Claus Offe gehört seit Mitte der siebziger Jahre zu den einflussreichsten Theoretikern der Arbeitsgesellschaft und des Wohlfahrtsstaates. Er studierte Soziologie an der FU Berlin und arbeitete danach vier Jahre als Assistent von Jürgen Habermas in Frankfurt am Main. In dieser Zeit war er unter anderem Mitverfasser von Hochschule in der Demokratie (1965), einem Klassiker der 68er-Bewegung. Zuletzt lehrte Offe Politische Soziologie und Sozialpolitik an der Humboldt-Universität Berlin, seit April 2005 ist er pensioniert. Zu seinen wichtigsten Schriften gehören Strukturprobleme des kapitalistischen Staates (1972), Arbeitsgesellschaft. Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven (1984), seine jüngste Buchveröffentlichung trägt den Titel Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten (2004).
FREITAG: Mit Frankreich und den Niederlanden haben jüngst zwei Kernländer der EU den Europäischen Verfassungsvertrag abgelehnt. Weite Teile der französischen Linken waren überzeugt, das Projekt werde eine technokratische und neoliberale Politik festschreiben. Wie haben Sie diesen Verfassungsentwurf gelesen?
CLAUS OFFE: Man muss zunächst einmal im Kopf behalten, dass die beiden Voten auf sehr verschiedene Motive zurückgingen. Man hat davon gesprochen - und das ist nicht ganz falsch -, dass es eine linkspopulistische, aber auch eine nationalistische oder rechtspopulistische Abwehrposition gab. Man sollte gleichfalls nicht vergessen, dass Plebiszite immer problematisch sind, weil niemand garantieren kann, dass die Leute wirklich auf die Frage antworten, die ihnen gestellt wird, oder nicht eher die Frage im Kopf haben: "Möchten Sie Herrn Chirac ernsthafte Schwierigkeiten machen oder nicht?"
Für den Fall, dass Referenden scheitern, kann man sich an niemanden wenden, den man bestrafen oder zur Verantwortung ziehen kann. Das Volk kann schließlich nicht mit sich selbst sprechen.
Wenn ich einige Ziele dieser Verfassung zitieren darf: Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Etablierung der berühmten Marktfreiheiten, Eigentumsrecht ohne soziale Bindung, Verpflichtung auf globalen Freihandel, Sozialpolitik der Wirtschaftspolitik untergeordnet, kein Sozialstaatspostulat wie im deutschen Grundgesetz. Daraus ergaben sich doch substanzielle Kritikpunkte ...
Ja, ganz substanzielle Bedenken, die man auf Seiten der Linken auch artikuliert hat. Tatsache ist aber, dass es so etwas wie einen europäischen Sozialstaat nicht gibt. Und dass außerdem - und das ist vielleicht noch wichtiger - die nationalen Sozialstaaten unter dem Einfluss des Wettbewerbs, der Maastricht-Kriterien und der sehr unterschiedlichen Lohnkosten in den einzelnen Mitgliedsstaaten unter Druck geraten.
Zugleich sind die Auswirkungen der Handelsliberalisierung wie auch der so genannten marktwirtschaftlichen Freiheiten auf die sozialpolitischen Möglichkeiten - und das heißt auch die fiskalischen Spielräume der Staaten - so verheerend, dass die EU in dieser Hinsicht sehr viel Schaden anrichtet. Nur ist diese Erkenntnis keineswegs neu. Bereits 1997 beziehungsweise 2000 - auf den Gipfeltreffen in Luxemburg und Lissabon - hat man Überlegungen angestellt, wie man über das bloß regulatorische, regelsetzende EU-Regime hinauskommt und so etwas wie eine transnational vereinbarte Sozialpolitik entwickelt. Die sollte in Minima des Gesundheitsschutzes, der Altersversorgung und dergleichen bestehen. Dieser Lissabon-Prozess, getragen von einer europäischen Beschäftigungsstrategie, wie eine der programmatisch aufgeladenen Formeln heißt, ist nie recht vom Fleck und inzwischen ziemlich vom Wege ab gekommen. Die daraus resultierende Enttäuschung und Frustration, aber auch die Selbststilisierung vieler Beteiligter zu Verlierern der Integration, haben zu einer Malaise geführt, die nicht mehr zu leugnen ist.
Sie haben die Unterscheidung zwischen "negativer" und "positiver Integration" eingeführt - der Integration durch Deregulierung im neoliberalen Sinne und der Integration durch neue Standards und Schutzmechanismen. Warum tut man sich gerade mit einer positiven Integration so schwer?
