Vom 21. bis 25. November findet in Berlin die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) statt. Professor Wielant Machleidt von der Medizinischen Hochschule Hannover wird dort im Rahmen eines Symposiums der Frage nachgehen, welche Rolle kulturspezifische Aspekte bei der Diagnostik und Klassifikation psychischer Erkrankungen spielen und wie es dabei zu ethnozentristischen Fehldiagnosen kommen kann
FREITAG: Der Feind, sagt der Philosoph Pascal, ist der Fremde vom anderen Ufer, der Gast der Fremde auf der Schwelle. Der Fremde kann also beides sein, der Gast und der Feind. Bestimmt diese unterschiedliche Wahrnehmung des Fremden nicht auch die Befindlichkeit derer, die als Fremde in unser Land kommen?
WIELANT MACHLEIDT: Die Deutschen haben die "Gastarbeiter" in den siebziger Jahren als Gäste "auf der Schwelle" empfangen in der Erwartung, sie würden unser Land wieder verlassen, wenn sie ihrer nicht mehr bedürften. In den neunziger Jahren wurden sie als Fremde zu Feinden vom anderen Ufer aus Angst vor Überfremdung. Heute versuchen wir die Entfremdung der und des Fremden durch Integration zu leisten. Auch heute können zum Beispiel Aussiedler aus Osteuropa aber nicht sicher sein, dass wir sie als erwünschte Gäste auf der Schwelle empfangen. Die Ambivalenz in unserem Land Fremden gegenüber ist noch groß. Es geht den Einheimischen darum, die belastende Konfrontation mit dem Fremden im Alltäglichen gegebenenfalls durch Minimierung, Ausgrenzung oder Annäherung zu bewältigen. An der Schnittstelle zwischen dem Eigenen und dem Fremden entsteht durch die Entfremdung des Fremden das Eigene. Das heißt, wenn ich mich auf diese fremde Welt einlasse, mache ich sie mir in der Auseinandersetzung mit ihr und ihren Protagonisten schrittweise vertraut und damit zu eigen. Dieser Prozess hält bei Migranten lebenslang an. Die Konfrontation mit dem Fremden nimmt also ab, je mehr die Entfremdung des Fremden Fortschritte macht und das Fremde zum Vertrauten wird.
Sie vergleichen die "interkulturelle Geburt", mit der Individualentwicklung des Menschen, das scheint erklärungsbedürftig.
Es ist eine Analogie zwischen der Adoleszenz in der Individualentwicklung und den Entwicklungen und Integrationsleistungen erkennbar, die Zuwanderer im Rahmen ihres Migrationsprozesses erbringen müssen. Während der Adoleszent zum Beispiel den Schritt aus seiner Ursprungsfamilie in die Gesellschaft tut, muss der Migrant den Schritt von seiner Ursprungsgesellschaft in die Aufnahmegesellschaft machen. Der Adoleszent muss sich dabei von seinen Elternfiguren ablösen, der Migrant von seinen Elternsurrogaten wie Muttersprache, Vaterland und so weiter. Bei der Integration in die Aufnahmegesellschaft geht es nicht nur um horizontale Lernprozesse im Sinne von Assimilation oder Anpassung, sondern vielmehr um einen Entwicklungsprozess, der in vielem dem Entwicklungsschritt gleicht, der in der Adoleszenz getan wurde. Ich nenne diesen Entwicklungsschritt bei Migranten die "kulturelle Adoleszenz".
Aber hat der Individuationsprozess neben der sozialpsychologischen nicht auch eine biologische Seite?
