Einer der sagenumwobenen Tempel in Hanoi - der Den Hai Ba Trung - erinnert an die beiden Schwestern Trung, denen es um das Jahr 43 u.Z. zu verdanken war, dass die wieder einmal in den Norden Vietnams eingefallenen Chinesen zurückgeschlagen wurden. König Ly Anh Tong gab 1143 den Auftrag, das den Schwestern Trung gewidmete Bauwerk zu errichten. Dabei wurden die Hai Ba Trung mit erhobenen Armen als Steinstatuen dargestellt. Der Schrein des Tempels beherbergt eine Waffensammlung - geöffnet werden darf er nur am ersten und fünfzehnten Tag des jeweiligen Mondmonats zu Ehren der beiden Schwestern.
Es dauert, wenn die Schwestern Mai und Binh den Sonntag gemeinsam ausklingen lassen. Die blaue Stunde am Abend, wenn es in der Ebene der Reisfelder ringsherum zu irrlichtern beginnt,
rlichtern beginnt, ist ausschließlich der Familie vorbehalten. Binh, die Jüngere der beiden, gibt amüsiert Sprechübungen ihres knapp zweijährigen Sohnes zum besten. Sie erinnert sich der eigenen Kindheit, als sie - gerade vier geworden - von der damals 14-jährigen Schwester zur Arbeit mitgeschleppt wurde, und der Krieg eine ganze Kindheit aufzehren konnte. Das war in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Amerikanische Langstreckenbomber tauchten immer häufiger am Himmel über Hanoi oder Haiphong auf. Damals, als Zehnjährige bereits, begann Mai, an der Nähmaschine zu arbeiten - nach der sechsten Klasse verließ sie die Schule.Mai und Binh haben an diesem Märzsonntag bei ihrer Mutter gegessen, die mit einem jüngeren Bruder weiter das Haus ihrer Jugend in einem Vorort der vietnamesischen Hauptstadt teilt. Ist die knappe Sonntag-Abend-Freizeit vorbei, kehrt jede der Schwestern nach Hause zurück. Binh, die 30-jährige, schwingt sich auf den Rücksitz eines Motorrades und fährt mit ihrem Ehemann zu dem etliche Kilometer entfernten Wohnhaus, das ihre kleine Familie allein bewohnt. Mai, die zehn Jahre ältere Schwester, geht den kurzen Weg bis zu einer wenig komfortablen, fast armseligen Behausung mit ihrem Mann und den Söhnen zu Fuß. Ein Motorrad besitzen sie nicht.Mais Hütte besteht aus zwei Zimmern, in denen außer der engeren Familie noch die Schwiegereltern und eine unverheiratete Schwester ihres Mannes beherbergt werden. Weil es für Stühle keinen Platz gibt, müssen die mit Sprungfedern und einer dünnen Bastmatte versehenen Betten tagsüber als Sitzgelegenheit dienen. Die Fenster sind unverglast, so dass im kurzen, feuchtkalten Winter zwischen Januar und März der Nordwind nicht nur durch die Ritzen, sondern auch durch die Fensterlöcher dringt, während im Sommer für eine wohltuende Luftzirkulation gesorgt ist. Einen Wasserhahn gibt es nur auf dem Hof, und als Toilette dient ein Loch im Fußboden, ebenfalls auf dem Hof hinter einer Trennwand.Doch der wirtschaftliche Aufschwung Vietnams hat auch in Mais bescheidenem Domizil Spuren hinterlassen: Vor drei Jahren konnte sie sich einen Kühlschrank leisten, vergangenen Sommer sogar einen eigenen Telefonanschluss. Mai ist in Dong Hoc an der Banlieue von Hanoi eine gefragte und angesehene Frau: Sie gehört zur Gemeindeverwaltung und kümmert sich besonders um den Schulbetrieb. Wer sein monatliches Schulgeld bezahlt oder sein Kind zum Unterricht anmeldet, kommt an Mais Büro nicht vorbei. Die 40-jährige genießt den Ruf einer auf Tradition, Würde und Gemeinsinn bedachten Mitbürgerin, die sich aus Sorge um die Familie nie vor schwerer Arbeit scheut.Wenn in dieser Gegend am frühen Morgen Marktfrauen mit Körben voller Früchte und Gemüse unterwegs sind - eine Last, die sie am Schulterjoch mit wiegendem Schritt über die