Weil die Einzelstaaten daran oft nicht interessiert sind. Portugal und Irland sind dafür die bekanntesten Beispiele. Sie wollen nicht, dass EU-weit gültige Minima eingeführt werden, weil sie dann der Fortschritte beraubt werden könnten, die besonders Irland durch einen Unterbietungswettbewerb genießt. Man kann darüber jammern und moralisieren und sagen, das ist nationaler Egoismus. Aber nationale Regierungen fühlen sich nun einmal ihrem eigenen Wählerpublikum gegenüber verantwortlich. Irland will, dass die Beschäftigungslage so vorteilhaft bleibt, wie sie ist, und gegenüber europäischen Solidaritätspflichten Vorrang hat. Damit muss man rechnen - und die EU hat kein Gegenmittel. Die Marktintegration - eben die negative Integration - in Gestalt einer Öffnung der Märkte ist sehr viel weiter fortgeschritten als deren sozialpolitische Beschränkung. Es gibt keinen Akteur, der sagen könnte, das Spiel stellen wir jetzt einmal um. Jedenfalls nicht unter den Regierungsakteuren, die ich soeben beschrieben habe und die in den Augen ihrer Wählerschaft für die wirtschaftliche Performance verantwortlich sind. Mit denen kann man schlecht ein Gremium schaffen, in dem die höhere Vernunft einer positiven Integration und eines europäischen Sozialstaats waltet.
Das gibt doch den Kritikern Recht, die sagen, die ganze EU ist nichts anderes als eine in das weiche Licht eines historischen Projekts getauchte Globalisierung ...
Dem würde ich mich nicht anschließen. Ich denke, wir müssen uns dieser selbstquälerischen Debatte darüber stellen, worin denn nun eigentlich der Sinn, die Identität und die Finalität Europas bestehen. Vielleicht müssen wir das politisch zuspitzen, indem wir sagen, es gibt das marktliberale Projekt auf der einen Seite, das im Wesentlichen in einer aufgebesserten Freihandelszone besteht, und es gibt ein sozialstaatliches, beschäftigungspolitisches Projekt, das so etwas begründet wie ein ernst zu nehmendes europäisches Sozialmodell, von dem viel die Rede ist, ohne dass ein einheitliches Verständnis davon existiert.
Es gibt zwei politische Lager, die sitzen in der EU-Kommission und versuchen nach außen zu dementieren, dass sie politische Lager sind, indem sie sich als unpolitische Sachwalter eines europäischen Gemeinwohls tarnen. Doch das ist Quatsch, denn hier geht es um Politik - um das eine oder andere Ordnungsmodell. Weder den politischen Parteien Europas noch dem Europaparlament noch der Kommission ist es gelungen, diesen Konflikt so herauszuarbeiten, dass der normale Bürger versteht, worum es geht: Um einen politischen Konflikt über zwei Ordnungsvorstellungen. Gäbe es darüber eine diese Polarität tragende Debatte, würden die Aufmerksamkeit und eine wohlwollende Sympathie für diese Frage unter den EU-Bürgern sehr viel größer sein. Stattdessen breitet sich Zynismus aus, indem man sagt: Die bringen es nicht, die schaffen es nicht. Das ist die Folge eines in der Vergangenheit liegenden Fehlers: einer scheinbaren Entpolitisierung europäischer Angelegenheiten.
Hat die Osterweiterung das Lager jener verstärkt, die in ihrem Verständnis das marktliberale Europa vorziehen?
Nicht unbedingt. Die Osterweiterung hat in vielen Mitgliedsstaaten, darunter in Deutschland, protektionistische Reflexe ausgelöst. Die Differenzen in den Arbeitskosten zwischen einzelnen EU-Ländern sind nun einmal gewaltig. Wir haben zwischen Polen und Deutschland ein Arbeitskostengefälle von 1:5 bis 1:3. Eine unüberbrückbare Differenz. Weder kann man die Löhne hier senken, noch dort so steigern, dass ein "Spielraum" entsteht, wie es immer heißt. Als Reaktion darauf gibt es durchaus eine rechtspopulistische, protektionistische, fremdenfeindliche, angstgetriebene Negativposition, die keineswegs marktliberal ist. Es werden national Grenzen gezogen mit dem Motiv: Wir wollen Arbeitskräfte und Güter nicht ins Land lassen! In dieser Hinsicht war die Liberalisierung ein Fehler. Darauf nicht geachtet zu haben in der eilig vorangetriebenen Osterweiterung, ist ein Vorwurf, den man im nachhinein der Kommission vielleicht doch machen kann. Herr Verheugen klingt ganz kleinlaut jetzt, wenn er sich dazu äußert. Die Kommission und der Ministerrat waren nicht in der Lage, die nötige politische Vorsorge für die Osterweiterung zu treffen - eine Folge dieser entpolitisierten Konsensphalanx, die in Brüssel vorherrscht.
Gibt es in der EU-Zentrale heute so etwas wie eine europäische Machtelite, die aus politischen Netzwerken besteht, von denen man weiß, dass sie in Brüssel zuhauf unterwegs sind und im Sinne der marktliberalen Öffnung Europas wirken?
