Wegweiser

Zuwanderung in Deutschland Vor 25 Jahren stellte der Ausländerbeauftragte Heinz Kühn ein Memorandum zur Integration von MigrantInnen vor. Die Vorschläge wirken auch heute noch aktuell

Die künftige Politik gegenüber den heute in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien (muss) davon ausgehen, dass hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist und die Mehrzahl der Betroffenen nicht mehr ›Gastarbeiter‹ sondern Einwanderer sind." Dieser Satz aus dem im September 1979 veröffentlichten sogenannten Kühn-Memorandum markiert das Ende einer Illusion, der Illusion "Deutschland ist kein Einwanderungsland". Allerdings nahmen nur wenige dieses Ende zur Kenntnis. Das Memorandum zum "Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland" widersprach diametral der damals gängigen Auffassung aller politisch Handelnden, dass Deutschland kein Einwanderungsland und lediglich eine "Integration auf Zeit" anzustreben sei.

Autor des Memorandums war der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD), der ein Jahr zuvor zum ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung berufen worden war. Aus der Tatsache, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland ist, leitete Kühn eine "soziale Verantwortung gegenüber den heute - zumeist schon über eine beachtliche Zeitspanne - in Deutschland lebenden und einstmals in der Mehrzahl gezielt ›angeworbenen‹ Menschen und ihren Kindern" ab. Konkret bedeutete das, Integration konsequent in den Mittelpunkt des politischen Handels zu stellen.

Die Maßnahmen, die im Memorandum vorgeschlagen werden, beziehen sich zum einen auf eine sozial- und arbeitsmarktpolitische Integration, zum anderen auf politische Teilhabe. Vieles davon hört sich auch heute noch sehr aktuell an. Zunächst steht Bildung im Mittelpunkt. Es beginnt mit der vorschulischen Bildung, bei der die Sprachförderung verstärkt werden sollte und zwar unter Anerkennung der "Schwierigkeiten der ausländischen Eltern, den Kindern innerhalb der Familie ausreichend deutsche Sprachkenntnisse zu vermitteln". Um Kindergärten und andere vorschulische Einrichtungen attraktiver zu machen, "wäre die systematische Heranziehung ausländischer Mitarbeiter" ein angemessener Schritt.

Auf dem schulischen Sektor geht es dem Kühn-Memorandum um eine komplette Eingliederung der ausländischen Kinder in das deutsche Schulsystem. Das erfordert begleitende Hilfen ebenso wie Lehrpläne und Lehrmittel, die "auf die multinationale Zusammensetzung der Klassen Rücksicht nehmen". Dabei, so wird argumentiert, wäre es auf längere Sicht "optimal, wenn die Muttersprache als erste oder zweite ›Fremdsprache‹ in den Regelunterricht eingebracht werden könnte". Heute, 25 Jahre später, wird dies versucht - freilich nur in Pilotprojekten. Bei der beruflichen Bildung setzt Kühn auf berufsvorbereitende und -begleitende Maßnahmen und darauf, Eltern über das duale Bildungssystem besser zu informieren. Alles in allem zielen die Vorschläge im sozial- und arbeitsmarktpolitischen Bereich auf eine "volle rechtliche und tatsächliche Gleichstellung". Schließlich könne "eine ganze Bevölkerungsgruppe auf Dauer nicht in einem Sonderstatus belassen werden".

Im Kühn-Memorandum klingt bereits etwas an, das erst in den letzten Jahren wirklich erkannt wurde. Die Situation von MigrantInnen in Deutschland hat nicht vorrangig mit ihrer Herkunft zu tun, sondern mit ihrer mehrheitlich sozialen Lage. Die Bildungs- und Ausbildungssituation von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien hat sich zwar verbessert, der Abstand zu den Deutschen ist aber geblieben. Das hat wesentlich damit zu tun, dass sie aus sozial schwachen, mithin bildungsfernen Schichten entstammen. Wenn man so will: Die soziale Frage durchläuft eine Ethnisierung.

