Wie die Berserker

Genua Die grünen Bundestagsabgeordneten Annelie Buntenbach und Christian Ströbele nach ihrem Besuch in Genua über den Vorschlag, die Freizügigkeit für Reise-Demonstranten einzuschränken

FREITAG: Gibt es konkrete Vorwürfe gegen die inhaftierten Deutschen?

Christian STRÖBELE: Wir wissen von keinem, dem die italienischen Behörden vorwerfen, an irgendeiner konkreten Gewalttat beteiligt gewesen zu sein. Es sind alles Personen, die nicht etwa auf einer Demonstration herausgegriffen wurden, weil sie vermummt waren und einen Stein in der Hand hatten.

Annelie BUNTENBACH: Bei einem Haftprüfungstermin erfuhr ich von sieben Frauen, die festgenommen worden sind, als sie Italien verlassen wollten; und zwar auf Grund ihres Aussehens und der Gegenstände im Wohnmobil, zum Beispiel Hämmer aus der Werkzeugkiste und Messer. Selbstverständlich braucht man so etwas beim Camping. Zudem wurden eine Reihe von schwarzen Kleidungsstücken gefunden. Die Polizei interpretiert, dass die Frauen zum Schwarzen Block gehört haben müssen. Das finde ich eine sehr wackelige Beweislage.

Welche Strafe droht den Gefangenen?

BUNTENBACH: Der betreffende Paragraph im italienischen Strafgesetzbuch - eine Mischung von schwerem Landfriedensbruch und Bildung einer terroristischen Vereinigung - sieht eine Mindeststrafe von acht Jahren vor. Wenn es zu einem Prozess kommt, könnten die Frauen bis dahin in Italien unter Hausarrest gestellt werden. Das kann bis zu einem Jahr dauern.

Können Sie nach ihrem Aufenthalt in Genua das brutale Vorgehen der Polizei bestätigen?

STRÖBELE: Nach den Erzählungen von Leuten, die an den Demonstrationen beteiligt waren und aus dem Genoa Social Forum, das die Demonstrationen mit organisierte, gab es Situationen, in denen versucht wurde, Leute vom Steinewerfen abzuhalten. Während noch darüber diskutiert wurde, warf die Polizei Tränengas. Man hat den Eindruck, dass sie keinerlei Kommunikation mit den Demonstranten herstellte und es an einzelnen Stellen geradezu darauf anlegte, dass es zum Knall kam. In Italien kursieren auch Filme und Mitteilungen, dass autonom Aussehende in Polizeiunterkünften ein und ausgegangen sind. Es besteht so der Verdacht, dass es Agent Provocateurs gegeben hat.

BUNTENBACH: Augenzeugen berichten, dass eine Beamtin im Punklook und den entsprechenden Anti-G-8 Aufklebern und Tatoos mit gezogener Waffe zwischen ihren Kollegen gestanden habe.

Es ist aber nicht nur während der Demonstrationen, sondern auch später zu Polizeiübergriffen gekommen. Was haben Sie darüber erfahren?

STRÖBELE: Eine Frau sagte mir, bei der Erstürmung der Schule, in der viele Demonstranten übernachteten, seien diese zum Teil zusammengeschlagen und ins Krankenhaus gebracht worden. Andere, die unverletzt blieben, seien in eine Art Zwischenquartier der Polizei in Genua verbracht worden. Die Frau spricht von einem Folterzentrum. Sie sagt, an der Wand, auf dem Boden und an der Heizung des völlig kahlen Raumes war alles voll mit Blut. Sie mussten die ganze Nacht, zehn Stunden lang, stehen. Immer wenn sie zusammensanken, kriegten sie einen Knüppel in den Rücken und mussten wieder aufstehen. Das erinnert an Verhältnisse unter einer Militärdiktatur.

BUNTENBACH: Solche Berichte haben wir auch von Leuten gehört, die später festgenommen worden sind. Drei sind Montagabend verhaftet worden und Donnerstagabend hatten sie mit uns den ersten Außenkontakt. Nicht einmal das deutsche Konsulat konnte sie bis dahin besuchen. Sie berichteten, dass sie am Montag nach ihrer Verhaftung ebenfalls in der Polizeistation auf den Boden geworfen und dann vier Stunden zusammengetreten worden seien. Man sah das auch. Die Verletzungen im Gesicht, blaugeschlagene Augen und aufgeplatzte Lippen waren noch deutlich sichtbar.

