Warum nicht Einzelhandel

Alltag Über die besondere Ökonomie von Mahmoud Omeirats Lebensmittelgeschäft. Ein Erfahrungsbericht

"Warum nicht?", dachte ich, als mein Freund Ali mir vorschlug, wir sollten es mal mit Einzelhandel versuchen. Ich suchte gerade einen Job. Alis Bruder Mahmoud betrieb ein Lebensmittelgeschäft in einem Viertel, das von türkischen und arabischen Telefonläden und Gebrauchtwarenhandlungen dominiert wird. In Mahmouds Laden sei in letzter Zeit einiges "schief gelaufen", sagte Ali, weshalb ein Angestellter entlassen worden sei und wir nun "einspringen" sollten. Am Montag morgen sollten wir uns vor den Geschäftsräumen einfinden, um uns einweisen zu lassen.

Wir waren pünktlich da. Das Telefon- und Internetcafé nebenan öffnete gerade, Mahmouds Laden hingegen war zu. Wir probierten den Schlüssel aus, den Mahmoud Ali gegeben hatte. Er passte nicht. Jemand hatte offenbar das Schloss ausgetauscht. Während ich eine Zigarette rauchte, ging Ali nach nebenan, um Mahmoud anzurufen. Ich hatte keine drei Züge genommen, als eine kleine Gruppe von zwei türkischen Männern und drei Frauen anrückte, die mich umringten und stark gestikulierend auf mich einredeten. Die Älteste hielt mir einige Zettel unter die Nase. Weil ich nicht genug Türkisch verstand, übersetzte mir eine der Jüngeren: Der Laden sowie die Strom- und Wasserversorgung seien auf ihren Namen angemeldet, klagte sie. Weil die Rechnungen seit geraumer Zeit nicht bezahlt worden seien, sei sie jetzt "hochverschuldet!" - und zwar wegen Ömer, diesem faulen Hund, dem einzigen Angestellten des Geschäfts. Ömer sei ein Scheißkerl, der den ganzen Tag im Bett liege und Bier trinke, übertrug mir die Jüngere in erstaunlich flüssiges Deutsch. Sie selbst, die Ältere, hieß Fatimah und war Ömers Frau. Sie war es, die das Schloss ausgewechselt hatte. Jetzt forderte sie, der Ladenbesitzer solle endlich seine Schulden bezahlen, sonst werde sie sämtliche Verträge kündigen.

Ali hatte Mahmoud unterdessen nicht erreicht, hatte aber mit dessen Neffen gesprochen, der in Aussicht gestellt hatte, "demnächst vorbeizukommen". Zwar ließ der Neffe auf sich warten, dafür traf Ömer ein. Niemand hatte ihm gesagt, dass es nicht mehr arbeiten sollte. Wir stürzten uns alle auf ihn. Fatimah, schlug mit ihrer Tasche auf ihn ein, die beiden jüngeren schimpften. Schließlich bat Ali Fatimah, den Laden aufzuschließen, damit wir alles weitere drinnen besprechen könnten. Das tat sie, wider Erwarten.

Das Geschäft machte einen guten Eindruck: Es gab einen großen Verkaufsraum mit großenteils türkischen und arabischen Produkten, mehrere Kühlregale für Fleisch- und Milchprodukte, die jedoch fast leer waren, ein sonniges Büro, zwei Toiletten und einen geräumigen Keller mit Kühlraum. Alle Aggregate liefen auf vollen Touren, so dass es im Laden angenehm kühl war. Dennoch erhitzten sich die Gemüter noch mehr, als nach einer Stunde der Neffe des Besitzers erschien. Der Neffe wies jede Verantwortung von sich und verwies auf seinen Onkel Mahmoud, der wiederum gesagt habe, die ganze Misere sei Ömers Schuld. Ömer habe das Geld unterschlagen. Ömer verteidigte sich: Er, Ömer, sei ein ehrlicher Mensch. Die Kundschaft des Laden aber sei so arm, dass er ständig Kredit einräumen müsse. Was sollte er tun? Den Neffen ließ das kalt und Fatimah drohte mit einem theatralisch formvollendeten: "Wir sehen uns vor Gericht!"

Gegen Mittag wurde der Strom abgestellt. Wir saßen im Laden und rauchten, als Mahmoud mit seinem BMW vorfuhr. Er schien gelassen. Nachdem Ali ihm auf Arabisch die Ereignisse geschildert hatte, bat er mich auf Deutsch, ihm zu helfen, den Strom auf den Namen seines Neffen anzumelden. Dazu erklärte ich mich bereit. Er lieh mir sein schickes Auto, damit ich mit dem Neffen zur Vattenfallgeschäftsstelle fahren konnte. Mahmoud ließ in der Zwischenzeit erneut das Schloss austauschen.

