Ernst-Otto-Czempiel sieht in den Terrorattentaten am 11. September einen "kriegerischen Akt". So jedenfalls stand es in einem Interview mit der taz drei Tage nach den Anschlägen. Aber es sei "eher ein Partisanenkrieg" gewesen - mit Betonung auf Partisan, darf man vermuten. Warum? Weil Czempiel die Welt seit 1989/90 eigentlich im Frieden wähnt, weil es seitdem keinen internationalen Krieg mehr gegeben habe.

Das klingt kühn und provoziert die Frage, was denn mit den unzähligen anderen "Kriegen" sei, die seit der Zeitenwende auf diesem Globus getobt haben und noch toben. Natürlich ignoriert Czempiel die nicht. Aber er setzt sie in einen anderen Kontext und kommt damit - das ist wichtig - zu anderen Handlungsoptionen.

Doch der Reihe nach: Czempiels Kernthese ist die Ablösung der Staatenwelt in den internationalen Beziehungen durch die "Gesellschaftswelt". Das wiederum sei Ergebnis wachsender globaler Interdependenz, die freilich in unterschiedlichen Gegenden der Welt unterschiedlich stark ausgeprägt ist - in und zwischen den Entwicklungsländern eher niedrig, im Bereich der OECD-Staaten dagegen sehr hoch. Vor allem hier sieht Czempiel die Regulierungskompetenz des Staates gleich dreifach eingeschränkt. Zum einen durch Sachgebiete, deren Einzugsbereiche und Rückwirkungen staatliche Grenzen sprengen und zur Kooperation zwingen. Zum zweiten durch große gesellschaftliche Akteure mit eigenen Regelwerken, die staatliche Kompetenz unterlaufen. Und drittens schließlich durch Demokratisierungsprozesse, die das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung zuungunsten letzterer verändern. Staaten können ihre Regulierungsfähigkeit daher nur erhalten, indem sie diese mit anderen teilen.

Natürlich muss diese Form der Vergesellschaftung Auswirkungen auf die Außenpolitik haben, und hier vor allem auf ihre zentralen Kategorie: Macht und Gewalt. Kluge Macht verzichtet auf Gewalt - nicht nur aus moralischen Gründen, sondern, weil Macht in der Gesellschaftswelt eine subtile Größe wird, deren Wirkung nicht mehr von klassischer Gewaltandrohung abhängt. Als institutionalisierte Macht findet sie neue Formen, wird flexibler und weniger fassbar.

Hier haben wir denn auch die Denkrichtung des Buches: von government zu governance, von klassischer Beziehungsmacht zu neuer Konsensmacht. Ein steiniger und vor allem langer Weg! Der Frankfurter Emeritus, lange Jahre Chef der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), beginnt ihn in der ersten Welt und untersucht Handlungsstrategien (inner-westlicher) Außenpolitik. Die sieht er vor allem als Milieugestaltung. Czempiel fragt nach notwendigen Strukturveränderungen in der EU, der OSZE, der NATO und in den Vereinten Nationen und plädiert für eine symmetrische Machtkonfiguration im euro-atlantischen Raum. Das ist handfeste "alternative Realpolitik", obwohl Czempiel dieser Ausdruck nicht gefallen wird.

Zwei weitere Hauptkapitel skizzieren Handlungsoptionen für Beziehungsmacht. Die Frage ist einfach: Wie lassen sich asymmetrische Machtkonfigurationen in Einfluss, Macht und Prestige umsetzen, um politische Interessen und (außenpolitische) Ziele zu erreichen, die Krieg austrocknen und Bürgerkriege befrieden? Krieg auszutrocknen meint vor allem eine sicherheitspolitische Kehrtwende - Abrüstung im euro-atlantischen Raum, Waffenhandel beschränken, ABC-Waffen abschaffen und die Erzeugung eines internationalen Klimas, das Gewalt mindert und Aggressivität entmachtet durch umsichtiges Handeln, adäquate Sanktionsregime und eine strikte Beachtung des Gewaltverbotes.

Bei der Befriedung von Bürgerkriegen gilt für Czempiel: Gewalt nur im Notfall anwenden. Was aber ist ein Notfall? Czempiel schreibt: "Man wird auf dieses letzte Mittel beim Genozid und darüber hinaus nicht verzichten können, wenn wirklich nichts anderes übrig bleibt, der Einsatz durch eine Internationale Organisation legitimiert worden ist und so viel Erfolg verspricht, dass er sich auch gegenüber denen ›rechnet‹, die die Kosten zu tragen haben." Das lässt einigen Interpretationsspielraum. Ruanda ja, Kosovo nein - schreibt Czempiel.

