den herkömmlichen Umfragestatistiken ab, die auf analogen Stichproben beruhen, wo also zum Telefon gegriffen und an die Türe geklopft wurde, um die immer gleiche Frage zu stellen: Wen würden sie heute wählen? Immerhin leben fast 16 Prozent der amerikanischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und 22 Prozent nutzen überhaupt kein Internet.
Dagegen scheint der klassische Fernsehspot weiterhin unersetzbar zu sein. Auch das TV-Duell der Kandidaten bildet in seiner Erzählstruktur, den strengen Debattier-Regeln und den mehr oder weniger gut spielenden Politikern nach wie vor ein unersetzbares Wahlkampfmittel. Allerdings ist dem Format deutlich anzumerken, dass es durch und durch zielgruppenorientiert gestrickt ist und mittlerweile Teil der multimedialen Strategie – worüber sollte sonst getwittert werden?
Beobachtung zweiter Ordnung
1968 führte der Medientheoretiker Neil Postman den Begriff der Medienökologie ein, um die Verschränkung von Technologie und Kultur zu fassen: In Amerika ist ein Medium die Substanz, in der sich eine Kultur entwickelt. Ersetzt man Substanz mit Technologie, erhält man eine präzise Beschreibung dessen, was einem zurzeit in Amerika als politische Kultur begegnet. Die global vernetzten, aber national verdichteten sozialen Netzwerke und ihre Blogger bilden offene Systeme oder eben politische Kulturen. Die Datenmaschinen und auch ihre Bildschirme sind so etwas wie die Petrischale, in der sie gedeihen kann. Zwischen den Datenmaschinen und der politischen Kultur operiert aber kein Politiker oder gar ein politisches Programm, sondern das Wahlbarometer.
Dieses Barometer ist allerdings vage, sagt lediglich Wählertendenzen unter aktuellen Bedingungen vorher, nicht den tatsächlichen Wahlausgang. Aber nach der Logik von Umfragen beeinflußt gerade die Tendenz das tatsächliche Wählerverhalten. Wir haben es systemtheoretisch mit einer Beobachtung zweiter Ordnung zu tun, sprich, im US-Präsidentschaftswahlkampf beobachtet sich die amerikanische Bevölkerung vor allem selbst.
Während ich das schreibe, hat sich Romney wieder mal um eine Winzigkeit vor Obama geschoben, aber, so warnt das Umfrageinstitut hinter dem Graphen bedächtig, dabei könne es sich auch um „statistical noise“, um statistisches Rauschen handeln.
Christina Vagt ist Kultur- und Medienwissenchaftlerin an der TU Berlin. Zurzeit forscht sie in Stanford
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