FREITAG: Wie lange wird es noch die rot-grüne Regierung geben?
SCHMIDBAUER: Dies hängt von der Regierung selbst ab. Es kommt darauf an, ob weiter Vertrauen verspielt oder ob es wieder gewonnen wird. Entscheidend ist, wie derzeit parlamentarische Prozesse funktionieren und welche Wirkungen diese dann auf die Menschen haben.
Meinen Sie damit den Agenda-Prozess?
SCHMIDBAUER: Ich meine damit das Verständnis, wie derzeit parlamentarische Mehrheiten geformt werden. Beim Gesundheitskompromiss ist die Meinungsbildung nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten durchgesetzt worden. Wir müssen nun wieder zu einem Neuanfang kommen. Und dabei ist darauf zu achten, ob der Satz "Wir haben gelernt" auch Wirklichkeit wird.
BARTHEL: Wir wollen, dass diese Regierung handlungsfähig bleibt und die SPD 2006 wieder erfolgreich aus der Wahl hervorgeht.
Was ist denn wichtiger: Die Handlungsfähigkeit der Regierung zu erhalten oder andere Ziele zu verfolgen, wie den Schutz vor sozialem Abstieg breiter Teile der Bevölkerung?
SCHMIDBAUER: Dies ist doch kein Widerspruch. Unser Handeln in der Regierungsverantwortung muss doch darauf gerichtet sein, die Menschen vor starken Benachteiligungen zu schützen.
BARTHEL: Wer nicht handlungsfähig ist, kann niemanden schützen, vor allem nicht auf Dauer. Dadurch, dass wir die Gesetze in verschiedenen Bereichen korrigiert haben, ist die Koalition in einer besseren Ausgangsposition im Vermittlungsverfahren. Denn wir können jetzt auch in der Öffentlichkeit geschlossen für unsere Vorstellungen werben. Wir sind zum Beispiel in der Frage der Arbeitsmarktpolitik nicht mehr durch die Union so angreifbar, wie das noch im Sommer der Fall war. Damals versuchte die Union, uns - ich denke beispielsweise an die Vermögensanrechnung - links zu überholen, um unter diesem Mäntelchen weitere Verschärfungen durchzudrücken. Nein, wir können unsere Vorstellungen zu den Kommunalfinanzen, zur Steuer- und Arbeitsmarktreform in ihrem inneren Zusammenhang in der Öffentlichkeit darstellen - im Ergebnis haben unsere Korrekturen die Koalition gestärkt.
Was werden Sie tun, wenn die umstrittenen Gesetze verschärft aus dem Vermittlungsausschuss zurückkommen?
SCHMIDBAUER: Darauf jetzt zu antworten wäre unklug, denn die Gegenseite wüsste dann, wie sie agieren muss. Es geht ja auch nicht mehr nur um einzelne Abgeordnete oder einige Abweichler. Wir haben doch mit der Demonstration am 1. November in Berlin oder bei unserem Bochumer Parteitag gesehen, wie kritisch und engagiert die Bevölkerung den Reform-Prozess beobachtet.
Hätten Sie nicht den Agenda-Prozess überhaupt ablehnen müssen? Schließlich sind zahlreiche Verschlechterungen in Kauf genommen worden, wie etwa beim Kündigungsschutz oder bei der Arbeitslosenhilfe.
BARTHEL: Wir haben diesen Kurs grundsätzlich in Frage gestellt und werden weiterhin um die Richtung der Reformpolitik kämpfen. Unsere Ablehnung einzelner Gesetze im Parlament hätte nur dazu geführt, dass wir nichts von unseren Positionen hätten durchsetzen können. Sehen Sie, der Druck der Unternehmen wird doch immer stärker. Die Schwächung der Regierung hätte nichts verbessert. Man sieht doch, dass die Union ihre Forderungen ständig radikalisiert und der Gegendruck noch zu schwach ist.
Aber muss sich die SPD diese Radikalisierung nicht selbst zuschreiben, wenn sie sich immer weiter von ihrem Parteiprogramm entfernt und damit Spielräume für die Opposition eröffnet?
BARTHEL: Man kann natürlich nicht erwarten, dass eine kleine Gruppe von Abgeordneten grundsätzlich den Agenda-Prozess stoppt. Wir können nur versuchen, die Diskussion in Gang zu halten und für unseren Kurs zu werben. Wenn man sieht, was der Bochumer Parteitag beschlossen hat, dann haben wir doch etwas bewegt. Nun thematisieren wir Bürgerversicherung und Ausbildungsplatzumlage, wir fordern die Sanierung der Rentenfinanzen auf der Einnahmenseite durch die Erwerbstätigenversicherung. Ich glaube nicht, dass dies möglich gewesen wäre, wenn wir nicht diese Diskussion angestoßen hätten. Anfangs wurden wir ins Abseits gestellt. Ich erinnere mich noch, wie Erhard Eppler mit Blick auf das Mitgliederbegehren sich auf dem Sonderparteitag hinstellte und sagte, dass er der Agenda 2010 vor allem deshalb zustimmt, weil die Alternativen überholt seien. Nun sind Teile genau dieser Alternativen, die wir damals aufgezeigt haben, in unsere Beschlüsse eingeflossen.
Viele Menschen haben mit dieser Argumentation ein Problem, denn es scheint doch eine Richtung eingeschlagen worden zu sein, die zu noch stärkeren Einschnitten ins Soziale Netz führen wird. Deshalb noch mal anders gefragt: Hätte Schwarz-Gelb eine Agenda 2010 aus der Taufe gehoben, dann hätten Sie doch dieses Projekt in Bausch und Bogen abgelehnt?
