Sigmar Gabriel hat Ende 2017 im Spiegel eine Kritik der Postmoderne forciert. Die SPD hätte sich zu „oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten.“ Damit hat er eine breite Grundsatzdebatte über Werte und Ziele der Linken losgetreten. Gabriel schaffte es – wieder einmal – die richtigen Fragen zu stellen. Offen bleibt nun aber, ob Gabriel selbst und die SPD diesmal auch die richtigen Antworten werden finden können. Mit Blick auf den Essay von Gabriel muss man diese Frage leider verneinen.
Richtig liegt Gabriel jedoch darin, dass er in der zu einseitigen Fokussierung der SPD auf kulturpolitische Themen und den Rechten von Minderheiten eine wesentliche Ursache des Niedergangs erblickt. Allerdings zieht er daraus nicht die richtigen Schlüsse und es hat den Anschein, dass er im Grunde alles beim Alten belassen möchte nur garniert mit etwas Heimatfolklore für die Verlierer der Modernisierung.
Was also tun?
Ralf Dahrendorf hat schon vor Jahrzehnten gemeint, dass sich die Sozialdemokratie im Grunde zu Tode gesiegt habe. Sie habe halt alles erreicht. Wir wären alle irgendwie ein bisschen sozialdemokratisch geworden. In einer Hinsicht stimmt das heute. Es stimmt mit Blick auf einen kulturellen Linksliberalismus, der dafür steht im Kampf um eine freie und offene Gesellschaft Fortschritte errungen zu haben.
Die Linken haben stets für gesellschaftliche Freiheiten gekämpft. Emanzipation war immer eine linke Angelegenheit. Und es ist gut, dass sie heute immer noch kämpfen. Der Kampf für Emanzipation gehörte stets zu dem donnernden Sowohl-als-auch (Willy Brandt). Der andere Teil des donnernden Sowohl-als-auch ging aber bei vielen linken Parteien verloren. Der andere Teil stellt die „Soziale Frage“ und der befasst sich mit der Eindämmung des Kapitalismus. Vor allem sozialdemokratische Parteien haben im Zuge ihrer neoliberalen Wende in den 1990er und 2000er Jahren den Freiheitskampf gegen Ausbeutung, Unterdrückung und für sozialen Ausgleich radikal vernachlässigt.
Helfeshelfer des Kapitals
Schlimmer noch: Sie dienten sich dem Großkapital als Unterstützer und als Deregulierer an – von Bill Clintons Finanzminister Larry Summers, über Tony Blair, Gerhard Schröder bis Wolfgang Clement. In den vergangenen Jahren hat sich daran so gut wie nichts geändert. Jemand wie Emmanuel Macron, der in Frankreich die Arbeitsmärkte im Sinne der Arbeitgeber flexibilisiert und die Vermögenssteuer weitestgehend abgeschafft hat, wird dann noch von vielen Linken als neuer Held gefeiert.
Die Sozialdemokratie gab es auf, eine Schutzmacht für die „kleinen Leute“ zu sein und eine Gegenmacht gegen das Kapital, sie ist im Gegenteil mehr und mehr Helfershelfer des Kapitals geworden. In der Folge haben sich immer mehr Menschen von der SPD abgewandt: Menschen, die sich an Reallohnstagnation oder gar Reallohnverlust gewöhnen mussten oder Angst vor einem Abrutschen in Hartz IV hatten. Nicht nur seit die Flüchtlinge kamen und sich manche nicht sofort euphorisch zeigten, fühlen sich dann manche auch noch moralisch nach unten gedrückt. Und so verwundert es kaum, dass die Rechtspopulisten in vielen Ländern Europas und zunehmend auch in Deutschland zum großen Teil, wenn auch nicht ausschließlich, von Arbeitern, ökonomisch Abgehängten und Besorgten der unteren Mittelschicht gewählt werden.
