Wie viel Geschichte braucht Neue Musik?

Musik-Philosophie Heinz-Klaus Metzger über Tradition, Katastrophen-Erfahrung und den Realismus, der im elitären Kunstverständnis enthalten ist

Heinz-Klaus Metzger, 1932 in Konstanz geboren, kommt aus der Pariser Komponistenschule von Max Deutsch und der Interpretationsschule von Rudolf Kolisch und studierte Musikwissenschaft. 1980 erschien sein Buch Musik wozu? Literatur zu Noten. Seit 1977 gibt Metzger mit Rainer Riehn bei der Münchener edition text + kritik die Reihe Musik-Konzepte heraus. 111 Bände liegen bisher vor. Neben jahrelangen engen Kontakten zu John Cage verband ihn seit 1950 eine Freundschaft mit Theodor W. Adorno. Beider Briefwechsel wird im Herbst 2004 bei Suhrkamp erscheinen.

FREITAG: Neue Musik - sie umschließt heute ungleich mehr als noch vor 50 Jahren - schleppt nach wie vor ein Ganzteil Geschichte mit sich herum. Ohne Geschichte geht es nicht. Wie viel Geschichte braucht sie?
HEINZ-KLAUS METZGER: Wenn wir die Geschichte der Musik beiseite schieben wollten, müssten wir wieder neu anfangen, und zwar bei Adam und Eva. Tradition hat den unermesslichen Vorteil, dass sie es Nachfolgern ermöglicht, auf die Schultern ihrer Vorgänger zu steigen, und so entstehen dann die geschichtlichen Türme, die natürlich nicht in den Himmel wachsen, sondern irgendwann zusammenkrachen. Das sind die historischen Katastrophen, von denen das zurückliegende Jahrhundert besonders schwere und einschneidende gekannt hat.

Ohne Tradition, ein ziemlich abgelaufener, problematischer Begriff, geht es also nicht?
Tradition ist Regressionsschutz. Ihre Substanz besteht im Verbot des Rückfalls hinter das bereits Erreichte. Wichtig ist, dass man das, was zuvor geleistet wurde, kennt und es kritisch prüft, um es weiterzuentwickeln. Einiges, vielleicht Vieles wird man dabei verwerfen, abschaffen müssen. Ich habe vor Jahrzehnten gesagt: Der Rang eines Künstlers misst sich nicht an dem, was er schafft, sondern an dem, was er abschafft - ein Wort, das mir von einer Menge Komponisten sehr verübelt worden ist.

Was haben Sie persönlich hinter sich gelassen oder sich aufgeladen an Geschichte, an Tradition?
Den Begriff von Geschichte habe ich vor allem durch die Gewalt der Geschichte selbst gelernt. Sie legt uns in unendlich vielem fest, determiniert das uns überhaupt noch Mögliche. Und das Geschehene ist ja irreversibel. Man kann es nicht ungeschehen machen. Die einzige Utopie, die niemals funktionieren kann, ist die des Ungeschehen-machen-wollens des Geschehenen. Man kann eben auch nichts wiedergutmachen. Die wichtigste geschichtliche Lektion für meine Generation in Europa war natürlich der Faschismus. Sein Aufkommen war in den progressiven Theorien marxistischer, aber auch anarchistischer Prägung nicht vorgesehen. Das war die nicht erwartete Katastrophe, die über uns hereingebrochen ist, über diesen Erdteil zunächst. Sie hat sich dann, wie mir scheint, leider doch über die ganze Welt ausgebreitet. Der Faschismus, den wir in Europa einmal besiegt zu haben meinten, ist ja mittlerweile ein schier weltweites Phänomen, gerade auch in seinen mörderischsten Spielarten. Das ist die globale Katastrophe.

Ein Geschichtsphilosoph hat aus dieser Wendung zur richtigen Zeit die Konsequenz zu ziehen versucht: Walter Benjamin.
Ja. Seine Thesen über den Begriff der Geschichte haben die Fortschrittstheorie umfunktioniert in eine Katastrophentheorie, dies allerdings im Horizont einer doch festgehaltenen Hoffnung auf das Kommen des Messias.

Wenn man die Benjaminsche Geschichtsphilosophie auf die musikalische Geschichte anwendet, könnte man zu demselben Schluss kommen, nämlich dass wir insgesamt auf einer abschüssigen Bahn sind in der musikgeschichtlichen Bewegung, was alle Musik anlangt, und eine Utopie kaum sichtbar ist, eine Utopie nicht mal wartet.
Die herrschende Musik ist natürlich die Popmusik, die Zwangsbeschallung, die uns überall widerfährt, in jedem Restaurant oder Supermarkt, bei jedem Friseur, beim Zahnarzt, auf den Flughäfen, in vielen Ländern auch in den Eisenbahnzügen. Das ist die omnipräsente Diktatur des Schalls, wie ich es in der Überschrift einer meiner Arbeiten genannt habe: ein wichtiges Herrschaftsinstrument des globalen Marktfaschismus, der kein Asyl-Land für die Künste mehr übrig lässt, um eine Formulierung des Schweizer Filmemachers Mathias Knauer aufzugreifen.

