Der Schriftsteller Vladimir Sorokin steht in Moskau wegen Verbreitung von Pornographie vor Gericht. Als "pornographisch" wird eine Szene aus seinem Roman Der himmelblaue Speck bewertet, die einen Geschlechtsakt zwischen Chruschtschow und Stalin darstellt. Angeklagt wurde Sorokin von einer im Westen bislang kaum bekannten Jugend-Organisation namens "Die Zusammengehenden" (russisch: Idushchie vmeste). Bereits mit ihrer letzten öffentlichen Aktion haben sich "Die Zusammengehenden" nicht nur Russland-weit einen Namen gemacht, sondern auch im Ausland für ein böses Déjà-vu-Erlebnis gesorgt: Vor dem Bolschoj-Theater zerrissen sie die Bücher Sorokins, traten sie mit den Füßen und warfen sie in eine speziell dafür aufgebaute Klo-Attrappe hinein. Bilder v
Wer in Macht investiert, will Macht gewinnen
Schwarze PR gegen himmelblauen Speck Über die Männer im Hintergrund der "Putin-Jugend", die den Schriftsteller Vladimir Sorokin wegen Pornografie vor Gericht bringen will
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. Bilder von dieser barbarischen Demonstration strahlte der ARD-Kulturreport vor zwei Wochen aus - gleich nach dem Beitrag zum 100. Jubiläum von Leni Riefenstahl."Putin-Jugend" und "schwarze PR" Wer oder was steht nun hinter dieser dubiosen Bewegung, die man im Ausland nicht recht einzuschätzen weiß und die diffuse Befürchtungen weckt? Der etwa 30-jährige Anführer der "Zusammengehenden", Wassilij Jakimenko, begann seine Karriere als Staatsdiener in der Präsidialadministration. Sein Können als Demo-Organisator demonstrierte er zum ersten Mal im Präsidentenwahlkampf vor zwei Jahren. Unter den Konkurrenten Putins gab es einen ehemaligen Staatsbeamten, der einst wegen einer Sexaffäre hatte zurücktreten müssen. Um die Wähler an diese Affäre zu erinnern, kam man im Putin-Wahlstab auf den Gedanken, eine Demonstration von Moskauer Prostituierten zu organisieren, die dem lebensfreudigen Politiker ihre angebliche Unterstützung zeigen sollten. Der Urheber der Idee hat mir neulich geschworen, dass es sich dabei zunächst lediglich um einen Witz gehandelt habe, den er bei einer Besprechung in die Runde geworfen hatte. Doch seine Kollegen, unter ihnen die besten PR-Spezialisten des Landes, fanden die Idee gut. Aktionen wie diese gehören in Russland zum politischen Alltag; auf neurussisch werden sie "tschernyj piar" genannt, "schwarze PR". Wie für Russland gewissermaßen typisch, wird ein moderner Begriff aus dem Englischen mit Inhalten byzantinisch-sowjetischer Prägung gefüllt: Um ein attraktives Politiker-Image in der Öffentlichkeit aufzubauen, bevorzugt man als wirksamstes Mittel die Diskreditierung der Konkurrenten. Die "Prostituierten"-Demo fand im Zentrum von Moskau statt. Wassilij Jakimenko hatte für ein bescheidenes Honorar eine Handvoll Studentinnen engagiert. Die stark geschminkten und bunt gekleideten Studentinnen sahen jedoch gar nicht nach Prostituierten aus und wurden dementsprechend von der Presse ausgelacht. Ihren bloßstellenden Effekt für den vermeintlich unterstützten Gegenkandidaten Putins verfehlte die Demonstration trotzdem nicht. Kurz nach Putins Sieg wurde Jakimenko mit der Gründung einer Jugend-Organisation beauftragt, die an die Komsomol-Traditionen aus der sowjetischen Zeit anknüpfen sollte. Sorokin nennt "Die Zusammengehenden" eine "SA mit Puderzucker", meint aber, dass die SA-Leute vom Nationalsozialismus überzeugt gewesen seien, "Die Zusammengehenden" dagegen junge Leute für ihre Aktionen mit barem Geld kaufen. "Das