STRÖBELE: Anders als bei Demonstrationen kann man ganz gut beurteilen, woher die Verletzungen kommen. Die Leute sind unverletzt in die Schule gegangen, verhaftet worden und jetzt sehen sie so aus. Wir haben viele Fotos gesehen, wo handtellergroße, blutunterlaufene Stellen am ganzen Körper zu sehen sind. Die Polizisten müssen wirklich wie die Berserker über sie hergefallen sein.

Wie ist der sichtbar gewordene Gewaltexzess mit der im Dezember von der Europäischen Union beschlossenen Grundrechtscharta vereinbar?

STRÖBELE: Es gibt die Idee einer internationalen Untersuchungskommission. Die Frage ist, ob die italienischen Behörden bereit sind, mit einer solchen Kommission zusammenzuarbeiten. Das hängt vom nationalen und internationalen Druck ab. Kommt es zu keiner internationalen Untersuchungskommission, ist es schwieriger, an Dokumente und Aussagen heranzukommen.

BUNTENBACH: Auf jeden Fall werden die ganzen Betroffenen- und Augenzeugenberichte dokumentiert, so dass darüber eine öffentliche Diskussion stattfinden kann. Sie muss es auch.

Warum eine internationale Untersuchungskommission?

STRÖBELE: Weil Demonstranten aus zahlreichen Ländern Europas misshandelt worden sind. Was ihnen angetan wurde, sind schwere Straftaten. Körperverletzungen und Folter im Amte werden in allen Ländern verfolgt. Und darüber hinaus werden den Gefangenen systematisch die ganz normalen Rechte eines fairen Verfahrens verweigert.

Der italienische Vizepräsident Gianfranco Fini äußerte nach dem Gipfel, die Demonstranten hätten es darauf angelegt, dass Blut fließt. Sie hätten bekommen, was sie wollten.

BUNTENBACH: Dieses offen brutale Vorgehen gegen Demonstranten gab es in Westeuropa schon lange nicht mehr. Die Polizei hat sich nicht die Mühe gemacht, irgend etwas zu vertuschen. Wenn eine rechte Regierung mit faschistischer Beteiligung an die Macht kommt, ist das immer eine Ermutigung für diejenigen innerhalb der Sicherheitsapparate, alle, die nicht in ihr Weltbild passen, wegzuhauen. Solch ein Verhalten wird verstärkt, weil der einzelne Beamte den Eindruck gewinnt, für sein Verhalten gäbe es Rückendeckung oder gar Lob.

Im Vorfeld der Fußball-EM 2000 erließ die Bundesregierung ein geändertes Passgesetz, um Holligans an der Ausreise zu hindern. Das soll nun auf Polit-Hooligans - ein Ausdruck von Gerhard Schröder - ausgeweitet werden. Gibt es, wie es der Berliner Innensenator Ehrhart Körting formulierte, kein Grundrecht auf Ausreise mehr?

STRÖBELE: Da läuft es mir als Berliner kalt den Rücken runter. Es sind Leute zu erheblichen Freiheitsstrafen verurteilt worden, weil sie das Recht auf Ausreise in der damaligen DDR gefordert haben. Natürlich gibt es in Europa das Recht auf Freizügigkeit gerade zur Wahrnehmung des Versammlungsrechts. Wir als deutsche Bundestagsabgeordnete werden uns intensiv mit dieser Praxis befassen, auch mit der Landfriedensbruch-Datei, die da eingerichtet worden ist. Wir wollen ein demokratisches Europa, und nicht eins, wo man allenfalls noch in seiner Stadt das Demonstrationsrecht wahrnehmen darf.

BUNTENBACH: Es ist offensichtlich so, dass zum Beispiel Leute, die an einer Sitzblockade teilgenommen haben, mit Reisebeschränkungen belegt werden. Die angelegten Dateien halte ich nicht für geeignet, um eine vernünftige Wirkung zu erzielen.

Würden Sie das Freizügigkeitsrecht kategorisch befürworten?

STRÖBELE: Freiheitsrechte sind unteilbar. Wenn Hooligans mit dem offensichtlichen Ziel zu einer Weltmeisterschaft fahren, um dort Gewalt auszuüben, dann muss man sicherheitspolizeiliche Maßnahmen treffen. Aber das man etwa das Recht auf Demonstrationen auf einzelne Länder reduziert, das wäre so ähnlich, wie wenn man jemand aus Nordrhein-Westfalen verbieten würde, in Wackersdorf oder Gorleben zu demonstrieren, weil das in einem anderen Bundesland liegt.

Das Gespräch führte Manfred Horn

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