Wie kein Premier vor ihm hat sich Boris Johnson den britischen Staat zu eigenem Nutze zu machen versucht. Mit Steuergeldern drehte er Propagandavideos. Ernannte einen Mann als Chefberater, der sich der Missachtung des Parlaments schuldig gemacht hat. Johnson wollte den öffentlichen Dienst kaltstellen und die Öffentlichkeit mit Märchen von Brexit-Verhandlungen, die es nicht gibt, hinters Licht führen.
Sein Plan: Im Angesicht eines drohenden EU-Ausstiegs ohne Abkommen eine Krise zu provozieren, in deren Verlauf die EU gezwungen ist, doch noch einmal über den vorliegenden Text des Austrittsabkommens zu verhandeln. Das würde ihm erlauben, im Parlament final den Brexit beschließen zu lassen und auf dieser Grundlage Neuwahlen zu gewinnen.
Doch sein Plan ist fürs erste misslungen. Bei der allerersten Gelegenheit verpasste ihm das Parlament am Dienstag eine überdeutliche Niederlage. Er verfügt, wie es Labour-Chef Jeremy Corbyn auf den Punkt brachte, über „kein Mandat, keine Moral und seit heute auch über keine Mehrheit“.
Den Regeln der ungeschriebenen Verfassung zufolge sollte es nun Neuwahlen geben – auch das stand ins Johnsons Drehbuch. Er will sie als ein Votum „des Volkes gegen das Parlament“ verkaufen und mit den Konservativen sowie Nigel Farages Brexit Party die Drehleier des Populismus bedienen, um Richter, Eurokraten und das Parlament selbst zu stigmatisieren.
Johnson die Kontrolle entreißen
Es scheint unwahrscheinlich, dass das aufgeht. Denn seit der Nacht, in der Johnson damit drohte, das Parlament zu suspendieren, hat eine Protestbewegung auf den Straßen die Atmosphäre in Großbritannien verändert. Als einer ihrer Initiatoren möchte ich darlegen, was mir meiner Meinung nach erreicht haben.
Die Linke wusste, dass der Plan, den Johnson sich für uns ausgedacht hatte, darin bestand, dass wir ihn im Parlament blockieren. Ich erinnere mich an viele Treffen, bei denen Menschen davor gewarnt haben, dass wir ihm in die Karten spielen, wenn wir uns einem No Deal entgegen stellen.
Johnsons Schwierigkeiten fingen an, als klar wurde, dass oppositionelle Abgeordnete, angeführt von Labours Keir Starmer, über einen praktikablen Plan verfügten, um die Kontrolle über das Parlament zu übernehmen – nicht einfach nur einen No-Deal-Brexit zu blockieren, sondern Johnsons Autorität als Premierminister und ihm die Kontrolle über die Geschwindigkeit, mit der die Krise sich abspielt, zu entreißen.
Also suspendierte er das Parlament. Zwei Stunden danach , in einem kurzen Whatsapp-Chat mit anderen linken Aktivisten, entschieden wir, zu einer unerlaubten Demonstration vor dem Parlament aufzurufen.
Seit dem Mord an Jo Cox waren wir alle uns der Gefahr bewusst, die es mit sich bringt, um die Abgeordneten herum für Tumult zu sorgen, also begannen wir klein und versammelten uns ohne Megaphon in einer Ecke von College Green, um von einer Bank aus A-Capella-Reden zu halten. Dann drangen wir in den Pressebereich ein. Ungefähr 8.000 Menschen kamen und marschierten gemeinsam zur Downing Street. Abgeordnete und Mitglieder der Liberaldemokraten, der Grünen und von Labour erschienen, unter ihnen auch Starmer. Sie sprachen mit Megaphonen, die nicht funktionierten, wechselten sich mit Leuten ab, die sich als „Bürger“ vorstellten. Als die Sonne unterging, wussten wir, dass wir eine Bewegung hatten. Im Laufe der nächsten fünf Tage wuchs diese mithilfe von Signal und Whatsapp: am Samstag, den 31. August, gab es Demonstrationen in mehr als 50 Städten Großbritanniens.