Natürlich geht es bei der kulturellen Adoleszenz nicht um biologische Reifungsprozesse wie in der Pubertät, sondern um die psycho-soziale Bewältigung dieser Reifung, nur diese ist mit der kulturellen Integrationsleistung vergleichbar. Diese Leistung verschafft dem Migranten einen zivilisatorischen Vorteil gegenüber den Einheimischen seines Heimatlandes als auch gegenüber denjenigen der Aufnahmegesellschaft. Dieser Prozess ist jedoch auch schmerzhaft und erfordert große Anstrengungen von den Betroffenen. Es gibt unter den Migranten einige, die so tun, als könnten sie diesen Veränderungsprozess umgehen, indem sie in ihren Gemeinschaften genauso weiterleben wie in ihrem Herkunftsland, der Türkei oder woher sie sonst kommen. Sie vermeiden das, was ich die "kulturelle Adoleszenz" nenne und geraten dadurch in eine Sackgasse. So entstehen dann Segregation, Gettoisierung und "Parallelgesellschaften", mit den bekannten sozialen Verwerfungen. Deshalb bedarf es wie für die Heranwachsenden auch für die Menschen, die aus fremden Kulturen zu uns kommen, Helfer und Institutionen, die sie in unsere Kultur einführen und ihnen das Gefühl vermitteln, erwünscht zu sein.
Sie haben ein Phasenmodell des Migrationsprozesses beschrieben, das Sie aus Ihrer therapeutischen Praxis abgeleitet haben. Können Sie dies kurz skizzieren und in welchen Phasen sind die Betroffenen besonders verletzungsanfällig?
Man kann die Migration in zwei Phasen einteilen, die erste ist die Ablösung vom Heimatland und der eigentliche Migrationsakt. Die zweite beginnt mit der Ankunft in der neuen Kultur. Diese Ankunft geht typischer Weise mit einem Hochgefühl einher. Dies ist bei Kriegsflüchtlingen, Asylsuchenden, Zuwanderern aus der Türkei und Aussiedlern aus Osteuropa erstaunlicherweise gleich. Große positive Erwartungen, eine neue Offenheit und eine starke Befriedigung über die vollzogene Migration tragen zu diesem Hochgefühl bei. Dieser "Honeymoon" dauert je nach Situation ein bis zwei Jahre. Doch dann geht es darum, die grundlegenden Voraussetzungen für ein Leben in dieser Kultur zu schaffen. Da geht es um elementare Dinge wie Wohnen, eine befriedigende Arbeit zu haben und die Familie zusammenzuhalten, die in einer individualistischen Kultur zentrifugale Kräfte entwickelt. In dieser Situation geht es um das Ringen um eine neue Existenz und die Frage, was übernehme ich aus der neuen Kultur und was behalte ich aus meiner alten. Dies ist die Phase der kritischen Integration, in der es darum geht, ob die Integration in die Aufnahmegesellschaft gelingt oder scheitert. Ich habe diese Zeit in meinem Modell der kulturellen Adoleszenz als die vulnerable Phase bezeichnet, in der die Menschen besonders verletzlich sind und in der seelische Befindlichkeitsstörungen und psychische Erkrankungen auftreten können. In dieser Phase ist es entscheidend, wie sich das Aufnahmeland gegenüber den Migranten verhält, und häufig ist professioneller psychiatrisch-psychotherapeutischer Rat gefragt. Die Entscheidung zum Beispiel, ob ein Asylsuchender im Land bleiben kann, wird zu einem erheblichen Stressfaktor. Die deutsche Ausländergesetzgebung ist da oft wenig hilfreich und, das muss man klar so sagen, macht viele dieser Menschen krank.
Der Akkulturationsstress trifft jeden, der in ein fremdes Land kommt. Es gibt aber doch auch Unterschiede zwischen den Migrationsgruppen.
Die meisten Migranten kommen freiwillig in unser Land, weil ihnen ihre Herkunftsländer zu wenig Möglichkeiten bieten. Für diese Menschen ist das Leben in dem fremden Land Neubeginn, Herausforderung und Chance zugleich. Die meisten Migrationsgeschichten, das sollte nicht vergessen werden, sind Erfolgsgeschichten. Deshalb sollten wir Migration aus psychologischer Sicht auch entdramatisieren. Doch es gibt Unterschiede hinsichtlich der gefühlten Belastung. Türken scheinen mehr Akkulturationsstress zu erleben als zum Beispiel Aussiedler. Wir wissen noch nicht womit das zusammenhängt.
