Austria is a small, stable and unimportant country« - der kühle amerikanische Pragmatismus von Tony Judt, dem Direktor des Remarque Instituts an der New York University, ist derzeit wohl nicht besonders durchsetzungsfähig; in Europa nicht und in Österreich vielleicht am allerwenigsten. Klein und stabil vielleicht, aber unbedeutend? Hat es Österreich mit seiner neuen Regierung nicht auf die Titelseiten der wichtigsten Zeitungen der Welt, hat es Jörg Haider nicht sogar aufs Cover des Time Magazine und des eingangs zitierten Newsweek geschafft? Zwar ist die den Österreichern gern zugeschriebene Sehnsucht nach den geopolitisch bedeutsameren Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg eine statistisch vernachlässigenswerte Größe, aber sollte die internationale Beachtung in Folge eines global verbreiteten Amnesie-Virus plötzlich abreißen - wer weiß, ob man nicht ein auch bisschen gekränkt wäre?
Derzeit tun die Gegner der jetzigen Regierung freilich alles, um wahrgenommen zu werden. Vergangenen Samstag marschierten sie auf den Heldenplatz, wo die Wiener einst Adolf Hitler zugejubelt hatten. Ob es nun 150.000 Menschen waren, wie die Polizei schon vor der Demonstration prognostizierte, oder 300.000, mit denen die Veranstalter sogar die Beteiligung am »Lichtermeer« von 1993 überboten haben wollen, ist letztlich egal. Es können jedenfalls nicht bloß ausländische Kommunisten, Alt-68er, Internet-Freaks und von der Gewerkschaft bezahlte Lehrlinge gewesen sein - als welche die FPÖ die Demonstranten umgehend entlarvte. Dass die - vielfach im Schüler- und Studentenalter - neben dem Handy auch das Internet zu Organisationszwecken zu nutzen wissen, ist zwar richtig, unterscheidet sie von den Anhängern Haiders aber kaum. Man darf nicht vergessen, die FPÖ genießt unter den männlichen Jung-Wählern eine absolute Mehrheit. Und dabei handelt es sich keineswegs bloß um Modernisierungsverlierer, sondern um gut (aus)gebildete Menschen, die ihre Karrieren noch nicht gemacht haben, aber - wild dazu entschlossen - in Haider jene Figur erblicken, die ihnen den Weg ebnen und mit jenen Verkrustungen aufräumen wird, von denen liberale Leitartikler jahrelang behauptet haben, dass sie Österreichs Anschluss an die Moderne zugunsten einer großkoalitionären Aufrechterhaltung bestehender Machtstrukturen verhindere. Die letzten Hegelianer halten es ja sogar für eine List der Geschichte, dass liberale Sehnsüchte nun ausgerechnet von einer Regierung verwirklicht werden sollen, die alle Reste von liberaler Gesinnung in den eigenen Reihen über Bord geworfen hat. Dafür werden wir dann länger einkaufen können.
Dennoch hat sich in den letzten Wochen in Österreich einiges geändert, was unter den gegebenen Bedingungen möglicherweise zu teuer erkauft, abgesehen davon aber begrüßenswert ist. Das Land hat einen Schritt in Richtung Zivilgesellschaft unternommen, deren Bürger sich artikulieren, ohne auf die alten Formen korporatistischer Legitimation angewiesen zu sein. Man soll dergleichen nicht überbewerten oder romantisieren, aber dass die »Wiener Wandertage« (wie die täglich stattfindenen Demonstrationen ironisch genannt werden) nicht zuletzt von Twenty-und Thirty-Somethings getragen sind, die sorgsam darauf achten, parteipolitischen Vereinnahmungsversuchen zu entgehen und unter dem Motto »Wer mitmacht, ist dabei« die Etablierung einer Hierarchie von legitimen Repräsentanten zu verhindern trachten, stimmt freudig.
Die Euphorie seitens der Regierungsgegner kann freilich die Frage nach dem Wie nicht wirklich überdecken. Zwar ist die Prognose, die Bundeskanzler Schüssel schon vor der Demonstration am Heldenplatz abgab - danach werde Ruhe einkehren - sicher eine Fehlkalkulation, aber die Hoffnung, die Regierung per Protest zu stürzen, ist wohl noch weniger realistisch. Bei aller Begeisterung für die Politisierung einer angeblich politikmüden Jugend - über die politische Zukunft wird durch die Transformation bestehender Institutionen entschieden - nicht zuletzt die der SPÖ. Deren neuer Vorsitzender Alfred Gusenbauer hat mit seinen ersten öffentlichen Auftritten bei vielen Erleichterung ausgelöst: Versehen mit einer astreinen Parteikarriere (JUSO-Chef; Vizepräsident der SI und damit Vertreter von Willy Brandt; Nationalratsabgeordneter) konnte der erst Vierzigjährige den Eindruck vermitteln, dass hier kein medial übertrainierter Quereinsteiger, sondern ein Vollblutpolitiker mit Ecken und Kanten auftritt. Meinungsumfragen nach dem Regierungswechsel haben zudem - vor allem durch eklatante Sympathiezuwächse für die Grünen - der Möglichkeit eines rot-grünen Bündnisses erstmals auch eine statistische Basis verliehen. In einem Interview mit Profil meinte Gusenbauer jedenfalls, es liege auf der Hand, »auch mit den Grünen über ein gemeinsames neues gesellschaftliches Projekt zu diskutieren.«
Zu beobachten ist derzeit die Herstellung einer Öffentlichkeit, die in Österreich traditionell unterentwickelt und bislang stark vom Glauben an einen aufgeklärten Herrscher geprägt war - sei's der Kaiser oder die Sozialdemokratie. Sogar in der Kronen Zeitung konnte man, wie der Wiener Kabarettist Andreas Maurer unlängst erstaunt festhielt, dürre Information statt des gewohnten reaktionären Gegeifers finden. Dass Künstler und Intellektuelle bei dieser Neu-Konstituierung von Öffentlichkeit eine besondere Rolle spielen, ist klar und dennoch nicht selbstverständlich. Die permanente Promi-Befragungen, die den jeweils präferierten Großkünstlern und Meisterdenkern im Halb-Wochen-Takt zwei Sätze Empörung oder Gelassenheit abringen, sind bloß Simulationsformen von Öffentlichkeit, und die in Österreich noch immer wirkungsmächtige Vorstellung vom Künstler als Künder, der gleichsam ex cathedra die Wahrheit über das Wesen der Nation verlautbart, ist Teil einer historischen gewachsenen Misere und nicht deren Überwindung.
Deswegen war und ist es ein großes Missverständnis, jemanden wie Thomas Bernhard zum Propheten der österreichischen Wirklichkeit zu stilisieren - die Fetischisierung einer Kunst-Öffentlichkeit war immer schon das Symptom einer verkümmerten politischen Öffentlichkeit.
Natürlich muss der zynischen Kunstverachtung der FPÖ, die alle ihr nicht genehmen Künstler (und das sind zur Zeit rund 100 Prozent aller international bekannten Kunstschaffenden) als »willfährige Subventionsnutten und Staatskünstler« denunziert, entgegengetreten werden, weil eine derartige Verächtlichmachung nicht bloß kunstfeindlich, sondern einfach menschenunwürdig ist. Man muss der Politik der neuen Rechtsregierung aber nicht durch künstlerische verbrämte Politikverachtung à la Bernhard, sondern durch die Repolitisierung der Linken entgegentreten. Wenn sich Künstler daran beteiligen wollen: They're welcome!
Klaus Nüchtern ist Kulturredakteur und stellvertretender Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung Falter.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.