Wenn die Bomben hochgehen in Ajaccio

KORSIKA Ein Stachel schmerzt im Fleisch der Grande Nation

Frankreichs Regierung hat den Kurs gewechselt. Was für Lionel Jospins Korsika-Politik bislang Tabu war, ist nun möglich: Der Premier empfing korsische Nationalisten zum Gespräch in Paris. Der Gewalt haben sie nicht abgeschworen - doch nach einer neuen Serie von Attentaten und Skandalen in Korsika ist auch die Pariser Linksregierung mit ihrem Latein am Ende. Nach ETA und IRA stehen nun Korsikas Nationalisten am Kreuzweg: Politische Integration oder Terror.

Die Sonne über Korsika geht da auf, wo sie eigentlich gar nicht aufgehen kann: über zwei Berggipfeln und schmal wie ein Holzbrett. Davor ist es schwarz, eine dunkel drohende Pappkartonwand mit aufgemalten Bäumen wie früher bei den Hänsel- und Gretel-Stücken. Das Fährschiff vom Kontinent dümpelt der "Ile de la Beauté", der "Insel der Schönheit", entgegen.

"Korsika ist eine komplexe Sache", hat der Nachbar in der Koje gegenüber nachgedacht. "Korsika ist eine Insel, Korsika ist ein einziges Gebirge, und die Korsen sind eigentlich Bauern. Das ist ziemlich viel auf einmal - politisch und wirtschaftlich gesehen."

Der Herr hat sich Gedanken gemacht, schließlich lebt er nun seit einem Jahr auf der Insel und ist Bankdirektor. Ferner ist zu erfahren, dass sich Korsika in einen Nordteil mit der Stadt Bastia und den Süden mit Ajaccio unterteilen lässt. "Der Norden ist eher italienisch, die Leute sind umtriebig, den ganzen Tag am Organisieren. In Ajaccio sagen sie sich dagegen: Bei uns scheint stets die Sonne, die Leute kommen zu uns, wir müssen dafür nichts tun."

Mittags, wenn die Bomben hochgehen in Ajaccio, kann man immer noch im T-Shirt auf den Restaurant-Terrassen sitzen und ausgezeichneten dorade in Senfsauce essen. Ende November war das so, als ein Sprengsatz vor dem Gebäude der örtlichen Krankenkasse explodierte und ein weiterer vor einer Zweigstelle der Département-Verwaltung. Dass niemand ums Leben kam, war Zufall - oder auch nicht. "Man weiß vorher, dass etwas in die Luft fliegen wird, dann fliegt es also in die Luft, und dann hält man den Mund", hat eine korsische Bekannte als Reiseempfehlung spendiert.

Mit der omerta - der Mauer des Schweigens in Korsika - haben sich Frankreichs Senat und Nationalversammlung in zwei gerade erschienenen Untersuchungsberichten befasst. Der Staat werde in Korsika systematisch vorgeführt, stellt der eine gegen Ende fest. Vol ler Entsetzen hörte sich der Vorsitzende einer der eingesetzten Kommissionen bei einer Vor-Ort-Inspektion den Bericht eines Gendarmerie-Kommandanten an. Der Dialog verlief so:

"Meine Dienststelle war an jenem Tag gegen 13 Uhr von zwei Unbekannten beschossen worden. Der eine feuerte mit einem Gewehr, der andere warf eine Handgranate."

"Und die Täter waren maskiert?"

"Sie sind immer maskiert, sogar nachts, wenn sie Sprengsätze legen."

"Wie lange dauerte die Attacke?"

"30 Sekunden - und wir hatten an die 30 Einschusslöcher, großes Kaliber, wie bei der Jagd."

Die französische Polizei führt Buch und hat mitgezählt: Exakt 11.508 Gewalttaten von 1965 bis zum 31. Mai 1999. Nicht ganz die Hälfte geht auf das Konto korsischer Nationalisten, der größere Teil ist mittlerweile der organisierten Kriminalität auf der Insel zuzuschreiben. Das war Mitte der Sechziger noch anders, als die Gebrüder Simeoni mit ihrem Front Régionaliste Corse auf den Plan traten, ziemlich genau 200 Jahre nach der Besitznahme Korsikas durch Frankreich.