Am nächsten Morgen machten Ali und ich uns mit dem Warenangebot vertraut, gegen Mittag wurde der Strom wieder angestellt. Bereits am Nachmittag erklärte mir Ali, er langweile sich im Laden, ich würde das auch ohne ihn schaffen. Davon war ich überzeugt.

Zunächst kamen nur wenige Kunden. Sie sahen sich im Laden um und gingen wieder. Offenbar waren ihnen meine Waren zu teuer. Das brachte mich auf die Idee, ein Plakat ins Schaufenster zu hängen: "Zur Neueröffnung 50% Rabatt auf Reis". Das interessierte die Leute. Einige kauften gleich mehrere Fünfkilosäcke, und ich nahm an diesem Tag über 800 Euro ein. Im Nu war der Reis ausverkauft. Ich dachte mir etwas Neues aus: "Beim Kauf von vier Packungen Halwa eine Packung umsonst". Auch das funktionierte gut. Bei einigen Dosen war das Verfallsdatum überschritten, so dass ich auch sie herabsetzte. Die Gewürze, Oliven und Tees, die mir zu teuer schienen, setzte ich beim Auspreisen ebenfalls herunter. Schon bald wollten die Kunden alles zu niedrigeren Preisen haben, doch ich erklärte ihnen, dass es immer nur manche Waren billiger gab. Auf diese Weise, dachte ich, müssten sie täglich kommen, um sich einen Überblick über die Sonderangebote zu verschaffen. Nach zwei Wochen fing ich an, den ersten Kunden Kredit einzuräumen. Eine Jugoslawin zählte zu den Begünstigten. Sie besuchte mich täglich und hatte die Funktion einer Ladenbotschafterin inne. Wenn die Menschen aus der Straße bei heißem Wetter vor den türkischen Nachbarschaftsvereinen, Bäckereien und Telefonläden saßen, ging sie - aus dem Laden kommend - von einer Gruppe zur anderen und erzählte, was es "bei der Russin" wieder billiger gebe. Manchmal brachte sie ganze Gruppen von Frauen mit, die bei mir einkauften. Im Gegenzug bat sie mich, bei mir anschreiben zu dürfen. Außerdem bekam sie Süßigkeiten und Fladenbrote für ihre Kinder geschenkt.

Mahmoud lobte mich für meine guten Ideen und wies mich an, auf keinen Fall Außenstände bei den Lieferanten zu begleichen, sondern alle an den entlassenen Ömer zu verweisen. Ömer hatte aus Rache alle Telefonnummern der Lieferanten mitgenommen, doch glücklicherweise lieferten diese unaufgefordert, einer nach dem anderen, Brot, Joghurt, Milch und türkische Wurst. Es lief alles wie von selbst. Nur der Gemüselieferant streikte, weil Ömer zu hohe Schulden bei ihm hatte. Deshalb kaufte ich selbst bei einem günstigen türkischen Gemüsehändler um die Ecke ein und preiste die Ware etwas teurer aus. Ich war selbst überrascht, wie souverän ich den Laden schmiss. Während des Tagesgeschäfts erledigte ich die Buchhaltung und nur manchmal verlor ich den Überblick, wenn viele Kunden auf einmal im Laden waren. Gelegentlich sah ich, wie weitgewandete Mütter sich etwas einsteckten. Aber wer will da kleinlich sein. Ich muss gestehen, dass ich mich selbst öfter aus der Kasse bediente, denn niemand kontrollierte je meine "Bücher". Mahmoud war sehr zufrieden mit meinen Einnahmen. Jeden Abend kam Ali vorbei und nahm das Bargeld mit. Etwa 300 Euro täglich waren es, die ich nach Abzug meines eigenen Bedarfs am Abend in der Kasse zählte. Ali nahm für seinen Botengang noch eine kleine Provision und brachte den Rest Mahmoud in dessen "Büro". Mahmoud selbst zeigte sich nur selten. Er erzählte, er habe viel zu tun, weshalb er meist in jenem Büro weilte, wo er manchmal auch schlief. Nur einmal kam er mit seiner Familie vorbei und veranstaltete vor dem Laden ein kleines Kinderfest. Dabei verteilte er großzügig Süßigkeiten an alle Kinder, und auch die Erwachsenen gingen nicht leer aus.