Brücken am Roten Fluss schleppen -, dann lässt sich hautnah miterleben, was es heißt, dass in der vietnamesischen Großfamilie bis heute oft die Frauen das meiste zum Lebensunterhalt beitragen. In Dong Hoc gilt es beispielsweise als völlig selbstverständlich, dass Mai neben ihren vielen Pflichten noch ihren Schwiegervater - einen Kriegsinvaliden - versorgt. Respekt vor der Tradition, das prägt das Leben der Gemeinde, das ist Politik in Dong Hoc, und Mai's Ehemann ist als Parteisekretär des Dorfes für Politik zuständig. Er achtet auf den Zusammenhalt aller und wacht darüber, dass sich junge Familien an das Gebot der Zwei-Kind-Ehe halten, die von der Regierung seit 1990 empfohlen wird, um ein exponentielles Bevölkerungswachstum einzudämmen.Umgerechnet 46 Dollar verdient Mai im Monat, 60 ihr Mann - ab 120 Dollar wird derzeit in Vietnam von einem "guten Einkommen" gesprochen. Zwischen 1991 und 1998, als das Land jährlich Wachstumsraten zwischen sieben und elf Prozent vorweisen konnte, wurden 1996 die Gehälter im öffentlichen Dienst einmalig verdoppelt: Eine Brachiallösung, die der Tatsache Rechnung trug, dass zusehends mehr qualifizierte Staatsbedienstete zu florierenden Privatunternehmen abwanderten oder sich mit Schmiergeldern Nebeneinkünfte sicherten, um bei einem allgemein steigenden Lebensstandard mithalten zu können. Die Bestechlichkeit der Behörden - die Vetternwirtschaft überhaupt - ließ die Regierung schon vor geraumer Zeit mit einer nationalen "Antikorruptionskampagne" beginnen, die mit drakonischen Strafen droht. Getroffen hat das bisher etliche Prominente, darunter einen Vizepremier oder mehrere Parlamentsabgeordnete - 41mal wurde in den vergangenen fünf Jahren in Vietnam gegen korrupte Politiker, Beamte oder Firmenchefs die Todesstrafe verhängt.Mai weiß, wie sehr sie mit dem eigenen Gehalt Einkünften im privaten Gewerbe hinterher hinkt, andererseits gelten ihre Bezüge als sicher. Die erwähnte Schwägerin, die ebenfalls im Haushalt lebt, bringt seit zwei Jahren gar kein Geld mehr nach Hause. Sie verlor ihren Job als Arbeiterin einer Fabrik für Feuerwerkskörper, als die "Krise der kleinen Tiger" ausbrach und Länder wie Thailand oder Malaysia als Abnehmer ausfielen.Mais Schwester Binh verkörpert den ganz anderen Lebensentwurf, wie er für das Vietnam des "Doi Moi", der Öffnung und des Aufbruchs, nicht untypisch ist. Binh war die erste aus der Familie, die bis zum Abitur zur Schule gehen und anschließend Medizin studieren konnte. Dass sie dabei mit manch überlieferter Vorstellung brechen musste, ohne selbstherrlich zu sein, wird in Dong Hoc akzeptiert: Binh verdient heute umgerechnet 270 Dollar im Monat. Ein Einkommen, das nicht zuletzt auch eingespielte Muster von familiärer Ordnung sprengt. So hat die Schwiegermutter vier Monate nach der Geburt des Enkels eine schlecht bezahlte Stellung als Lehrerin aufgegeben, um Binhs Nachwuchs zu betreuen. Damit ihr dabei allzu schwere Hausarbeit erspart bleibt, wurde eine Waschmaschine angeschafft - ein Tabubruch sondergleichen, gilt es doch als Tugend, dass vietnamesische Frauen nicht nur die Wäsche der Familie selbst besorgen, sondern dies entsprechend der Hierarchie einer nach dem Senioritätsprinzip strukturierten Gemeinschaft geschieht: Das heißt, Binh hätte sich der Wäsche ihrer Schwiegermutter anzunehmen - nicht umgekehrt. Der müsste sie im übrigen auch Unterkunft in den eigenen vier Wänden gewähren, da es üblich ist, stets die gesamte Familie unter einem Dach zu versammeln. Binh hat darauf verzichtet. Als Managerin muss sie einen Elf-Stunden-Tag durchstehen - und das sechsmal