Und Afghanistan heute? "Der Gewalteinsatz von außen in Bürgerkriegen muss vor allem einen Test bestehen: den des Erfolges." Gut gemeint reicht nicht, schreibt Czempiel damit den humanitären Interventionisten ins Stammbuch. Aber er sagt auch implizit: Nothing succeeds like success. Wie viele Parlamentarier jedoch sind wirklich in der Lage, Erfolgschancen einer Intervention im vorhinein halbwegs realistisch einzuschätzen? Man erinnere sich der Katastrophenszenarien, die noch vor jedem Militäreinsatz von selbsternannten Experten in die mediale Welt gesetzt und selten so bestätigt wurden. Nein, auch Czempiel durchschlägt diesen gordischen Knoten nicht. Vielleicht wird er deshalb wenige Seiten später deutlicher: "Bürgerkriege von außen mit Gewalt zu beenden, ist aus vielerlei Gründen ein hoffnungsloses Unterfangen. Es muss im Sonderfall des Völkermordes gewagt werden."

Und im Partisanenkrieg, sprich: im Kampf gegen den internationalen Terrorismus? Zunächst hält Czempiel die Angst vor dem Katastrophenterrorismus - und er nennt Osama bin Laden ausdrücklich - für übertrieben. Sie soll eine Mobilisierungslücke füllen. Das ist zwei Jahre vor dem 11. September geschrieben und auch heute nicht ganz falsch, wiewohl es das Problem nicht gänzlich erfasst. "Der politische Terrorist kämpft um den Konsens der Gesellschaft für seine Ziele". Seine Methoden müsse man mit Gegengewalt bekämpfen, ansonsten aber gilt: Wasser abgraben, Ursachen beseitigen. Wie Not dies tut, erleben wir gerade täglich.

Nur von dem Neuen, von "Konsensmacht" und "governance" erfahren wir bei Czempiel leider zu wenig. Das bleibt - auf knappen 17 Seiten - nur angerissen. Aber die Tendenz ist eindeutig: Außenpolitik wird "internationalisierende Politik" und hebt sich als "Herrschaftstechnik" auf.


Außenpolitik ist eine pathologische Erscheinungsform des Politischen." Und Pathologisch wird das Politische, wenn es sich in das Streben von Menschen nach Herrschaft über Menschen verkehrt. Nein, das ist nicht mehr Czempiel. Das schreibt Ekkehart Krippendorff in seiner radikalen Kritik der Außenpolitik - die, und das scheint nur konsequent, als eine radikale Kritik von Politik überhaupt daher kommt. Während Czempiel über Transformationsschritte hin zu "kluger Macht" nachdenkt, will Krippendorff den Bruch. Für den Berliner Friedensforscher, Amerikanisten und Goethe-Experten, der Jahrzehnte als Professor am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin wirkte, hat der Wahnsinn - nicht zum ersten Mal - Methode.

Krippendorff führt in seinem Buch fort, was er schon in seinem Werk Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft (1985) und vielen nachfolgenden Bänden ultimativ dargelegt hat: Politik, zur Außenpolitik verkommen, offenbart ihr "perverses Wesen": "die Verschmelzung von Macht und ihrer psychologischen Verarbeitung mit der Herrschaftsform Staat, der die Menschen zu einem Mittel degradiert - das Ganze dann in eine rationale Analyse der Weltpolitik gepresst, die sich auf die akkumulierte Intelligenz wissenschaftlicher Politikerklärung berufen kann und damit schließlich die größten Katastrophen auslöst". Das sitzt! Und wird so scharf nachgewaschen, dass der interessierte Leser zwischendurch alle Hoffnung fahren lasse möchte. Bis man zu den beiden Kapiteln Über Neutralität und Außenpolitik von unten kommt. Hier beschreibt Krippendorff seine Vision: "außenpolitische Beziehungen und Interessen zu überwinden mittels außengesellschaftlicher Beziehungen jeglicher Art". Es geht um "Antiaußenpolitik", von unten, getragen von gesellschaftlichen Akteuren - vorzugsweise Nichtregierungsorganisationen -, die natürlich per Definition pazifistisch sei. Und wie kommt man dahin? Krippendorff weiß, dass seine Analyse nur "Spurenelemente langfristiger Hoffnung" enthält, dass klassische Außenpolitik - die er gnadenlos zerpflückt - dominant bleibt. Dem verzweifelten Leser bleibt da nur ein Gramsci-Zitat, das Krippendorff seinem letzten Kapitel voran stellt: "Man kann seinem sehr begründeten theoretischen Pessimismus mit einer persönlich optimistischen Praxis widersprechen." Hic Rhodos ... - beim Blick nach New York und Kabul ahnt man, was das für ein Riesensprung werden muss.

Ernst-Otto Czempiel: Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 1999, 272 S., 48,- DM

Ekkehart Krippendorff: Kritik der Außenpolitik. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, 235 S., 19,90 DM

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