Foto: Anthony Devlin/Getty Images
Ich ging zu der in Manchester, wo sich etwa 5.000 Menschen mit nur einem erbärmlichen Megafon im Regen versammelten. Es war friedlich, humorvoll und es gab keine Anführer. Etliche Linke, die eigentlich für den Brexit sind, schlichen mit Zeitungen im Arm an den Rändern umher, etwas zögerlich, aber doch willens, den Protest zu unterstützen.
Obwohl die Gesamtzahl der Teilnehmenden der Demos nie mehr als ein paar Zehntausende betrug, veränderten sie die Atmosphäre. Die sozialen Medien und die Radio-Talkshows waren voll von wütenden, mürrischen Rufen des Pro-Brexit-Flügels der britischen Gesellschaft nach einem Ausstieg um jeden Preis, für den das einstige Referendum ein Mandat gebe. Aber solche Stimmen waren auf den Straßen nicht zu hören; ihnen fehlt das Vertrauen ins Politische.
Zudem haben die Proteste fürs Erste die mannigfaltigen Spaltungen der progressiven Mehrheit in Großbritannien überwunden. Das Remain-Lager prägen Rivalitäten zwischen Labour, Nationalisten, Libdems und ehemaligen Labour-Leuten. Bei den Demos lösten sich diese jedoch auf. Andererseits lähmt der Streit um Remain oder Leave die Linke. Doch Johnsons Putsch brachte die Left-Exit-Befürworter auf die Straße, wo sie Seit' an Seit' mit linken Remainern protestierten.
„Stop The Coup!“
Diese Proteste haben etwas in den gesellschaftlichen Diskurs injiziert, was stets alle Proteste injizieren: Unberechenbarkeit und Heiterkeit. Unser Vorgehen ist einfach: Wir treffen uns, jede und jeder kann sprechen, wir singen „Stop The Coup“, wir entzünden ein paar Bengalos, wir marschieren, dann gehen wir nach Hause. In den Augen einiger progressiver Abgeordneter sah ich ein Leuchten, als sie nach Westminster zurückkehrten – inspiriert davon, dass eine ganz andere Art von Demokratie möglich sein könnte, wenn wir gewinnen.
Wenn nun die Massen beginnen, den Fortgang der Brexit-Angelegenheit zu beeinflussen, dann erhöht das die Kosten für Boris Jonson und seinen Griff nach der Macht. Die Einheit, die wir auf der Straße aufbauen, könnte sich, wenn wir Glück haben, in eine „Volksfront von unten“ übersetzen, also in ein informelles Wahlbündnis, um Johnson und Farage bei den kommenden Wahlen zu besiegen.
Die Elite um Johnson wurde inmitten der intellektuellen Erstarrung von Eton und Oxford ausgebildet, wo sich alle einig sind, dass Protest keinen Sinn hat. Doch was geschieht, wenn sich ihre Macht verflüssigt und große Männer zu Clowns werden, das ist über herkömmliche Methoden, Machtverhältnisse zu untersuchen, nie ganz fassbar.
Kommentare 10
als beobachter vom kontinent kommt man aus dem staunen nicht heraus:
diese muster-demokratie kann sich der putschisten der thatcher-klasse
bis hinab zu bojo + seinem intriganten einflüsterer dominic cummings
nicht erwehren?
wie bildet sich der wähler-wille im U.K. in der regierung ab?
wie kommen die wähler zu einem bild der politischen lage?
hat das wahl-system zur folge,
daß verknöcherte parteien durch angelegte polarisierung
neue demokratische entwicklungen blockieren?
"Paul Mason steht in der ersten Reihe des britischen Widerstands gegen Premier Boris Johnsen."