Interessant ist, dass es in der Phase der kritischen Integration in den Familien zu ganz unterschiedlichen Arbeitsteilungen kommt.
Ja, gerade in Familien aus traditionellen Kulturen, in denen der Mann die Außenrepräsentation übernimmt und die Frau eher für die Familienkontexte zuständig ist, gibt es ein ausgesprochenes Gendergefälle. Es bilden sich zum Beispiel unterschiedliche Sprachkompetenzen bei den Eltern heraus, weil in den Familien die Herkunftssprache gesprochen wird und nicht die des Aufnahmelandes. Das ist für die Mütter in den Großfamilien nachteilig. Gleichzeitig eröffnet unsere Kultur aber den Frauen und insbesondere der jüngeren zweiten Generation eine neue Chance, sich aus der traditionellen paternalistischen Bevormundung zu lösen. Die Kinder gehen in die Schulen, sprechen die neue Sprache besser als die Eltern, übernehmen die Orientierungen im sozialen Raum. Sie sind den Eltern darin überlegen. Die Eltern können ihre elterliche Funktion nicht wie in ihrem Heimatland wahrnehmen. Das führt zu einer Entfremdung zwischen den Generationen und dazu, dass die Kinder praktisch "elternlos" aufwachsen. Die Familienväter sind durch die Außerkraftsetzung des paternalistischen Systems die Verlierer bei dieser Entwicklung
Dieser Stress macht auch depressiv. Sie haben beobachtet, dass sich Depressionen und andere psychische Erkrankungen kulturspezifisch äußern, was ist damit gemeint?
Auch in unserer Kultur, das muss vorausschickt werden, erleben die Menschen seelische Befindlichkeitsstörungen nicht selten als körperliche Störungen, wie beispielsweise Bauchschmerzen bei Stress. Der Körper dient dann als Austragungsort psychischer Konflikte. Uns ist aber eine klare Trennung zwischen seelischen und körperlichen Beschwerden kulturell sehr vertraut. Diese cartesianische Körper-Geist-Seele-Trennung, die wir alle mit der Muttermilch eingesogen haben, kennen andere Kulturen, die Mehrheit der Weltkulturen, nicht. Seelisches Befinden und Körperlichkeit bilden für sie eine Einheit. Nehmen wir also den türkischen Patienten, der an Magen-Darm-Beschwerden leidet. Er wendet sich an den Arzt und klagt, seine Leber oder sein Magen "fällt", sei nicht am richtigen Ort. Der Arzt findet keinen krankhaften organischen Befund. Den Beschwerden liegen, so stellt sich heraus, Probleme mit seinem Arbeitgeber und in der Familie zugrunde, die mit der Migration zu tun haben. Darüber hinaus besteht eine Depression. Die Migrationskonflikte verursachten also eine depressive Verstimmung, die körperlich erlebt wird. Beim Arzt kommen als erstes die Körperbeschwerden zur Sprache. Ein erfahrener Arzt allerdings sieht auch die seelische Störung dahinter. Es gibt so etwas wie eine kulturtypische Organmetaphorik: Türken projizieren ihre Probleme auf den Magen-Darm-Trakt, Russen auf die Brust mit Schmerzen, die Deutschen sind Romantiker und favorisieren das Herz. Bei den Franzosen wiederum, die gerne gut essen, ist es die Leber, "avoir les foies" heißt im Französischen Angst haben; bei den Briten ist es der Darm, bei den Amerikanern ist es das Virus. In nicht-euro-amerikanischen Kulturen allerdings, also im größeren Teil der Welt, werden seelische Konflikte mit Vorliebe in der Körpersprache artikuliert.
Das heißt, jede Diagnose muss den kulturspezifischen Kontext berücksichtigen?