ist eher eine kapitalistische als eine totalitäre Veranstaltung." Tatsächlich ist die Organisation nach dem gleichen Schneeballprinzip aufgebaut wie die berüchtigten russischen Anlagegesellschaften Anfang der neunziger Jahre. Wie einst die "Prostituierten" rekrutierte Jakimenko seine ersten "Komsomolzen" unter Moskauer Studenten. Die sollten dann ihrerseits neue Mitglieder anwerben und dadurch ihre eigene Position in der Organisation stärken. Wer fünf neue Mitglieder gewinnt, wird zum Fünfer-Kommandeur und bekommt einen Pager, um mit seinen Vorgesetzten immer in Kontakt zu bleiben. Wer 50 Mitglieder anwirbt, bekommt außer dem Pager noch ein Gehalt von umgerechnet 50 Dollar pro Monat und wird zum Kommandeur einer Einheit. Alle Mitglieder dürfen bestimmte Schwimmbäder, Kinos oder Internet-Cafés kostenlos besuchen. Die Organisation besitzt ein eigenes Reisebüro mit Sonderpreisen für die Genossen. Im Gegenzug verpflichten sich die Mitglieder, an allen Aktionen diszipliniert teilzunehmen und einen "Sittenkodex" einzuhalten. Der allerdings hat kaum etwas mit Politik zu tun. Die Mitglieder müssen ihre Eltern und generell ältere Menschen ehren, Tiere schützen, sich ständig verbessern; Drogen, Alkohol, Schimpfwörter und rassistische Vorurteile sind verboten. Das einzige, was der Organisation politisches Profil verschafft, ist die Unterstützung von Präsident Putin. Im Mai 2001 und 2002 feierten "Die Zusammengehenden" den ersten und den zweiten Jahrestag von Putins Vereidigung. Tausende Demonstranten trugen T-Shirts mit seinem Porträt. Daher wurden sie in der russischen Presse fortan als "Putin-Jugend" bezeichnet. Dabei verwenden die Journalisten in ihrer Sprachkreation statt des russischen "Molodjosch" das deutsche Wort "Jugend", um die historische Assoziation eindeutig zu machen. Doch allein bei der öffentlich demonstrierten Liebe zum Präsidenten sollte es nicht bleiben. Gemäß der byzantinischen Logik der "schwarzen PR" war ein Feindbild nötig, um die Putin-Jugend richtig bekannt zu machen. Das wurde in der modernen russischen Literatur gefunden. Ich wage zu bezweifeln, dass jemand aus der Jugend-Organisation Sorokins Bücher gelesen hat, ehe man auf die Suche nach den "schlimmsten" Zitaten für die Plakate ging. Sorokins stilistische Experimente sind für den Durchschnittsleser schwer zugänglich; um seine literarischen Anspielungen zu verstehen, braucht man einen anderen kulturellen Hintergrund als den der Neo-Komsomolzen. Von den "Zusammengehenden" wurde Sorokin einfach als PR-Gag missbraucht. Doch für diejenigen, die hinter der Organisation stehen, war die Wahl des Schriftstellers als Zielscheibe nicht zufällig.Der unbekannte Strippenzieher Dass die Attacke gegen Sorokin keine Eigeninitiative der Putin-Jugend war, lässt sich leicht erkennen. Für russische Verhältnisse ist es so gut wie ausgeschlossen, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren ohne Einverständnis des Kreml eröffnet hätte. Auch die Reaktion des für seinen Opportunismus bekannten russischen Kulturministers Schwydkoj ist bezeichnend: Er sei zwar gegen Zensur, fände es aber gut, dass ein Gericht dem russischen Volk erklärt, was Pornographie ist. Die Absurdität des Pornographie-Vorwurfs in einem Land, in dem Pornographie der perversesten Sorte an jeder Straßenecke zugänglich ist, liegt auf der Hand und wird von großen Teilen der Bevölkerung auch erkannt. Für Vladimir Sorokin sind die Anzeige und der Prozess nur in einem breiten politischen Zusammenhang zu verstehen: "Der