Es scheint höchste Zeit, dass Israel nicht weiter an Realitätssinn verliert. Wenn Scharons Soldaten palästinensische Privathäuser, Geschäfte und sogar den Flughafen von Gaza zerstören, der mit Hilfsgeldern der EU erbaut wurde, kann das den Teufelskreis der Gewalt nie durchbrechen. Diese Aktionen bewirken nur eines - sie sorgen für freies Schussfeld. Offenbar ist genau das beabsichtigt.
Am 6. Juni 1967 wurde ich elf Jahre alt. Ich hatte schon alle meine Freundinnen eingeladen und mir viele Spiele ausgedacht. Es sollte ein schönes Geburtstagsfest werden. Früh stand ich an diesem Tag auf - ich wurde wach vom Weinen meiner Mutter. Erschrocken fragte ich, was geschehen sei. Doch anstatt mir zu antworten, weinte und jammerte sie noch viel lauter und schlug sich dabei auf arabische Weise abwechselnd auf Gesicht und Brust. Es muss jemand gestorben sein, kam es mir in den Sinn, denn ich wusste, wie meine Mutter trauerte. Doch da sagte sie, wir hätten unsere Heimat verloren. "Wer weiß, ob ich je meine Eltern und Geschwister wiedersehen werde. In Palästina ist Krieg."
An diesem Tag wurde ich elf. Die Stunden vergingen, es war schon bald Mittag. Leise fragte ich meine Mutter: "Willst du anfangen, Kuchen zu backen, bald werden meine Freundinnen kommen?" - "Du bist ein großes Mädchen", sagte sie, "du wirst verstehen, dass wir nicht deinen Geburtstag feiern können, wenn in unserer Heimat Krieg ist." Doch ich war weder groß, noch verstand ich, was sie meinte. Was sollte ich meinen Freundinnen sagen? Ich ging von Haus zu Haus, um sie auszuladen. Meine Mutter sei plötzlich sehr krank geworden, sagte ich, ohne ihnen dabei in die Augen zu schauen. Trauernd saßen wir bis in die Nacht hinein beisammen, meine Familie trauerte um unsere ferne Heimat Palästina - ich um meinen Geburtstag.
Seitdem holt mich die Erinnerung jedes Jahr am 6. Juni zurück in meine Kindheit. Ich habe Deutschland später, als ich 20 war, verlassen, um in Palästina zu heiraten, so wie es meine Eltern für mich bestimmt hatten. Die Jahre vergingen, die israelische Besatzungsmacht blieb.
Wird man erwachsen mit den Jahren oder mit dem, was man erlebt?
Am 19. Oktober 2001, an einem Freitag und 34 Jahre nach meinem elften Geburtstag, wird meine jüngste Tochter Monika in der Stadt Beit Jala, in der wir seit geraumer Zeit leben, elf Jahre alt. Seit Tagen fiebert sie diesem Ereignis entgegen. Und die Geschichte wiederholt sich.
Am 18. Oktober werden in Bethlehem drei Menschen getötet, am 19. rollen israelische Panzer in Beit Jala und Bethlehem ein. Monika fragt mich angstvoll: "Werden meine Freundinnen zu meinem Geburtstag kommen?" Mein Herz krampft sich zusammen, denn ich höre schon von weitem die Schüsse. Maschinengewehrsalven, Granaten und Raketen wechseln sich ab. Mein Mann schreit: "Werft euch alle auf den Boden." - Schon oft ist unsere Wohnung von Kugeln getroffen worden. Die Erde unter uns bebt, die Fenster überlegen, ob sie zerspringen sollen. Monika krallt sich an mir fest und schreit: "Werden sie jetzt in unser Haus kommen und uns erschießen?" Anstatt ihr zu antworten, halte ich sie ganz fest in meinen Armen, meine Tränen tropfen auf ihr Gesicht. Ich weine um die geraubte Kindheit unserer Kinder. Ich frage mich, wird man erwachsen mit den Jahren oder mit dem, was man erlebt?
Wir hören die Panzer näher kommen. Angst, Todesangst überkommt mich. Ich kann nicht mehr klar denken, meine Knie werden weich. Die Einschläge sind ganz nah an unserem Haus. Mein Mann macht ein Kreuzzeichen, ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Unser Nachbarhaus ist getroffen. Ich höre die Kinder schreien, sechs Kinder, das jüngste ist ein Jahr alt. Sie haben erst vor 20 Tagen ihren Vater verloren. Ein Unfall in der Nähe von Jericho. Der Krankenwagen wurde am Checkpoint von den israelischen Posten nicht durchgelassen. So verblutete er.