Egal ob es die „kleinen Leute“ sind, oder Menschen, denen es ökonomisch noch gut geht, die sich aber Sorgen über die Zukunft machen – sie wurden weniger gehört und in letzter Zeit immer mehr moralisch von einer tonangebenden akademischen Klasse abgewertet. Der von dieser Klasse getragene kosmopolitische Liberalismus ist sowohl im Merkel-Flügel der Union, als auch unter vielen Funktionären der SPD und der Grünen sowie im Kipping-Flügel der Linkspartei hegemonial geworden. Auch im Journalismus ist er sehr verbreitet.
Realitätsverweigerung einer liberalen Elite
Es wurde und wird von einer kleinen liberalen Elite Meinung gemacht für vielleicht ein Drittel, vielleicht sogar eher nur ein Viertel der Bevölkerung der liberalen Demokratien. So entstand eine neue Konfliktlinie: Ein liberales, weitgehend postmaterialistisches Bürgertum und der Rest. Folglich wurde und wird die politische Diskussion von einer Art Kulturkampf um die richtige Sichtweise auf die Welt dominiert – die Liberalen gegen die Rechtspopulisten. Das wiederum hat vor allem jene Menschen gestört und verstört, die nicht nur über Innere Sicherheit und kulturelle Gewissheiten sprechen wollen, sondern sich eben auch um ihre ökonomische Zukunft sorgen und diese Sorgen politisch adressiert sehen wollen.
Man hatte und hat es also hier mit Realitätsverweigerung einer liberalen Elite zu tun. Vieles kam nicht mehr richtig zur Sprache. Das betrifft nicht nur die Ausblendung sozialer Kosten bei der Migration- und Integrationsfrage, sondern vor allem die soziale Frage. Richtet man seinen Blick auf mehr als nur auf die Haushaltsüberschüsse, die Arbeitslosenstatistik, und die Konjunktur, dann erweist sich selbst Deutschland als „gespaltenes Land“ (Alexander Hagelüken).
Von besonderer Schwere wiegt die Ausblendung ökonomischer Strukturprobleme der Europäischen Union.
Jeder Ökonom weiß: Im Falle des Auseinanderfallens des Euros wären die Deutschen die größten Verlierer. Die D-Mark, oder ein Nord-Euro würde zur härtesten Währung der Welt, Auslandsvermögen würde vernichtet und die deutsche Exportindustrie radikal geschwächt. Deswegen tut die deutsche Regierung auch alles, um den Euro zu halten. Aber was sie tut, ist genau das Falsche.
Mit einer Kombination aus expansiver Geldpolitik und fiskalischem Austeritätsprogramm werden die Euroländer nicht dauerhaft stabil bleiben. Sie werden es schon gar nicht, wenn es noch länger verschiedene nationale Staatsanleihen gibt. Fakt ist: Krisenländer können ihre Währung nicht mehr abwerten, sie sollen gleichsam Staatsausgaben kürzen, die Löhne sollen fallen und auf ihre Staatsanleihen müssen sie hohe Zinsen zahlen. Diese toxische Mischung destabilisiert die Krisenländer und den Euro von innen heraus.
Ein hohles Bekenntnis zu Europa
Entscheidender ist noch, und das ist aus linker Perspektive zu sagen: Durch das deutsche Lohndumping – auch in Folge der Hartz-Reformen –, durch die sinkende Tarifbindung, Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und generell einer lohnpolitischen Kaskade bei den unteren Einkommen, die bislang durch den deutschen Mindestlohn nur unzureichend aufgehalten wurde, hat sich Deutschland gegenüber seinen Euro-Nachbarn radikale Wettbewerbsvorteile geschafft. Aber anstatt dass es in Deutschland eine lohnpolitische Wende gibt, versuchen es andere Länder teilweise mit einer Kopie der Hartz-Reformen (wie gerade Emmanuel Macron in Frankreich) oder werden von der Quadriga aus IWF, EU-Kommission, EZB, sowie den Börsen und großen Teilen der Finanzmarktanalysten zu fiskalpolitischer Radikalkur gezwungen. Gleichzeitig kauft die EZB Staatsanleihen auf und mutiert heimlich einerseits zum Retter des Euros, andererseits zur potenziell größten Bad Bank aller Zeiten.