Partiturmusik heiße Ermöglichung der Kunst des Komponierens um den Preis der Abschaffung dessen, was während der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor Musik war, schreiben Sie. Heute geht es anders zu als vor 100 Jahren oder zur Bach-Zeit. Ausschließlich Partiturmusik zu schreiben, das tun junge Komponisten kaum noch. Der junge, dynamische Innovator von heute schöpft seine Klänge aus dem Computer, die die Partitur in dem altertümlichen, traditionellen Sinne überflüssig machen. Gleichzeitig komponieren viele freilich noch auf dem Notenblatt.
Die Komponisten, die ich kenne, schreiben heute überwiegend oder ausschließlich Partituren. Das reicht hierzulande von Klaus Huber, Dieter Schnebel, Helmut Lachenmann, Paul-Heinz Dittrich und Erhard Großkopf über Mathias Spahlinger, Adriana Hölzsky und Walter Zimmermann bis zu Caspar Johannes Walter, Jakob Ullmann und den Jüngsten wie Clemens Nachtmann und Sergej Newski aus Friedrich Goldmanns Schule. International ist mein Tableau keineswegs anders. Computer werden von einigen funktional oder sogar konzeptiv in den Kompositionsprozessen selber angewandt, von den meisten aber bloß zur perfekten Erstellung von Partiturreinschriften.

Sie waren Zeuge der Geburt der elektronischen Musik im Studio des Kölner Rundfunks.
Ja, als Karlheinz Stockhausen dort experimentiert und seinen "Gesang der Jünglinge" produziert hat, und vorher erlebte ich in Paris die erste Blütezeit der musique concrète mit Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Da ist in der Tat etwas Neues in die Welt gekommen: Musik, die nicht länger durch einen "Interpreten" aufgeführt werden muss, sondern deren Klang direkt auf einen abspielbaren Tonträger komponiert wurde.

Was hat das für den Begriff der musikalischen Tradition bedeutet?
Das haben wir bis heute nicht begriffen. Hörer der ersten einschlägigen Konzerte waren entsetzt über die "Abschaffung des Menschen". Die Hoffnungen, die sich damals mit diesen Innovationen verbunden haben, sind ja offensichtlich nicht aufgegangen. Fast alle Pioniere der elektronischen Revolution kehrten schnell zu geschriebenen Instrumental - und Vokalpartituren zurück, allenfalls mit ein bisschen Live-Elektronik. Einzig Gottfried Michael Koenig verriet bis heute die Revolution nicht.

Arnold Schönberg hat von 1933 bis 1936 nur noch vorhandene Musik bearbeitet. Nichtsdestoweniger rumort ein Ganzteil eigener Gedanken darin.
Es kann kein Zufall sein, dass dies chronologisch zusammenhängt mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland und mit Schönbergs Flucht aus diesem Land, wo er sonst umgebracht worden wäre. Das Hauptwerk der Zeit der beginnenden Verfinsterung ist das Konzert für Streichquartett und Orchester nach einem Concerto grosso von Händel. Schönberg hielt Händel für radikal verbesserungsbedürftig. Doch hat er durch seine Art, ihn zu verbessern, eines der merkwürdigsten musikalischen Gebilde geschaffen, die es gibt. Dieses Konzert ist ja so sonderbar, ein neotonales Gebilde mit Händelschem Material, das von Grund auf uminstrumentiert und nicht ohne Gewalt in ein kritisches Licht gestellt und dabei resolut umgeformt wird.

Wollte Schönberg darüber etwas verdeutlichen? Hat er womöglich eine Antwort geben wollen?
Das Streichquartettkonzert ist eine rätselhafte Antwort auf das politische Verhängnis, das damals über Europa hereinbrach, und wir haben sie bis heute nicht verstanden. Dies Werk als einen positiven Rückgriff auf Tradition deuten zu wollen, würde wohl ganz in die Irre führen. Jedenfalls war Schönbergs Antwort auf den Faschismus kein Rückgriff auf längst Vergangenes, sondern dessen Problematisierung.

Noch vor 200 oder 250 Jahren kam fast nur aktuelle, neue Musik in den Konzerten und Konzertsälen vor; unterdes hat sich dieses Verhältnis radikal umgekehrt. Heute dominieren die Märkte der Barockmusik, der Klassik, der Romantik. Neue Musik ist im wesentlichen auf Inseln mit sich beschäftigt. Was ist das für ein Zustand, wo die toten Heiligen über die lebenden Unheiligen souverän gebieten und Geschichte zum Hemmschuh wird?
Die Funktion dieser Praxis kann es ja nur sein, abzulenken von den gegenwärtigen Problemen. Es gibt offenbar ein Interesse daran, dass diejenigen, die seriöse Musik noch beachten, Kompositionen nicht zu dem Zeitpunkt kennen lernen, wo sie aktuell sind, sondern erst aus einer retrospektiven Sicht zur Kenntnis nehmen können. Aber darauf jetzt eine kritische, politische Theorie aufzubauen, ist schwierig.