Korsika ist eine kleine Gesellschaft und tanzt der Grande Nation auf der Nase herum. 6.370 Francs pro Kopf - umgerechnet 1900 Mark - investiert Frankreich pro Jahr in die Insel, mehr als in jede andere Region des Landes, und erntet doch nur Undank. Anschläge, Korruption und Polizeiskandale in Korsika haben noch jede französische Regierung politisch destabilisiert. 250.000 Menschen leben hier und haben während der vergangenen Jahrhunderte Zeit gehabt, sich untereinander zu verschwistern und zu verschwägern. Die Familienbande ebenso wie das schwer zugängliche Gebirge waren lange Zeit ein bewährtes Mittel im Kampf gegen die Invasoren - von den Phöniziern bis zu den Franzosen.

Die Gewalt hat Tradition auf Korsika, trösten sich heute Polizei und Minister in Paris. Ein Blick ins Vermischte von Corse-Matin, der regionalen Zeitung, mag das bestätigen: Am Sonntag geht in Calvi die Villa eines britischen Bildhauers in Flammen auf, am Montag fliegen die Fahrzeuge auf einer Baustelle in Zonza in die Luft, in der Nacht zu Dienstag explodiert das Auto eines Privatmanns in Prunelli-di-Fiumorbu. "Wie man auf dem Kontinent einen Streit mit Fäusten regelt, greift man in Korsika zu Sprengstoff", hat eine Polizeidirektorin beim Untersuchungsausschuss des Senats zu Protokoll gegeben.

Gelassenheit ist jedenfalls keine Tugend der Korsen. Auch ohne Bombenanschläge pflügen immer irgendwo Polizei und Rettungswagen mit Blaulicht und Sirenen durch Ajaccios verstopfte Straßen. Diesmal war es ein Autofahrer, der die Beherrschung verloren hat und in eine Gruppe von Demonstranten fuhr, am Vortag waren es Postangestellte, die Akten aus den Fenstern ihrer Büros warfen, um ihrem Arbeitskampf Nachdruck zu verleihen. Auch die Schüler des "Laetitia"-Lyzeums streiken, wenn auch nur für einen Tag. Vor dem Schultor haben sie ein paar Autos aufgefahren und mit nationalistischen Losungen beschriebene Bettlaken über die Windschutzscheiben gehängt. Kirche und Staat mögen in den Schulen getrennt sein. Politik macht in Korsika nicht vor dem Klassenzimmer halt. "Injustice" steht groß auf der Schulmauer gekritzelt: "Santoni 28 anni - Bonnet 2 masi?" - Zu 28 Jahren Haft ist Carlu Santoni, der Chef der Untergrundgruppe A Cuncolta, verurteilt worden, während Korsikas ehemaliger Präfekt Bernard Bonnet als mutmaßlicher Auftraggeber von Brandstiftungen bislang mit zwei Monaten Untersuchungshaft davonkam.

Korsikas Nationalisten finden bei der Jugend Gehör. Das gilt erst recht für Corte, Korsikas einzige Universitätsstadt im Innern der Insel. Was ein Kerl ist in Corte, steht am Tresen und singt. Ghjuvan Francescu macht das so und Petrusantu und alle anderen von der Universität. Sie stehen in den Bars des Cours Paoli, der Hauptstraße, sehen sich fest ins Auge und stimmen eine dieser korsischen Polyphonien an, eine Hand ans Ohr gedrückt, um nicht von der Stimmlage des Nachbarn gestört zu werden. Sie singen von der Freiheit und vom Kampf, den sie gewinnen werden, und meinen es Ernst. Und ihre Mädchen lächeln, weil sie das längst kennen. Mit Frankreich aber haben sie alle nichts, aber auch gar nichts mehr zu schaffen. In Corte ist daher alles Symbol: die Abgeschiedenheit in den Bergen, die Zitadelle der Franzosen, die über der Kleinstadt thront und heute ein Museum der korsischen Geschichte ist. Auch der ungeschlachte Granitblock unterhalb der Festung, einst Domizil für die Regierung des Pasquale Paoli, die im 18. Jahrhundert einer kurzlebigen Republik Korsika vorstand. Oder die Universität von Corte, die erst 1981 nach dem damaligen Wahlsieg der französischen Sozialisten und 200 Jahren Unterbrechung wieder öffnen durfte.