Das meiste, was ich verkaufte, waren Reis, arabische und türkische Fladenbrote und stilles Wasser in Flaschen aus der Türkei. Selbst den ärmsten Frauen aus der Nachbarschaft war das deutsche Wasser aus der Leitung nicht rein genug - deshalb kauften sie täglich mindestens einen Sechserpack. Einer meiner Wasser-Großkunden, ein älterer Kurde, erzählte mir, dass der Laden vor Mahmoud Omeirat dem berühmt-berüchtigten Mahmoud al-Zein gehört hatte. Seiner Meinung nach war al-Zein ein strenggläubiger, großzügiger und bescheiden auftretender Mensch. Andere wiederum meinten, zu al-Zeins Zeiten habe der Laden einen schlechten Ruf genossen, weil "krumme Geschäfte" getätigt worden seien. Mahmoud Omeirat zumindest hatte nach eigenen Angaben das Geschäft übernommen, nachdem al-Zein wegen Schutzgelderpressung und Drogenhandels verhaftet worden war. Wer immer al-Zein gewesen war - es gab noch immer Waren in den Regalen, die an ihn erinnerten. Puderzucker und Reisstärke zum Beispiel, die noch Preisschilder mit seinem Namen trugen. Ich stellte mir einen Mann mit Bart vor, der mit der einen Hand mit einem Gebetskettchen klimpert und mit der anderen weiße Päckchen zählt.

Überhaupt spielte der Islam eine große Rolle in meinem Geschäft. Zu meinen Stammkundinnen gehörte die Tochter eines Mullahs, die ihren Einkaufswagen stets randvoll mit Erfrischungsgetränken packte - und dafür von mir Mengenrabatt bekam. Sie war nicht die einzige, die versuchte, mich von einem Übertritt zum Islam zu begeistern. Sie bot an, dazu ein Treffen mit ihrem Vater zu arrangieren, der in der Nachbarschaft sehr angesehen war. Ich lehnte ab, beschloss aber, meine jugoslawische Dauerkundin Mara in die Moschee zu begleiten. Mara war mir ans Herz gewachsen - sie verhinderte inzwischen sogar Diebstähle in meinem Geschäft. Außerdem wollte ich das lokale religiöse Leben kennen lernen. Immerhin verwaltete ich eine Spendenkasse für den Bau eines weiteren Gotteshauses. Gleich hinter der Tür meines Ladens stand das Modell einer Moschee, von Kindern aus Holz hergestellt, mit einem Schlitz für den Obolus. Kaum einer meiner Kunden drückte sich - manche steckten sogar Geldscheine hinein. Einmal in der Woche kam ein Geistlicher vorbei und nahm den Inhalt der Kasse mit. Für den Moscheebesuch im Hinterhof nebenan lieh mir Mara ein grün-goldenes Kopftuch und ein langes dunkelgrünes Kleid mit arabischem Strickmuster. "Tu einfach, was die anderen Frauen tun", raunte sie mir zu, als wir auf dem weichen Teppich saßen und ich doch etwas Angst bekam. Ich tat mein Bestes, scheiterte aber. Der Gottesdienst dauerte zwei Stunden, und im Gegensatz zu den topfitten muslimischen Frauen ging ich schon nach einer halben Stunde vor der körperlichen Anstrengung des Gebets in die Knie. Am nächsten Tag musste das Geschäft geschlossen bleiben, weil ich mit Muskelkater zu Hause blieb. Ich beschloss, nicht mehr in die Moschee zu gehen, und warf zum Ausgleich ein paar Münzen in die Spendenkasse.

Obwohl das Geschäft immer besser lief und ich immer öfter überfordert war, kam eines Tages Mahmoud in den Laden und sagte knapp, es rentiere sich nicht mehr. Er wolle samt Inventar verkaufen und suchte nur noch einen Interessenten. Zunächst meldeten sich jedoch nur einige Männer, die an Einrichtungsgegenständen interessiert waren, die Mahmoud billig abstoßen wollte. So wurden eines Nachmittags der Fleischwolf und später die Kühltruhe abgeholt. "Mach dir nichts draus", tröstete mich eine meiner jugoslawischen Stammkundinnen. Sie führe ein kroatisches Schnellrestaurant. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, wie gut ich mit Kundschaft umgehen könne, sei sie jederzeit bereit, mich als Fachfrau zu vermitteln. Nachdem Mahmoud sämtliche Kühlregale auseinander genommen und abtransportiert hatte, meldete ich mich im Adria-Grill zu einem Vorstellungsgespräch.

Lilli Brand, geboren 1974 in der Ukraine, studierte Medizin, ging wegen Verschuldung nach Deutschland, arbeitete in verschiedenen Bordellen und lebt heute als Autorin in Berlin. Ihr letztes Buch Transitgeschichten erschien 2004.

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