Das hat Heinz Kühn gesehen. Er war in der Migrations- und Integrationspolitik kein Visionär, sondern hat einen ausgeprägten Sinn für Realitäten unter Beweis gestellt. Das Memorandum sind die Vorschläge eines Typs liberalen Sozialpolitikers, der mit der Industrialisierung den "dritten Stand" beziehungsweise das industrielle Proletariat in die Gesellschaft integrieren wollte, um letztere zu stabilisieren.

Dem entspricht, dass auch die politische Integration thematisiert wird. Denjenigen der zweiten Zuwanderergeneration, die in Deutschland bleiben wollten, könne nicht zugemutet werden, auf Dauer vom Ausländerrecht abhängig zu sein. Deshalb schlug der Ausländerbeauftragte das so genannte Optionsmodell vor. Kinder, die in Deutschland geboren wurden oder überwiegend aufgewachsen sind, sollten "einen vorbehaltlosen Rechtsanspruch auf Einbürgerung erwerben, über den sie im entscheidungsreifen Alter (Volljährigkeit) befinden können". Neben der politischen Teilhabe durch Einbürgerung plädierte Kühn für ein kommunales Wahlrecht für Zuwanderer mit längerem Aufenthalt, da die Beteiligung "an der Gestaltung des engeren örtlichen Lebensbereiches" zur Integration erheblich beitragen könne.

Sehr deutlich zielte Kühns Ansatz darauf, gesellschaftliche Konfliktpunkte zu reduzieren - um so schneller aber wurde er durch argumentative Nebelkerzen unkenntlich gemacht. Die Debatte um notwendige Integrationsmaßnahmen des Staates wurde bald ersetzt durch Mutmaßungen, ob Zuwanderer integrationsfähig und integrationswillig seien. Den einen wurde Integrationsunfähigkeit unterstellt, weil sie aus einem anderen Kulturkreis kamen - so Alfred Dregger (CDU) -, den anderen Integrationsunwilligkeit, weil sie nicht bis zur Unkenntlichkeit eingedeutscht werden wollten. Integration wurde blitzschnell mit Zwangsassimilation gleichgesetzt und diskreditiert. Unter der Hand kam der eigentliche Adressat einer Integrationspolitik - nämlich der Zuwanderer - abhanden. Das war durchaus gewollt. Denn in den tagespolitischen Bestrebungen waren AusländerInnen oft weniger als soziale Gruppe erwünscht, die kompensatorische Hilfe braucht, sondern als ethnische, die man als potenzielle Bedrohung stigmatisiert - wie zuletzt Roland Koch aus Hessen -, um in einer politischen Stammtischstimmung Wahlkreuze einzusammeln.

Mit der Bildung der rot-grünen Koalition 1998 wurde, wenn auch reichlich zaghaft, begonnen, einiges umzusetzen, was das Kühn-Memorandum vorgeschlagen hatte. Ein Kernpunkt ist ganz sicher das Staatsangehörigkeitsrecht. Hier geborene MigrantInnen erhalten seither bis zur Volljährigkeit unter bestimmten Voraussetzungen die doppelte Staatsbürgerschaft und die Einbürgerung wird etwas erleichtert. Und auch das Zuwanderungsgesetz, das beileibe keine Heldentat von Reformpolitik ist, birgt einen Vorteil für künftige Entwicklungen: Es wurde lagerübergreifend beschlossen. Das kann dazu beitragen, bei der Integration endlich den Blick auf die zu lenken, um die es geht: MigrantInnen. Das Kühn-Memorandum ist da nach wie vor ein Wegweiser.

Bernd Mansel (MedienbüroArbeitswelt) lebt als Journalist in Berlin, Leo Monz leitet den Bereich Migration und Qualifizierung beim DGB Bildungswerk in Düsseldorf.

Kühn-Memorandum im Netz: www.migrationonline.de/ kuehnmemorandum


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