Wir kriechen aus unserer Wohnung in das Treppenhaus, weil dort weniger Fenster sind. Da ahne ich noch nicht, dass sich unser Leben bald nur noch auf der Treppe abspielen wird. Die Nachricht vom Tod eines jungen Mannes aus Beit Jala erreicht uns - man hat ihn in seiner Wohnung erschossen. Nach dem deutschen Arzt Harry Fischer der zweite, der in Beit Jala getötet wird. 19 soll er gewesen sein, als sein Leben in einer Sekunde durch eine Kugel erlosch.
Da fällt ein Schuss, sie haben in das Schlafzimmer meiner Tochter geschossen
Schon erreicht uns die nächste Hiobsbotschaft: Die Kusine meiner Schwägerin hat sich aus dem Haus gewagt, um Milch für ihre zwei kleinen Kinder zu kaufen. Sie kehrt nie wieder. 24 Jahre alt, wird sie auf dem Weg zurück erschossen. Von zwei anderen Frauen in Bethlehem ist die Rede, eine hat acht Kinder, eine sechs. Zivilisten werden einfach auf der Straße getötet. Wo ist die "internationale Staatengemeinschaft", frage ich mich. 23 Menschen hat man in Bethlehem und Beit Jala in dieser Woche erschossen, über 50 in ganz Palästina. Wie viel Menschenleben braucht Scharon noch, um den Tod seines Tourismusministers aufzuwiegen?
Plötzlich hören wir Panzer in unsere Straße rollen. Soldaten steigen aus und schlagen mit den Kolben ihrer Maschinengewehre an unsere Haustür. Wir halten den Atem an. Vor lauter Angst weinen sogar die Kinder nicht mehr.
"Du musst aufmachen", sagt mir mein Mann.
"Ich?" fragte ich, als ob ich nicht gehört hätte.
"Wir Männer werden uns verstecken, und ihr Frauen öffnet", flüstert er.
Das widerspricht der arabischen Tradition. Wenn uns ansonsten Fremde besuchen, öffnet mein Mann. Doch ich gehe zur Tür und komme mir vor wie jemand, der zum Schafott unterwegs ist. Ich öffne, und sechs Soldaten dringen in unser Haus ein.
"Was sucht ihr?" frage ich und erhalte keine Antwort. Die Schlafzimmertür ist verschlossen. Sie warten nicht, bis ich aufschließe, sondern treten die Tür ein. Sie finden nicht, was sie suchen. Ihre Wut darüber lassen sie an unserem Auto aus und zerschießen die Seitenscheiben. Ich laufe wieder in die Wohnung - da fällt ein Schuss, sie haben in das Schlafzimmer meiner Tochter geschossen, die Fensterscheibe und den Kleiderschrank getroffen. Und ich frage mich, wer auf dieser Welt Terror definiert. In der Nacht kommen sie wieder. Diesmal trifft es unsere Nachbarn. Nachdem sie die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, in der Küche Mehl, Linsen und Reis verstreut, damit letzte Vorräte unbrauchbar gemacht haben, fangen sie an, auf die beiden Familienväter vor den Augen ihrer Frauen und Kinder einzuschlagen. Sie verbinden ihnen die Augen und nehmen sie mit.
Am Nachmittag wird ein Siebzehnjähriger vor der Geburtskirche in Bethlehem erschossen. Die Kirche selbst wird auch getroffen. Vielleicht wird das einige in der westlichen Welt aufrütteln, dass sie wenigstens Angst um die älteste Kirche der Christenheit haben.
Tags darauf wird in Jerusalem der neue Propst in sein Amt eingeführt, dazu soll es auch in der evangelischen Kirche von Beit Jala einen Gottesdienst geben. Hoher Besuch aus Deutschland wird erwartet: Bischof Koppe, Bischöfin Maria Jepsen und Bischof Huber aus Berlin. Ob sie es wohl wagen, zu uns zu kommen? Da ich nicht in die Erlöserkirche nach Jerusalem gehen kann, will ich es hier versuchen. Mein Mann ist ganz entsetzt, er will mich nicht gehen lassen. Ich verspreche ihm, vorsichtig zu sein. Zwei Panzer kommen mir entgegen, ich verstecke mich hinter einem Auto. Der kleine Bus mit den Geistlichen erreicht fast zeitgleich mit mir die Kirche. Der Gottesdienst beginnt mit der Predigt von Bischof Huber. Sobald er davon spricht, Böses mit Gutem zu vergelten, verleiht das den Salven der Maschinenpistolen draußen vor der Tür einen noch eindrucksvolleren Klang. Der Besuch aus Deutschland in einer solch gefährlichen Zeit setzt ein Zeichen von Solidarität. Danach gehen die Gäste zum Trauergottesdienst für eine erschossene Palästinenserin in die orthodoxe Kirche, was von allen mit Respekt wahrgenommen wird.