Staat kontrolliert das Fernsehen und die Wirtschaft, nun ist die Kultur dran. Noch sind die Literaten unabhängig und können schreiben, was sie wollen. Das macht einigen Beamten im Kreml Angst." Als Jakimenkos politischer Pate gilt der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Wladislaw Surkow. Er ist für die Kontakte mit den Parteien und Parlamentsfraktionen zuständig. In Realität bedeutet das: Er gestaltet die politische Landschaft der russischen Föderation von der ehemaligen KPdSU-Zentrale aus mit, indem er die Gründung neuer Parteien unterstützt, ihre Finanzierung über Sponsoring durch Großkonzerne sicherstellt oder die bereits bestehenden Parteien hinter den Kulissen dirigiert. Surkow war einer der maßgeblichen Architekten der Putin-Partei mit dem Namen Einheit, hat aber auch bei kleineren Parteien, einschließlich der linken und rechten Opposition, stets die Finger mit im Spiel. Surkow kam aus der Wirtschaft in die Politik - bei den Großbanken Menatep und Alfa, die zu den wichtigsten Finanzkonzernen Russlands zählen, hatte er sich als geschickter PR-Macher einen Ruf erworben. Der 37-Jährige gehört zu jener neuen Kreml-Generation, die ihre Erfahrungen im Raubtierkapitalismus erfolgreich auf die Politik übertragen hat. Die politischen Parteien betrachtet Surkow als eine Art Unternehmen: "Wenn ich in Macht investiere, will ich dadurch mehr Macht gewinnen." Wie in einem Vexierspiegel haben in Russland PR-Macher und Parteien ihre Rollen getauscht: Es bestellt jetzt nicht etwa eine Partei eine PR-Agentur, um ihr Image aufzupolieren oder dem Wähler ihr Progamm nahe zu bringen, vielmehr sind es die PR-Leute - neurussisch "Piarschiki" -, die die politischen Profile der Parteien gestalten und damit das politische Leben des Landes insgesamt. In letzter Zeit scheint Surkow am rechten Rand der Politik besonders aktiv zu sein. Außer den "Zusammengehenden" hat er auch die sogenannte "Volkspartei" ins Leben gerufen, die mittlerweile im Parlament vertreten ist und kürzlich mit einer Reihe provokativer Gesetzentwürfe und Deklarationen für Verwirrung sorgte. Unter anderem will die "Volkspartei" den 1993 abgeschafften Paragraphen 121, der Homosexualität als Straftat bewertet, wieder ins Strafgesetzbuch aufnehmen und das Moratorium für die Todesstrafe aufheben; sie kämpft gegen den Einfluss der katholischen Kirche im orthodoxen Russland und für weitere Einschränkungen der Pressefreiheit. Die zwei strategischen Ziele hinter Surkows Manövern auf der rechten Flanke verorten Beobachter nun keineswegs in der Durchsetzung dieser Anliegen, sondern eher in deren Gegenteil: Durch die "Volkspartei" soll der Stimmanteil für die konservativen Altkommunisten weiter geschwächt werden und so die Wiederwahl Putins in zwei Jahren begünstigt werden. Man hofft auf ein ähnliches Szenario wie kürzlich in Frankreich: Angesichts rechter Gefahr würden selbst Regime-Gegner Putin unterstützen. Seine politische Vision hat Surkow einmal mit einer ironischen Formel zusammengefasst: liberale Wirtschaft und ein bisschen Verletzung der Menschenrechte. Doch es wäre falsch, den "unbekannten Strippenzieher" - wie der Kreml-Stratege häufig genannt wird - als einen selbstständigen Politiker mit ehrgeizigen Zielen zu betrachten. Er ist ein fester Bestandteil von Putins "Machtvertikale", was er auch selbst stolz deklariert: "Ich bin ein Mann, der die Wünsche seiner Vorgesetzten grundsätzlich als militärische Befehle begreift."
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