Einfach irre! (1.: Aha, deshalb wird das immer nix gg. BJ, - wer solche Pappkameraden zum Freund hat, und angeblich nach vorne, gar "in die erste Reihe" stellt, braucht keine Feinde mehr! 2. ist diese 3. o. 4. Schreibtischreihe eines höchst untauglichen "Journalismus", profess. "Aktivismus" usw. nun wahrlich nicht die "erste Widerstandsreihe", 3. ist Mason vor allem als Corbyn- u-. Leftist-Huber auffällig geworden, was einem echten BJ-Widerstand ja schon maximal widerspricht, 4. sollte man seine Feindesnamen erstmal richtig schreiben können, bevor man einen auf Dicke Hose macht, mit "Widerstand" und so, - aber ist eben 3. u. 4. "Jounalismus"-Reihe) ...
"Hier schreibt er, was daraus erwachsen kann"
Ja, das "kann", der Konjunktiv, ist der treueste, aber einzige Begleiter dieser Pseudo-Opposition seit mindestens Blair, eher deutlich früher.
"Die Linke wusste, dass der Plan, den Johnson sich für uns ausgedacht hatte, darin bestand, dass wir ihn im Parlament blockieren."
Was für eine dümmlich-flache Totalunterschätzung der Pläne, Taktik-Optionen u. strateg. Spielräume BJ's u. seiner Camarilla.
Aber mit
"Doch was geschieht, wenn sich ihre Macht verflüssigt und große Männer zu Clowns werden, das ist über herkömmliche Methoden, Machtverhältnisse zu untersuchen, nie ganz fassbar."
wird ja die backdoor aus der großsprecherisch-selbstgefällig gestellten Sackgasse schonmal vorgeöffnet.
Mit den inzw. 70% an brexit-bereiten Briten im Rücken haben BJ & Co. tatsächlich bei Neuwahlen eine gute Chance gewählt zu werden, obgleich ohne diese Sache knapp 70% der Briten nichtmal im Traum daran denken würden einen wie BJ aufs Schild zu heben. Und wenn sie doch verlören, ist die künstlich zusammengezwungene (Parlaments-Suspendierung) Phalanx aus BJ- u. Brexit-/No-Deal-Gegnern mit nicht wenigen parlamentarischen Kniffen und Machtversprechen wieder ganz schnell zu BJ's Gunsten umzumodeln, notfalls zieht er mit dem dann zunächst erwarteten, aber eher unwahrscheinlichen, Brexit-"Deal" dieser Phalanx Meister Corbyn & Co. wie am Nasenring solange durch die Manege, bis die Leute wieder mal eine neue Nummer sehen wollen ...
An Boris Johnson gefällt mir, dass er anscheinend gegen alle Widerstände bereit ist, das drei Jahre alte Brexit-Votum zu exekutieren. – Ganz anders als der saubere Alexis Tsipras in Griechenland 2015, der mit einem überzeugenden Mandat versehen war, es aber schließlich gegen die eigene Bevölkerung richtete.
Der “Schachzug” der Prorogation des britischen Premiers Boris Johnson, das Parlament zu beurlauben, ist ein politisches Mittel im Rahmen des britischen Parlamentarismus. – Eine Missachtung des Parlaments?
Die Alternative wäre eine (weitere) Missachtung des plebiszitär bekundeten Bürgerwillens – so wie üblich in der EU. – Hier handelt es sich offensichtlich um die Form der Verschleppung. Gexit-Vereitelung mittels Verrates, Brexit-Vereitelung mittels Verschleppung.
'Bürgerwille'? Sie meinen die Antwort auf die Frage ob den alle' gebratene Hähnchen in den Mund geflogen haben wollen'....
Lächerlich! Das ist ja wie 'wollt ihr Frieden...?' Nun stellt BoJo aber eine andere Frage. Und die lautet :'wollt ihr den totalen Krieg'. Mal schauen was der Bürgerwille dazu sagt..
»Nun stellt BoJo aber eine andere Frage. Und die lautet :'wollt ihr den totalen Krieg'. Mal schauen was der Bürgerwille dazu sagt..«
Schauen Sie doch mal, was ich sonst noch zum Thema Bürgerwille vs. EU geäußert habe, bevor Sie mich so anfahen.
Und schauen Sie mal, was ich heute Morgen meiner Tageszeitung entnommen habe: »Die Abgeordneten stimmten am Mittwochabend für ein Gesetz, das einen ungeregelten Austritt am 31. Oktober verhindern soll. Auch Johnsons Antrag auf eine Neuwahl am 15. Oktober schmetterten sie ab.