SCHMIDBAUER: Sie müssen schon den Wandel sehen, den wir bewirkt haben. Ich weiß sehr wohl, wie schwer es den Gewerkschaften im Frühjahr fiel, ihre Mitglieder gegen die Agenda 2010 zu mobilisieren. Die Menschen waren zu jenem Zeitpunkt nicht ausreichend für das Thema zu sensibilisieren. Damals herrschte auch auf dem Sonderparteitag eine Art Lähmung. Erst jetzt, wo die Auswirkungen so richtig deutlich werden, reagieren die Menschen wieder auf das Thema der so genannten "Reformen".
Die SPD war in den Umfragen noch nie so weit am Boden, wie dieser Tage. Hat die Sozialdemokratie überhaupt noch etwas zu bieten, was die Menschen anspricht?
BARTHEL: Der Bochumer Parteitag hat einen neuen Boden für unsere künftige Politik bereitet. Die Delegierten haben weitere Einschnitte ins soziale Netz deutlich problematisiert und Grenzen gezogen. Natürlich wird der Agenda-Prozess unter diesem Titel weitergeführt. Die Frage ist jetzt: mit welchem Inhalt? Die Ausrichtung ist doch mittlerweile wesentlich anders als zu Beginn der Agenda 2010. Zum Beispiel haben wir beschlossen, mehr in Bildung und Forschung zu investieren statt zu kürzen. Es wird künftig auch stärker um gerechten Lastenausgleich gehen. Allerdings nur dann, wenn sich innerhalb der Gesellschaft neue Mehrheiten bilden und wir solche Beschlüsse umsetzen und ausbauen.
Wäre es nicht besser, wenn es keine Regierung Schröder mehr gäbe, Sie in der Opposition wären und die gesellschaftlichen Kräfte bündelten, um gegen diese Politik zu kämpfen?
BARTHEL: Da wäre es zwar schön zu diskutieren, aber was würde das den Menschen bringen, wenn gleichzeitig die Anderen das Gegenteil von dem, was wir fordern, durchsetzen? Diese Situation hatten wir doch 16 Jahre lang unter Helmut Kohl. Die Linke in Deutschland muss begreifen, dass Frieden, soziale Gerechtigkeit und Fortschritt nicht nur in Oppositionsreden und auf Demos stattfinden dürfen, sondern dass diese Themen auch eine echte Perspektive im Regierungshandeln erhalten und dass sie auch eine Chance haben, Realität zu werden. Das setzt voraus, dass sich mehr Menschen in die Politik einbringen und sich der Machtfrage stellen.
SCHMIDBAUER: Es geht doch nicht nur um den Balsam für unsere politische Seele. Es finden harte Verteilungskämpfe statt, und ich habe eine wesentlich bessere Position in diesem Verteilungskampf, wenn ich an der Regierung bin.
Wie will die Sozialdemokratie aus dem derzeitigen Umfragetief mittelfristig wieder herausfinden? 2005 könnten Sie NRW verlieren und dann wäre Rot-Grün am Ende.
SCHMIDBAUER: Wenn der Bochumer Kurs sich weiter entwickelt, dann habe ich da keine Sorge. Die Opposition im Bundestag ist nun gezwungen, sich neu zu formieren und ihre Inhalte zu präsentieren. Dann wird für die Wähler sichtbar werden, welche Grausamkeiten die CDU/CSU wirklich vorhat. Sie sehen doch, was für ein abgekartetes Spiel bisher zum Beispiel auch ein Herr Seehofer veranstaltet. Erst läuft er durch die Republik und spielt den Robin Hood der Krankenversicherung, und dann drückt er der SPD die Privatisierung des Zahnersatzes und damit eine Kopfpauschale rein. Nichts anderes als eine Kopfpauschale ist dies doch, wenn eine Rentnerin künftig den gleichen Beitrag entrichten muss wie ich als Bundestagsabgeordneter.
Wenn sich die Umfragewerte bis spätestens Frühjahr 2005 nicht dramatisch zu Gunsten der SPD gewandelt haben, wäre dann eine Befreiung Ihrer Partei von Schröder/Clement nicht eine Befreiung für die SPD?
BARTHEL: Ich wende mich gegen eine Personalisierung. Wenn wir uns von den Inhalten ablenken lassen, landen wir in einer Falle. Wir müssen die Themen setzen. Auch in Krisenzeiten wird verteilt: Geld, Macht, Zeit. Korrekturen in unserem Sinne sind nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch wichtige Impulse für Wirtschaft und Arbeitsplätze. Und: Lassen wir uns nicht von denen auf die Verteilung reduzieren. Setzen wir die Ausrichtung der Wertschöpfung, ihre Qualität, ihren internationalen Zusammenhang, den gesellschaftlichen Bedarf auf die Tagesordnung. Dann gewinnen wir neue Mehrheiten. Dann kommen auch andere Personen nach vorne. Mit puren Verhinderungsstrategien haben wir alle doch hinreichend Erfahrungen unter Kohl gemacht. Wir hatten zwar die schönsten Demonstrationen, aber letzten Endes keine Erfolge.
Mit Schröder also ins Glück oder in den Untergang?
SCHMIDBAUER: Ich denke, wir haben noch wichtige Aufgaben zu erfüllen und sind erst bei der Halbzeit angekommen. Wir haben Boden verloren, aber wir holen das wieder auf.
Das Gespräch führten Sead Husic und Hans Thie
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