Solche ökonomischen Grundsatzfragen werden aber in der Sozialdemokratie und in der Folge auch in der breiteren Öffentlichkeit kaum debattiert, geschweige denn ernsthaft in politische Alternativen übersetzt. Stattdessen ist der Kulturkampf zum zentralen Modus des politischen Diskurses avanciert. Bei der Europafrage zeigt sich das zum Beispiel durch ein lediglich hohles Bekenntnis zu „Europa“ und zum „Internationalismus“ auf der liberalen Seite, wie es auch in Gabriels Essay im Spiegel deutlich wird, und einem Plädoyer für einen kulturellen und ökonomischen Nationalismus auf Seiten der Rechtspopulisten.
Gegen deren weiteren Aufstieg hilft allein auch keine identitätspolitische Wende gegen die liberal-postmoderne Identitätspolitik – egal ob sie von Alexander Dobrindt oder eben auch von Gabriel kommt. Klar, bestimmte Formen gesellschaftlicher Liberalisierung lassen sich sowohl aus linker als auch konservativer Perspektive kritisieren, aber weder eine „konservative Revolution“ (Dobrindt) noch eine substanzlose Kraftmeierei über Heimat werden die Volksparteien wieder steigen lassen. Vielmehr sollte die für Außenstehende oft als reine Weltbilddiskussion von politischen Eliten empfundene Diskussionskultur überwunden werden und sich vielmehr damit beschäftigt werden, welche konkreten Sorgen und Nöte die Menschen eigentlich haben und was man tun kann und soll, um diesen zu begegnen.
Probleme der Integration benennen
Für die Linke bedeutet diese Realismuswende, auch Konzepte zu entwickeln, wie das zunehmende internationalisierte Kapital wieder demokratisch eingehegt werden kann. Was muss also in Europa ganz konkret geschehen, damit sozialdemokratische und andere linke Kräfte nicht auch in vier Jahren lediglich weiter von einem „sozialen Europa“, oder einer europäischen Finanzmarkttransaktionssteuer träumen? Das könnte auch zu der Einsicht führen, dass die gegenwärtig von der sozialdemokratischen Parteiführung und Gabriel favorisierte Strategie eines weiteren Souveränitätstransfers auf die Ebene der Europäischen Union für Linke nicht der richtige Weg sein kann – zumindest nicht gerade jetzt. Auf nationaler Ebene müsste es nicht nur zur Erhöhung von Mindestlöhnen oder zu einem New Deal für Wohnungsbau und zu einer Beschränkung von ausländischem Kapital auf dem Wohnungsmarkt kommen, damit die soziale Frage beim Wohnen endlich adressiert werden kann, sondern auch neue Bündnisse mit den Gewerkschaften, etwa für die Erhöhung der Tarifbindung, sollten von den linken Parteien forciert werden. Zuletzt sollte die Flüchtlingsfrage nicht lediglich als eine Wertedebatte, sondern klar und deutlich empirisch geführt werden, sodass man konkrete Probleme der Integration auch benennen und beheben kann, anstatt die Thematisierung dieser Probleme lediglich als „rassistisch“ zu diffamieren.
Es ist also Zeit wieder materialistischer zu denken und zu debattieren, und die Schönrednerei des status quo zu überwinden. Es ist nicht alles gut. Man muss Dinge ansprechen, um sie beheben zu können. Es ist somit Zeit für eine „Wiedergewinnung des Wirklichen“ (Matthew Crawford). Zeit aufzuwachen! Vor allem für die Linke.
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