Johnson reagierte wütend im Unterhaus: „Das ist ein Gesetzentwurf, der dazu gemacht ist, das größte demokratische Abstimmungsergebnis in unserer Geschichte umzudrehen, das Referendum von 2016.“«
Recht hat er, der »BoJo«!
Die EU ist nichts anderes, als ein Kartell der beteiligten europäischen Regierungen, das ihren Bevölkerungen seinen Willen aufzwingt und sie im Sinne der monetären Machthaber domestiziert. – Und nun kommt so einer daher, »BoJo«, wie Sie ihn despektierlich nennen, und will dieses Prinzip durchbrechen. Prompt setzt der politisch-mediale Komplex das ein, was er immer einsetzt, wenn er ein bestimmtes Klima erzeugen und pflegen will: Eine gigantische Diskriminierungs- und Ausgrenzungskampagne der anderen Meinung und deren Protagonisten. –
Und der Michel fällt darauf herein, wie zumeist.
…
Was, meinen Sie, wollen die Johnson-Gegner denn anderes, als den Brexit schlechterdings zu vereiteln?
Es ist ja immer wieder das Gleiche Spiel: Noch nicht lange her, dass in Frankreich das neoliberale Arschloch Macron als einziges Mittel gegen Le Peng gepriesen wurde.
Und jetzt ist die neoliberale EU das einzige Heilmittel gegen das neoliberale Trumpeltier Johnson.
Immer die Pest als Heilmittel gegen die Cholera oder eben umgekehrt, alternativlos.
nicht nur ist alles wechselwirkung(a.von humboldt)
alles ist auch rela-tief, oft ärgerlich wenig positiver.
und zu den trumpel-tieren:
auch das böse will leben/wehrt sich gegen das aus-sterben.
und der höhepunkt des wirtschafts-liberalismus ist überschritten.
es dämmert: der wilde-sau-markt hat keine zukunft.
oda?
...ja, mehr ist da nicht zu sagen!!!
Warum möchte die britische Linke in der Europäischen Union der westeuropäischen Finanz- und Monopolbourgeoisie verbleiben?
''Etliche Linke, die eigentlich für den Brexit sind, schlichen mit Zeitungen im Arm an den Rändern umher, etwas zögerlich, aber doch willens, den Protest zu unterstützen.''
Wäre es nicht für die britische Linke leichter, den heimischen Kapitalismus und historisch überkommenen und fauligen Adel mit ihrer Galionsfigur Queen Mum an der Spitze, ohne die Mitgliedschaft in der EU zu überwinden und dauerhaft im Orkus ihrer feudalen Geschichte zu beseitigen? (!)
Wann kommt auch die vorgestrige britische Linke im 21. Jahrhundert an?
07.09.2019, R.S.
Demokratie in UK? Welche Demokratie? Ein Land, dessen Regierungschef die Grundlage jeglicher Demokratie, das Parlament, ungestraft abschaffen darf, der seit 3 Jahren mit seinen Kumpanen ungestraft das Volk belügen und manipulieren kann, der letztendlich ohne Votum des Volkes in den Sattel der Macht gehievt werden konnte, kann niemals eine Demokratie sein. Man stelle sich vor, Wladimir Putin würde die russische Duma entmachten und am Parlament vorbei Grundsatzfragen der russichen Gesellschaft entscheiden - das mediale Theater hier im Westen wäre riesig. Im Falle der Insulaner und ihres Regierungsclowns lesen wir nicht annähern Grundsatzkritik, schon gar nicht von der Merkel-Regierung. Aber auch die EU ist in weiten Strecken eine demokratiefeidnliche und intransparente Organisation. Erst kürzlich konnte man dies an den Kungeleien im Hinterzimmer bei der Implementierung einer gewissen Uschi aus Niedersachen erleben. Kurzum: Im Westen gibt es keinen Grund in Puncto Demokratie mit den Fingern auf Andere zu zeigen.