Da müsste man sehr sorgfältig das Innenleben der Kommission betrachten, das zum Teil in außerordentlich sachkundigen Diskursen darüber besteht, wie man das Marktgeschehen in Europa einerseits stimulieren, andererseits bändigen kann. Zugleich gibt es in der Kommission eine enge Verwobenheit mit zahlreichen Interessenverbänden, die sehr viel mehr aus dem Arbeitgeber- und Investoren- als dem Gewerkschaftslager kommen. Ein Riesenapparat, der von außen schwer zu durchschauen und zu bewerten ist. Das ist ja gerade das Problem - es gibt nicht das, was eine Regierung ausmacht, nämlich eine Parteienfarbe. Wir wissen in Deutschland - und wir merken es -, ob wir eine rot-grüne oder gelb-schwarze Regierung haben. Die EU-Kommission hingegen ist ein Gemisch von Sachverstand, Wohlwollen sowie undurchschaubaren Einflüssen und Beziehungen. Das kann man als Machtelite bezeichnen. Niemand kann die Kommission fragen, worin die Gründe - die offenbar guten Gründe - für das bestehen, was sie gerade tut. Man muss sich darauf verlassen, dass die Leute dafür gute Gründe haben.
Niemand kann sie zwingen, die zu äußern ...
Nein, es gibt eine Produktion von Normen und Richtlinien, ohne dass jemand fragt: "Warum macht ihr das?" Die Einheit einer Gemeinschaft wie der EU kommt dadurch zustande, dass die Leute einig sind über die Wichtigkeit dessen, worüber sie sich nicht einig sind. Wenn es keinen Streit gibt, gibt es keine Aufmerksamkeit. Nur sind wir jetzt an einem Punkt, an dem die politischen Ressourcen an Aufmerksamkeit, Unterstützung und Anerkennung aufgezehrt sind - es muss eine neue Phase beginnen.
Man fragt sich, ist da nicht inzwischen ein unauflösbares Geflecht von Netzwerken entstanden?
Das ist dann der Fall, wenn es keine wirksamen Institutionen gibt, die für Aufklärung sorgen, und keine kritische Öffentlichkeit fragt, was in den so genannten Machteliten tatsächlich passiert.
Sie schreiben, ohne Verfassung gibt es keine europäische Öffentlichkeit - und ohne europäische Öffentlichkeit gibt es keine Verfassung. Heißt das letztlich, ein Mittelweg zwischen Freihandelszone und Bundesstaat ist in Wirklichkeit unmöglich?
Alle warten wir auf den Münchhausen, dem es gelingt, sich aus dieser Henne-Ei-Problematik herauszuziehen. Es kann solche Durchbrüche geben. Das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit ist nicht bedingt durch das Fehlen einer europäischen Sprache, sondern das Fehlen einer die Debatte strukturierenden einheitlichen Thematik - die einen reden über Dienstleistungsrichtlinien, die anderen über Agrarfragen. Da artikulieren sich Interessengruppen, die von dem betroffen sind, was gerade ausgekocht wird. Es gibt kein Thema, von dem alle betroffen wären, so dass sich viele in ihre nationale Öffentlichkeit zurückziehen und Brüssel als ein bizarres, nicht weiter beeinflussbares Naturgeschehen politischer Gewalten betrachten, die irgendwie über uns hereinbrechen.
Ist nicht nach den Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden die Gefahr groß, dass sich die marktliberale Tendenz durchsetzt? Anders gefragt: Gibt es eine Möglichkeit, ein allmähliches Abdriften dieses Projekts hin zu einer reinen Freihandelszone zu verhindern?
Es ist absehbar, dass die Schäden, die für Branchen, Regionen und Kategorien von Arbeitnehmern von dieser Freihandelszone ausgelöst werden, sehr massiv sind - besonders durch Arbeitsplatzverluste und Unternehmenszusammenbrüche oder verlorene Wettbewerbschancen. Das sind fürchterliche Schäden, die kein Regionalstruktur-, kein Kohäsions- und kein anderer Fonds ausgleichen kann. Folglich werden die Nationalstaaten, aber auch das Europäische Parlament und der Ministerrat nicht umhin kommen, für Abhilfe zu sorgen. Es wird einen solchen Bedarf an marktbegrenzenden oder -kompensierenden Initiativen geben, die auf einen zweiten Versuch hinauslaufen, ein wirtschafts- und beschäftigungspolitisch - das heißt auch sozialpolitisch - tragfähiges Europa zu rekonstruieren. Ob das zehn Jahre dauert und zwischendurch eine Zeit ungeordneter Experimente einsetzt - oder ob das ein Jahr dauert und wir schon 2006 eine ganz neue Leitidee vor uns haben, das ist schwer auszumachen. Ich bin eher pessimistisch und sage, es wird eine Denkpause geben. Man könnte auch sagen: eine Zeit chaotischer Bewegungen und Ansätze. Daher sollte man den Marktliberalen nicht zu viel Kredit geben. Wie auf vielen Lebensgebieten gilt auch hier: So, wie es ist, kann es nicht bleiben! Das ist eine weithin geteilte Einsicht. Und ich denke, wenn sie irgendwo zutrifft, dann in Europa.
Das Gespräch führte Stefan Fuchs
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.