Vom Lügen und Betrügen

Debatte über "Parasiten" Der ausrangierte Minister Clement hinterlässt ein schäbiges Papier

Einmal mehr bekämpfen verantwortliche Politiker nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen. Doch trotz starker Bemühungen von Wirtschaft und Politik findet das Argument "Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten" bislang keine Mehrheit in der Bevölkerung. Deshalb wird nun versucht, sie zu spalten. Der Report vom Arbeitsmarkt aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA), der gegen "Missbrauch, ›Abzocke‹ und Selbstbedienung im Sozialstaat" mobil macht, hat genau diese Funktion. Die Solidarität mit faulen, parasitären Fremden aufzukündigen - so das Kalkül - wird den Bürgerinnen und Bürgern leichter fallen als mit Menschen wie du und ich.

Das Papier aus dem Hause Wolfgang Clements suggeriert, die den Sozialstaat unsolidarisch aussaugenden "Parasiten" hätten es nicht anders verdient, als von den Jobcentern gegängelt und kontrolliert ohne Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz in Armut zu leben. Nicht nur, dass sie einfach nicht genug Verantwortung für sich selbst übernehmen, das Papier beschuldigt sie, die Solidargemeinschaft wie parasitäre Fremdkörper auszunutzen und damit die wahre Ursache des Problems zu sein.

Was bereits durch die Rhetorik der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik als persönlicher Makel und individuelles Scheitern konstruiert wurde, wird durch den pauschalen Vorwurf des Lügens und Betrügens notwendig ergänzt. Die Stigmatisierung der Langzeitarbeitslosen ist notwendig, um sie sozialpolitisch aus dem Blickfeld zu rücken. Gleichzeitig soll gegen Personen Stimmung gemacht werden, die - notfalls vor Gericht - ihre Rechte einfordern.

Missbrauch im Clementschen Sinne ist nicht streng juristisch zu definieren. Denn das Papier kritisiert - neben offensichtlichen Beispielen für Betrug im strafrechtlichen Sinne - die "Zuhilfenahme von Schlupflöchern und geschickten Interpretationen von Bestimmungen", mit denen Menschen versuchen, "an öffentliche Leistungen auf eine Weise zu kommen, die den Geist der Reformgesetze auf den Kopf stellt". Nicht alles, was der Wortlaut des Gesetzes gestattet, ist also auch moralisch statthaft.

So wurden mit Hartz IV die bisher im Sozialhilferecht geltenden sehr strengen Einstandspflichten zwischen Eltern und volljährigen Kindern bewusst gelockert. Junge Erwachsene gelten als eigene Bedarfsgemeinschaft und erhalten eine eigene Leistung; Eltern müssen nur noch für volljährige Kinder unter 25 Jahren ohne abgeschlossene Erstausbildung zahlen. Das aber wird nun - aus Spargründen - als Fehlsteuerung und Einladung zum Missbrauch dargestellt. Das Ziel ist offenbar die Wiedereinführung der alten Sozialhilferegelungen und die Ausdehnung auf alle ALG II-Empfänger/innen, was man bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe noch nicht gewagt hatte.

Falsche Darstellung des Ministeriums

Die wirtschaftliche Bedeutung privater Solidarität zeigt sich besonders deutlich an den - rechtlich falschen - Ausführungen des Clement-Papiers zur eheähnlichen Lebensgemeinschaft. Eheähnliche Paare müssen laut Gesetz ebenso wie Ehepaare füreinander einstehen. Verdient der/die Partner/in genug Geld (nämlich mehr als das eigene Existenzminimum plus Freibetrag bei Erwerbsarbeit), wird das Einkommen angerechnet und die arbeitslose Person gilt als nicht bedürftig, erhält also gekürzte oder keine Leistungen. Die Sozialversicherung und die Chance auf Förderleistungen zur Reintegration ins Erwerbsleben fallen praktisch weg. Das ist eine hohe Belastung für Menschen, die eigentlich keine gegenseitigen Unterhaltspflichten wie Ehepaare haben. Deshalb sind die Gerichte sehr streng: "Eheähnlich" ist laut Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht, die dies bereits lange vor Inkrafttreten von Hartz IV entschieden haben, nicht jedes Zusammenleben von Mann und Frau.

Auch das Hinzutreten einer sexuellen Beziehung reicht nicht aus, denn Beziehungen von heterosexuellen Paaren, denen die Pflichten der Ehe auferlegt werden, müssen sich durch starke innere Bindungen auszeichnen, die ein Füreinander-Einstehen begründen und beinhalten. Auch jahrelanges gemeinsames Leben reicht den Gerichten als alleiniges Indiz meist nicht aus. Da die Behörde das Vorliegen nicht irgendeiner, sondern einer eheähnlichen Beziehung beweisen muss, haben Kläger/innen vor Gericht gute Karten. Nun wird eine Umkehr der Beweispflicht gefordert, das hieße, Paare müssten beweisen, dass sie nicht eheähnlich leben.