"Wir haben nicht das Recht, anderswo hinzugehen und zu studieren", sagen die jungen Korsen, die nachmittags nach den Seminaren in den Bars von Corte stehen. "Unsere Eltern haben gekämpft für diese Universität, unsere Großeltern sind in der Schule noch geprügelt worden, wenn sie Korsisch sprachen", erklärt eine Studentin stolz, "wir haben hier unsere Kultur erst wieder neu lernen müssen." - Weil das so ist, studieren Vannina Ottavi und ihre Cousins und Cousinen Korsisch und Jura oder Korsisch und Volkswirtschaft. Auf der Insel wollen sie selbstverständlich bleiben, auch wenn allein der Öffentliche Dienst Aussicht auf Anstellung bietet. Die Mafia und die Bombenanschläge der Nationalisten verhindern private Investitionen. - "Die Franzosen haben uns ruiniert durch die Besetzung und die Strafzölle", behaupten die Studenten, außerdem richte die EU mit ihren Verordnungen die korsischen Bauern zugrunde. Dass öffentliche Mittel der Regierung oder der EU-Kommission oft in dunkle Kanäle verschwinden, lassen sie nicht gelten. Bomben explodierten überall, heißt es, Schutzgeld würde auch auf dem Kontinent erpresst - auf jede Erwiderung haben sie eine Gegenfrage parat: "Und was ist mit dem Präfekten Bonnet, der Strandrestaurants anzünden ließ?", fragt Vannina zurück. Mit Anfang 20 ist die Welt schon klar, und Paris sehr weit. Zwei Stunden mit dem Zug zur Küste, eine Nacht mit der Fähre, noch einmal sechs Stunden Zugfahrt in die französische Hauptstadt, sollte das Flugpersonal wieder einmal streiken.

"Frankreich - Mörderstaat!", skandieren die Studenten spät in der Nacht während eines Konzerts in einem Hörsaal der Universität und trommeln rhythmisch auf die Bänke. Die bärtigen Professoren in Pullovern, die auf der Bühne stehen und ihrerseits Polyphonien zu Gehör bringen, nehmen es zur Kenntnis. Ihren größten Applaus ernten die Lehrer mit dem Revolutionsklassiker vom "Commandante Che Guevara". Die zwei studentischen Gewerkschaften Consulta di i studenti corsi und Ghjuventù Paolina haben zu diesem Kulturabend auf dem Campus eingeladen. Künftig werde gemeinsam marschiert, kündigten die Gewerkschaftsführer an. In Corte wie überall auf der Insel bemühen sich die Nationalisten nach Jahren blutiger Fehden um die Einheit. Im Untergrund ist jedoch genau das Gegenteil eingetreten. Immer neue Splittergruppen machen mit Anschlägen von sich Reden. Mit Erfolg versuchen die Nationalisten die Jugend auf Korsika zu gewinnen, oft sind die Eltern schon engagiert. Bei weitem nicht alle Studenten und Gymnasiasten gehören den legalen nationalistischen Gruppen an, doch über die Gewaltakte auf der Insel denken sie ähnlich subtil wie Corsica Nazione, die Nationalisten im Regionalparlament: Sie verurteilen die Anschläge, nicht aber ihre Urheber. "Gloria aie, Yvan", steht auf manchen Wegtafeln in den Schluchten um Corte gekritzelt, "Ruhm sei dir, Yvan". - Irgendwo dort in den Bergen hält sich der Korse Yvan Colonna versteckt. Er soll im Februar 1998 den Präfekten Claude Erignac erschossen haben.

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