Mit dem Geschichtsverlust als einer gesellschaftlichen Tendenz schreitet unweigerlich auch der Prozess des Vergessens fort, auch die Nötigung, das, was einem täglich potenziell ins Gesicht schlägt, von sich zu weisen, abzuweisen. Man sieht sich ja zunehmend gezwungen, vielmehr zu vergessen als in früheren Zeitläuften, weil soviel Material auf einen zuströmt, dass das überhaupt nicht mehr konsumierbar ist und vor allem nicht annähernd den Wert hat, überhaupt angenommen zu werden. Wie weit kann Geschichte noch mitlaufen, wo ihr Potenzial akut abnimmt, wo ihr Potenzial in der Geld-, Krisen- und Kriegsgesellschaft immer weniger Menschen tangiert?
Das ist ein furchtbares Problem. Ich würde es einmal so zusammenfassen: Die Erinnerung verfälscht, das Vergessen vernichtet, und nur die Verdrängung bewahrt treulich das Gewesene, aber um den Preis, dass man keinen Zugriff mehr darauf hat. Und da es unbewusst und damit auch unbegriffen ist, wirkt sich das Verdrängte oft verhängnisvoll aus. Diese Dialektik durchschaubar und beherrschbar zu machen, ist vielleicht das Allerwichtigste, das zentrale Problem überhaupt, das wir haben. Zu seiner Lösung kann ich leider kein Rezept anbieten.

Alternativ dazu die Frage: Ist Ernst Blochs Diktum noch gültig, das Vergangene als Unabgeschlossenes zu sehen, voller Möglichkeiten nach vorn? Das wäre die positive Wendung sozusagen, Geschichte als Möglichkeit.
Hoffentlich. Viel Zeit haben wir nicht mehr. Denn die Möglichkeit des Lebens auf diesem Planeten, ich meine jetzt ganz einfach im physikalisch-chemisch-biologischen Sinn: die Chance des Vorkommens komplexer Eiweißverbindungen, wie Organismen sie sind, die Chance des Fortbestandes dessen, was wir Biosphäre nennen, diese Chancen vermindern sich von Tag zu Tag, weil sie aufgezehrt werden durch eine sinnlose, Tod und Verderben produzierende Art des Wirtschaftens und durch eine Technologie, die im Dienst dieser sogenannten Wirtschaft steht. Dazu kommt die maßlose Vermehrung, der die Menschheit immer noch frönt. Es wäre an der Zeit, sich auf die Verszeile Stefan Georges zu besinnen: "Schon eure zahl ist frevel." Elitärer Ästhetizismus kann sehr realistisch sein. Was uns jetzt fehlt, ist aber eine überzeugende Revolutionstheorie. Übrigens würde es nicht genügen, wenn sie überzeugend wäre. Sie müsste auch noch wahr sein, wahr werden.

Und die Musik? Braucht sie eine Revolution, also den radikalen Bruch mit falscher Geschichte?
Ja. Der Anarchist John Cage hoffte noch auf die Entwicklung der Nano-Technologie, die sich die Aufgabe stellt, im submikroskopischen Bereich Maschinen zu konstruieren, die viele Probleme, die im makroskopischen Bereich bisher unlösbar waren, lösbar machen. Ich bin da kein Fachmann. Die Frage ist, ob Modelle, die das Leben auf Erden retten und sinnvoll machen könnten, rechtzeitig auftauchen und revolutionär angewandt werden oder nicht auch wieder in den Dienst des herrschenden Verhängnisses gestellt werden.

Bleiben wir noch bei Cage. Er galt in gewissen Kreisen als Traditionszerstörer, allein, weil ihm der Gesang der Vögel im Walde genauso lieb war wie Musik von Mozart. Cage hatte einfach eine andere Vorstellung von Musikgeschichte, die er als Klanggeschichte auffasste - jeder Klang sei irgendwie Musik und gleichermaßen ein Geschenk der Natur wie der Natur des Menschen. Sein Horizont war daher sehr viel weiter gespannt als der seiner Widerparts, sein Musikbegriff großräumig und großzügig, Faktoren, die enorme Auswirkungen auf den Gang der Neuen Musik hatten. Sie haben des öfteren darüber reflektiert. Cage habe die Musik befreit, schrieben Sie. Aber diese Freiheit ist ja dann auch wieder verschlissen worden durch falsche Interpretationen, auch durch ein ziemlich geschichtsvergessenes Banausentum.
Ja, und die Cage-Aufführungen, die heute stattfinden, sind zum größten Teil reiner Blödsinn. Man sollte es nicht für möglich halten, aber vielen seiner Interpreten fehlt Tradition. Die Cage-Tradition, die David Tudor unvergleichlich inkarnierte, wird heute nur von einem winzigen Häuflein von Instrumentalisten vertreten, die fast auf verlorenem Posten stehen gegen die sich breit machende Wucht der Beliebigkeit, die alte Erbfeindin der Strenge der Freiheit und aller revolutionären Verheißung. Das ist der schlimmste Traditionsbruch.

Wieviel Geschichte braucht Neue Musik?
Neue Musik braucht die gesamte Menschheitsgeschichte.

Das Gespräch führte Stefan Amzoll


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