Kernelement von Hartz IV ist gerade die Ausweitung privater Einstandspflichten, mit negativen Folgen (besonders für Frauen) und immensen Einsparmöglichkeiten für den Staat. Die strenge juristische Auslegung ist den für Hartz IV Verantwortlichen offenbar ein Dorn im Auge; deshalb wird im politischen Diskurs die Selbstverständlichkeit des gegenseitigen Einstehens auch in nichtehelichen Beziehungen propagiert. Sogar der "Ombudsrat Hartz IV", der das Gesetz eigentlich kritisch überprüfen sollte, wurde trotz vieler Beschwerden über die strengen Einstandspflichten nicht müde, die Selbstverständlichkeit der finanziellen Inpflichtnahme von Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zu betonen und fordert nun auch noch die Verschärfung der Kontrollen. Politiker neigen im sozialpolitischen Zusammenhang dazu, von den "wirklich Bedürftigen" zu sprechen, zu denen jene, die mit einem erwerbstätigen Partner zusammenleben, nicht zählen sollen. Auch die gängige Sozialverwaltungspraxis geht entgegen der Rechtsprechung bereits beim Zusammenwohnen von einer eheähnlichen Beziehung aus. Das Clement-Papier berichtet demzufolge gleich im ersten Kapitel von nackten Männern auf dem Balkon und erklärungsbedürftigen "Kuhlen" im Ehebett. Ins Auge fällt dabei die Süffisanz in der Darstellung der "Missbrauchsfälle". Das Papier verschweigt, dass unangemeldete Hausbesuche der Ämter nicht in die Wohnung gelassen werden müssen und die Untersuchung der Bettstatt im Übrigen gegen das Persönlichkeitsrecht und letztlich gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes verstößt. Nicht der fliehende Bettgenosse verhält sich würdelos; die Umstände, die vom Sozialstaat und seinen Gesetzen herbeigeführt werden, entwürdigen alle Beteiligten.

Dass sich aus Nächten im gemeinsamen Bett noch keine eheähnliche Gemeinschaft folgern lässt, unterschlägt das Papier einfach, aber sogleich wird die unsägliche Behauptung aufgestellt, Berater/innen (wie eine PDS-Abgeordnete), die Paare auf die Rechtslage hinweisen, würden strafrechtlich relevant zum Betrug auffordern. Die ertappten "Betrüger" müssten die zu Unrecht erhaltenen Gelder zurückzahlen und mit Strafanzeige rechnen. "Viele wollen einfach nicht gelten lassen, dass der Staat erst einspringt, wenn niemand sonst im gemeinsamen Haushalt Unterstützung leistet", zitiert das Papier einen Prüfer der Aufspürtruppe der Bundesagentur. Diese Aussage ist in ihrer Absolutheit schlicht und einfach falsch.

Doch die Broschüre geht noch weiter, indem sie indirekt zu Denunziation auffordert. Der Hinweis einer Nachbarin: "Die lebt mit einem Mann zusammen, der sie ernährt und unterstützt - die fahren ein großes Auto", führt zum erfolgreichen Enttarnen vermeintlicher "Parasiten". Damit schließt sich der Kreis der rhetorischen Grenzziehung zwischen den Arbeitslosen (=Parasiten) und den "Anständigen".

Diskriminierende Handschrift

Die Kampagne des BMWA trägt eine Handschrift, als wollte sie Frauen und Männer zurück zu den Ehe- und Unterhaltsverhältnissen des 19. Jahrhunderts bringen. Das Gebot, dass laut SGB II Ehegatten und eheähnliche Paare füreinander aufkommen müssen, setzt die Tradition des (männlichen) Ernährermodells fort. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem "Arbeitslosenhilfeurteil" von 1992 bereits aufgezeigt, wie man für Eheleute und gleichgestellte Paare den Zwang zur Alleinverdienerehe schrittweise würde aufbrechen können: Es hatte nicht nur strengere Maßstäbe für die Feststellung einer "eheähnlichen Beziehung" vorgegeben, sondern auch angeordnet, dass die Selbstbehaltbeträge für den verdienenden Teil des Paares deutlich erhöht und dynamisiert werden müssten. Doch in Deutschland scheint sich die Uhr rückwärts zu drehen, nicht die Entwicklung hin zum geschlechteregalitären Zweiverdienerhaushalt strebt die Politik hier an, sondern sie verstärkt wieder die Elemente des männlichen Ernährermodells.

Die Regeln zur Anrechnung von Partnereinkommen sind eindeutig mittelbar diskriminierend, denn es werden sehr viel mehr ALG II-Ansprüche von Frauen als von Männern gekürzt und gestrichen - mit weitreichenden Nachteilen für die Existenzsicherung und Partizipation von Frauen, nicht nur während der Zeit der Anrechnung, sondern in der gesamten Erwerbsbiographie. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, derartige Regelungen verfestigen die Ungleichheits- und Abhängigkeitsmuster, anstatt sie zu überwinden. Dies aber wäre nach dem Grundgesetz gerade die Aufgabe des Staates und speziell der Gesetzgebung.

Als Gegenwehr gegen ein solches Projekt der Entsolidarisierung der Gesellschaft müssten Konzepte ausgearbeitet werden, die eine geschlechteregalitäre Umorganisation von bezahlter und unbezahlter Arbeit vornehmen und parallel dazu ein soziales und partizipativ individualisiertes Sicherungssystem schaffen.

Maria Wersig ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin; Sabine Berghahn ist Politikwissenschaftlerin und Juristin, Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin.


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