Genau. Ich hatte bei einem Forschungsaufenthalt in Malawi, Südostafrika, die Gelegenheit mitzuerleben, wie die afrikanischen Heiler ihre psychisch kranken Patienten behandeln. Dabei lernte ich, dass es für viele Afrikaner zum Alltagsleben gehört, mit ihren Ahnen zu kommunizieren. Das bestärkt sie in der Bewältigung ihrer Alltagsaufgaben. Wenn ein afrikanischer Patient aber in eine deutsche Klinik kommt und erzählt, er kommuniziere mit seinen Ahnen, würde das bei uns vielleicht aus Unkenntnis als psychotisches Symptom fehldiagnostiziert. Unser Anliegen auf diesem Kongress ist es, solche Fehler bei der Diagnosestellung durch Aufklärung zu verhindern.
Gibt es so etwas wie Essentials für die Therapie von Menschen mit Migrationshintergrund?
Für den Therapeuten ist es gut, wenn er fremden Kulturen gegenüber eine Neugier mitbringt und sich kultursensibel und empathisch auf seinen Patienten mit Migrationshintergrund einlassen kann. Er sollte seine eigenen Einstellungen seinen Patienten gegenüber besonders aufmerksam wahrnehmen und reflektieren. Wichtig ist für ihn auch, eine aktive, positive und ermutigende Rolle im Therapieprozess einzunehmen.
Es gibt bei solchen Begegnungen aber auch eine Sprachbarriere.
Ja, das stimmt, häufig sind Dolmetscher erforderlich. Die sprachliche Verständigung ist die wesentlichste Vorraussetzung für erfolgreiche Psychotherapie. Doch viele Therapeuten scheuen sich, mit Dolmetschern zu arbeiten. Die Krankenkassen bezahlen das Dolmetschen zumindest für die ambulante Therapie auch noch nicht. Ich arbeite schon viele Jahre mit Dolmetschern und habe dabei gelernt, dass der Dolmetscher als "Dritter im Raum" nicht neutralisiert werden darf, als sei er ein Sprachautomat. Er ist vielmehr ein Sprach- und Kulturmittler und sollte auch als solcher ausgebildet sein. Und er ist der dritte Teilnehmer am therapeutischen Setting und damit in alle Interaktionen einbezogen. In dieser Ménage à trois kommt es durchaus vor, dass Patient und Sprachmittler kulturell miteinander koalieren und ich dann der Dritte, der Fremde im Raum bin. Das ist eine interessante Selbsterfahrung.
Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
Wielant Machleidt, Dr. med. ist emeritierter Professor für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover und ehemaliger Direktor der dortigen Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie. Er ist Leiter des Referats für Transkulturelle Psychiatrie und Migration der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und Vorstandsvorsitzender des Ethnomedizinischen Zentrums Hannover (EMZ). Er leitet Forschungsprojekte auf dem Gebiet der Migration und hat zahlreiche Aufsätze und Bücher veröffentlicht, zuletzt als Mitautor der Sonnenberger Leitlinien. Integration von Migranten in Psychiatrie und Psychotherapie. Erfahrungen und Konzepte in Deutschland und Europa.
Das Ethno-Medizinische Zentrum Hannover e.V. (EMZ), mit dem Wielant Machleidt zusammenarbeitet, wurde 1989 als zivilgesellschaftliche Einrichtung gegründet und widmet sich gesundheitspolititschen Aufgaben, die sich aus der Internationalisierung der Wohnbevölkerung und den Anforderungen an die Versorgung ausländischer Mitbürger ergeben. Das Zentrum vermittelt zwischen Menschen verschiedener Kulturen, mit unterschiedlichen Umgangsweisen und Traditionen von Gesundheit und Krankheit. Die dort entwickelten Konzepte und Angebote sind darauf ausgerichtet, Zugangsbarrieren für Menschen mit Migrationshintergrund im Sozial- und Gesundheitssektor abzubauen.
www.ethno-medizinisches-zentrum.de
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