in der Woche. Erholen kann sie sich nur, wenn ihr Zuhause wirklich ihr eigenes Refugium ist. Mit anderen Worten, der Satz des 1969 verstorbenen Staatsgründers Ho Chi Minh - "Nichts ist kostbarer als Unabhängigkeit und Freiheit" - hat für die Managerin Binh etwas höchst Zeitgemäßes. Anders als die ärmliche Hütte ihrer Schwester Mai besteht Binhs Haus aus zwei Etagen, verfügt über einen Wasseranschluss und verglaste Fenster. Für den zweijährigen Sohn, den Binh nur frühmorgens und am Sonntag sieht, wird gerade ein Kinderzimmer ausgebaut. Binhs Ehemann hat fünf Jahre in Moskau Philosophie studiert, fand jedoch nach seiner Rückkehr im Jahre 1992 keine Anstellung. So rang er sich kurzentschlossen zu einer Elektrikerlehre durch. Dank seines Geschicks und einer boomenden Bauwirtschaft verdiente er bis vor zwei Jahren gutes Geld. Dann kam die Asienkrise - und nun bleibt ihm ausreichend Zeit, sein eigenes Haus fertig zu stellen.Auch Binhs Karriere stand anfangs keineswegs unter einem besonders günstigen Stern. Als sie vor sieben Jahren ihr Medizinstudium beendete, stand sie vor der gleichen Situation wie ihr Ehemann. Sie hatte studiert, als es noch nicht darauf ankam, ob die Familie wohlhabend war oder nicht. Anders als heutige Schüler und Studenten brauchte Binh kein Schulgeld und später keine Studiengebühren zu zahlen. Auch der Zugang zu einer gut dotierten Anstellung schien Ende der achtziger Jahre noch nicht vom Geld der Familie abhängig zu sein. Nach dem Staatsexamen 1993 war das grundlegend anders. Wer als Arzt praktizieren wollte, musste entweder äußerst wohlhabend sein oder eine Praxis geerbt haben. Doch in Binhs Familie gab es weit und breit keinen Mediziner. Auch die Stelle in einem Hospital war ohne familiäre Beziehungen nicht zu ergattern.So fiel schließlich die Entscheidung, nach Europa auszuwandern. Binhs Cousin, der in Ho-Chi-Minh-Stadt lebte, sollte ihr das Geld dafür vorschießen, konnte jedoch nur 1.700 Dollar erübrigen, zu wenig für die Reise nach Europa. Binh suchte noch, als plötzlich ein holländisches Pharma-Unternehmen in Hanoi eine Niederlassung eröffnete. Die 1.700 Dollar des Cousins reichten für ein Motorrad, das wiederum garantierte Mobilität und damit eine Stelle bei den Niederländern. Binh wurde mit 120 Dollar Anfangsgehalt eingestuft - seinerzeit ein Spitzeneinkommen. Dann kam alles Schlag auf Schlag: Das Handelsembargo der USA gegen den einstigen Kriegsgegner fiel 1994. Ein US-Pharmakonzern investierte in Hanoi und warb Binh mit einem Gehaltsangebot von 200 Dollar ab - in ihrer neuen Firma konnte sie zur Managerin aufsteigen.Zweimal in der Woche sieht Binh bei ihrer Schwester Mai vorbei, versorgt vor allem deren schwerkranken Schwiegervater mit Medikamenten. Dass sie bei einer Firma aus dem Land des einstigen Feindes arbeitet, stört in der Familie niemanden mehr. Die wirtschaftliche Öffnung Vietnams verschafft vielen einen besseren Lebensstandard oder zumindest die Hoffnung darauf. Schwester Mai bereitet etwas ganz anderes Sorge: Der Bruch mit der traditionellen konfuzianischen Lebensweise könnte auf ihre Kinder abfärben. Der älteste Sohn will partout seinen 14. Geburtstag feiern und argumentiert, dass eine Tante namens Binh schon den ersten Geburtstag ihres Sohnes nicht einfach so verstreichen ließ. Normalerweise werden in Vietnam von jeher allein die Todestage einstiger Familienmitglieder feierlich begangen - wie es nach den Lehren des Konfuzius die Achtung vor dem Alter und vor den Ahnen gebietet.Zwischentexte aus dem Daudedsching des Laudse
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