Wieder zu Hause wartet eine schlechte Nachricht auf mich. Die Schwiegermutter meiner Schwester ist durch einen Streifschuss verletzt worden. Ein israelischer Freund ruft mich an. Ich sage ihm, was alles passiert ist. "Warum sollten wir die Menschenrechte wahren, wenn Amerika sie nicht wahrt - wer soll denn jetzt noch Scharon aufhalten?", meint er. Niedergeschlagen lege ich den Hörer auf. Die Nachrichten sagen, dass zwei Krankenhäuser und die Universität getroffen sind. Am Eingang des Beit Jala-Hospitals stirbt ein Mann durch eine Gewehrsalve.
Israel spricht von einem "Luxuskrieg", weil seine Soldaten in Hotels schlafen
Jeden Tag werden Menschen begraben. Wie lange noch, frage ich mich. Zwei Hotels sind in Bethlehem von israelischen Soldaten besetzt. Von dort aus haben sie eine gute Sicht auf zwei Flüchtlingscamps. Israel spricht von einem Luxuskrieg, weil seine Soldaten in Fünf-Sterne-Hotels schlafen. Die Palästinenser haben für diese Art von Humor nicht viel übrig. Noch am gleichen Tag steht das Paradise-Hotel in Flammen.
Bei uns fließt kein Wasser mehr im Haus, das hat uns gerade noch gefehlt! Wer weiß, wann sie uns welches zuteilen werden? Das Wasser kommt alle zwei bis drei Wochen einmal. Es wird auf dem Dach in Blechkanistern gesammelt. Die Israelis zapfen uns das Wasser unter unseren Füßen weg, denn die Palästinenser dürfen keine eigenen Grundwasserbrunnen bohren. Sie bekommen in der Regel ein Sechstel von dem, was ein israelischer Siedler bekommt - das heißt oft, kein Trinkwasser, kein Badewasser, kein Waschwasser, kein Toilettenwasser ...
Bei drei großen Familien im Haus wird da die Situation schnell unerträglich.
"Ich schäme mich, dieser Gesellschaft anzugehören", sagt mir meine jüdische Freundin am Telefon. "Bitte lass´ deinen Sohn nie zum Militär gehen", flehe ich sie an. Er hat doch so oft mit Monika gespielt.
Der Schabat geht zu Ende, sie sind noch immer nicht abgezogen
Endlich nach einer Woche des Horrors, in der wir kaum geschlafen haben, wollen sie abziehen, doch erst, nachdem der Schabat vorüber ist. Am Schabat sollst du ruhen, sagt die Tora, doch nicht das Militär. Wir verbringen diesen Tag genauso im Treppenhaus wie die anderen Tage und Nächte zuvor. Der Schabat geht zu Ende, sie sind noch immer nicht abgezogen. Ich kämpfe mit den Tränen. Das Lied, Von guten Mächten treu und still umgeben, von einem evangelischen Pfarrer geschrieben, über einen katholischen Pater zu mir gefaxt, gibt mir als orthodoxer Christin Trost und Hoffnung.
Dann, Sonntagnacht, hören wir die Panzer abfahren. Auch das Haus hinter uns, das sie besetzt hatten, um von dort aus auf Bethlehem zu schießen, wird geräumt. Nach zehn Tagen Invasion sind wir frei. Der Preis war hoch, 23 Menschenleben, 200 Verletzte, über 20 Millionen Dollar Sachschaden.
Ich weiß, dass die Panzer nur die Straße hoch in die C-Zone gefahren sind, trotzdem freue ich mich, wieder auf die Straße gehen zu können.
Wir danken der Zeitschrit Im Land der Bibel.
Faten Mukarker ist die Autorin des Buches Leben zwischen Grenzen - Eine christliche Palästinenserin berichtet. Hans Thoma-Verlag GmbH, Karlsruhe 1998, 139 Seiten, 15 Euro.
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