Man muss sich nur das Papier ansehen, mit dem alles angefangen hat, um das Problem zu verstehen. Gut fünf Seiten ist die Bologna-Erklärung lang, mit der die europäischen Regierungen 1999 die Hochschulreformen starteten. Von „arbeitsmarktbezogener Qualifizierung“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ ist da die Rede. Soziale Fragen spielen keine Rolle, Begriffe wie Chancengleichheit oder soziale Durchlässigkeit fehlen in dem Text, der zur vielleicht größten Umwälzung im deutschen Hochschulsystem führte.
Was solche politischen Prioritäten bedeuten, zeigt sich jetzt, elf Jahre später, nachdem große Teile der Reform-Agenda Realität geworden sind: Das deutsche Uni-System ist weit davon entfernt, Chancengleichheit zu ermöglichen, und zementiert gesellschaftliche Grenzen, anstatt sie aufzubrechen.
In Deutschland studieren unterdurchschnittlich viele junge Leute. Nur 25 Prozent eines Jahrgangs schaffen laut einer OECD-Erhebung einen Hochschulabschluss. Das könnte man noch als deutsche Besonderheit abtun, weil über das duale Ausbildungssystem viele auf anderem Weg ihren Beruf erlernen. Erschreckend wird es aber, wenn man sich die Zusammensetzung der Studentenschaft ansieht. „Mehr als 50 Prozent der Studenten kommen aus einem akademischen Elternhaus, während der Gesamtanteil der Akademiker an der Erwerbsbevölkerung nur bei rund 20 Prozent liegt“, sagt Andrä Wolter, Professor für Bildungsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Nicht der Job oder das Einkommen der Eltern entscheiden darüber, ob das Kind studiert, sondern vor allem ihr Bildungsabschluss. Wolter und seine Kollegen sprechen deshalb von „Bildungsvererbung“.
Trutzburgen der Bildungselite
Gerade die Berufe mit dem höchsten Prestige sind Trutzburgen der Bildungselite: Zwei von drei Medizinstudenten sind Akademikerkinder, bei den Juristen ist es jeder zweite. Diese Ungleichheit gilt genauso für Abiturienten mit identischen Noten: Während der Schüler aus akademischem Elternhaus zu 80 Prozent studiert, beginnt der Schüler, dessen Eltern nicht selbst an der Uni war, nur zu 60 Prozent ein Studium.„Durch die Reformen hat es bisher keine sozialen Öffnungstendenzen gegeben“, sagt Wolter. Die Beschlüsse der jüngsten Zeit werden daran kaum etwas ändern.
Stichwort Stipendien: Von dem sowieso schon unterdurchschnittlich wenigen Geld, das Deutschland in sein Bildungssystem investiert (4,7 Prozent des BIP) fließt nur ein vergleichsweise mittelmäßiger Anteil in Förderung und Stipendien. Ganz anders als zum Beispiel in Großbritannien, das mehr als die Hälfte seiner Bildungsausgaben in die direkte Unterstützung der Hochschüler steckt.
Nun hat die Bundesregierung mit großem Tamtam ein nationales Stipendiensystem angekündigt. 300 Euro im Monat sollen die Stipendiaten bekommen, eine Hälfte zahlt der Bund, die andere die Wirtschaft. Doch anstatt Chancenungleichheiten auszugleichen, dürfte es sie noch verstärken. Die soziale Lage der Studenten spielt bei der Vergabe nämlich quasi keine Rolle. So kommt das Programm vor allem jenen zu Gute, die es eigentlich nicht brauchen. Bei der Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft (GEW) fürchtet man gar, dass der Rechtanspruch auf Ausbildungsförderung schrittweise ausgehöhlt wird, wenn die Wirtschaft darüber mitbestimmt, wer gefördert wird. „Es droht ein Paradigmenwechsel“, sagt GEW-Hochschul-Vorstand Andreas Keller. Fast schon beruhigend wirkt es da, dass die Regierung ihr Programm wegen Finanzierungsproblemen eindampfen musste, bevor es losgeht.
Verlierer der Reform
Das beste Werkzeug, um sozial Schwache beim Studium zu unterstützen, wird dagegen von der Politik vernachlässigt: Das gute alte BAFÖG. Experten kritisieren seit langem, dass die Sätze zu niedrig liegen. In der vergangenen Woche konnten sich Bund und Länder nach monatelangem Gezerre auf die erste Erhöhung seit fünf Jahren einigen – um ganze zwei Prozent, umgerechnet 13 Euro pro Monat. Würde man den wirklichen Bedarf der Studenten zugrunde legen, sei ein Anstieg um 15 Prozent angemessen, sagt GEW-Vorstand Keller.
Und so leben weiterhin rund ein Viertel der Studenten in prekären Verhältnissen. Einige von ihnen landen bei Michael Sievers. Er ist Sozialreferent beim ASTA der Kölner Uni. „Viele können die 700 Euro Studiengebühren einfach nicht auf einmal zahlen oder haben nach der Zusage der Uni gar nicht genug Zeit, um einen Kredit bewilligt zu kriegen“, sagt er. Deshalb hat der Kölner ASTA zinslose Kurzkredite eingerichtet. 230 Euro können sich Studenten für einen Monat leihen, um zumindest die Exmatrikulation zu verhindern.
Es gibt Anzeichen, dass die Bachelor-Umstellung die Geldprobleme noch verstärkt. Anders als früher zählt nun jede Prüfung für die Abschlussnote. Diese wiederum wird zum Nadelöhr für die akademische Karriere, denn nur die besten können sich eines Master-Platzes sicher sein. Zusätzlich ist das neue System mit seiner Verschulung viel starrer als das alte – und benachteiligt diejenigen, die neben dem Studium Geld verdienen müssen.
"Man wird da ja bescheiden"
Zu den größten Verlierern im deutschen Hochschulsystem gehören Menschen, die kein Abitur, dafür aber eine Ausbildung und Berufserfahrung vorweisen können. Nur ein bis zwei Prozent der Hochschüler schafft es über diesen Weg in die Uni, in skandinavischen Ländern liegt der Anteil dagegen im zweistelligen Bereich. Die Kultusministerkonferenz hat die Hochschultüren im Frühjahr 2009 mit einem Beschluss zwar einen kleinen Spalt weit geöffnet. „Das hat bislang aber keine Wirkung gezeigt“, sagt GEW-Vorstand Keller.
Dabei würde es sich finanziell durchaus rentieren, Handwerks-Meister und Facharbeiter an die Uni zu holen. Von jedem Hochschulabsolventen kassiert der Staat über die Berufslaufbahn gesehen durchschnittlich 155.000 Euro mehr Steuern als von einem Nicht-Akademiker.
Die Bologna-Minister immerhin haben angefangen, soziale Fragen zumindest zu beachten. Seit einigen Jahren versucht die Studie Eurostudent die soziale Lage der Studenten zu erfassen. „Ein wirkliches Maßnahmenpaket“ sei daraus nicht erwachsen, sagt Wolter. „Aber immerhin beschäftigt man sich jetzt mit dem Thema“, sagt er. „Man wird da ja bescheiden.“
Die Autoren arbeiten zusammen im Kölner Journalistenbüro weitwinkel-reporter.de
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