FREITAG: Schröders Agenda 2010 widerspricht allem, was die SPD vor der Bundestagswahl verkündet hat. Nun versucht die SPD-Linke seit einiger Zeit, für mehr soziale Ausgewogenheit zu sorgen. Selbst wenn das gelingen sollte, müssten Sie und Ihre Mitstreiter die Agenda nicht trotzdem ablehnen, weil Schröders Kernpunkte, etwa die reduzierte Bezugsdauer von Arbeitslosengeld oder die drastisch gekürzte Arbeitslosenhilfe, mit sozialdemokratischer Politik nichts zu tun haben? ANDREA NAHLES: Ich habe der Agenda 2010 nicht zugestimmt, weil ich sehr grundsätzliche Probleme an einigen Punkten habe. Es ist allerdings so, dass der Stand der Diskussion jetzt nicht mehr der vom 14. März diesen Jahres ist. Es hat Bewegung gegeben, beispielsweise bei der Umlagefinanzi
r Umlagefinanzierung für Ausbildungsplätze oder auch bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Nun sollen praktisch alle, die aus dem Arbeitslosengeld kommen und dann in das Arbeitslosengeld II reingehen, einen Zuschlag von circa 160 Euro über der Sozialhilfe erhalten. Offen bleibt das Problem des Krankengeldes. Die Aufgabe der paritätischen Finanzierung ist eine einseitige Belastung von Arbeitnehmern, die ich kritisiere. Ein Schieflage haben wir auch bei den Beiträgen von Vermögenden und hohen Einkommensgruppen zum Sozialstaat. Da ist die Frage der Vermögensteuer für mich weiterhin ein Thema, was in der Agenda nicht berücksichtigt wird. Aus Sicht der Linken in der SPD sind wir noch nicht am Ziel. Selbst wenn Sie am Ziel wären - im Bundestrend fällt Ihre Partei weiter ab. Wäre nicht eine Befreiung von Schröder eine Befreiung für die SPD? Nein. Wir wollen Gestaltungsmacht. Ich sehe in Merz, Stoiber und Koch keine Alternative zur rot-grünen Bundesregierung. Ganz klar: Nein!Obwohl die SPD mit Schröder, der ja den Wahlbetrug zu verantworten hat, keinen Pfifferling mehr gewinnen kann? Dass es da Probleme gibt, will ich gar nicht bestreiten. Nun sagt Gerhard Schröder, dass sich die Lage dramatisch verändert hat. Das bestreite ich. Es hat seit dem zweiten Quartal 2001 eine wirtschaftliche Stagnation gegeben, die sich eigentlich immer weiter verschärft hat, aber die Situation ist jedenfalls nicht über Nacht gekommen. Insoweit ist es ein Glaubwürdigkeitsproblem, unter dem die gesamte SPD leidet.Dieses Glaubwürdigkeitsproblem, wie Sie es nennen, kann aber die Agenda nicht lösen. Im Gegenteil: Die Zahl der Arbeitslosen wird mit Schröders Politik noch weiter zunehmen. In der Tat reicht die Agenda 2010 nicht, um die nötigen Impulse für Beschäftigung und Wachstum in Deutschland zu setzen. Das ist auch die Kernauseinandersetzung, die wir mit dem Finanzminister zur Zeit führen: nämlich, wie wir mit den Konsolidierungszielen umgehen, die er selber ja immer nennt, aber dann doch nicht erreicht, wie wir also zu mehr Wachstum kommen, mehr Beschäftigung und mittelfristig zu mehr Konsolidierung. Das geht nur mit einer anderen ökonomischen Logik, die da heißt: Wir können uns nicht aus der Krise heraussparen, wir müssen aus dieser Krise herauswachsen. Deshalb brauchen wir mehr Investitionen. Genau das ist der Kern der Auseinandersetzungen. Jenseits aller Einzelpunkte gibt es da eine große Meinungsverschiedenheit, eine große Kluft innerhalb der SPD. Und das ist der Kern des Problems.Was würden Sie tun? Schon im Januar haben wir vorgeschlagen, die Steuerreform vorzuziehen, allerdings nur für den Steuerfreibetrag und den Eingangssteuersatz, also nicht für die Absenkung des Spitzensteuersatzes. Das wäre ein Impuls für die Binnenkonjunktur. Wir haben dann gesagt, die Kommunen brauchen dringend Geld, um Investitionen vornehmen zu können. Jetzt gibt es im Leitantrag zum SPD-Sonderparteitag die Aussage, dass den Kommunen mehrere Milliarden Euro aus der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe verbleiben sollen. Die Formulierung "mehrere Milliarden" muss aus meiner Sicht konkreter werden. Sind das zwei Milliarden? Das würde überhaupt nicht reichen. Oder sind es zehn Milliarden? Darüber kann man schon reden. Schließlich gibt es noch die Diskussion über die Stabilitätskriterien. Wir sparen und sparen, würgen unsere Konjunktur weiter ab und erreichen trotzdem diese Konsolidierungsziele und die Stabilitätskriterien nicht. Also muss man sich fragen: Wenn wir das schon nicht schaffen, dann sollten wir doch wenigstens die Spielräume, die wir haben, nutzen, um durch eine Flexibilisierung der Stabilitätskriterien eine beschäftigungsorientierte nationale Politik wieder zu ermöglichen.Auch wenn Sie mehr von dem, was Sie verlangen, durchsetzen würden, wären nur kurzfristig einige Löcher gestopft. Warum fordern Sie nicht - im Sinne einer langfristigen Finanzierbarkeit des Sozialstaats - einen progressiven Steuertarif für alle Einkommen, oder die Einbeziehung sämtlicher Einkommensarten in die Sozialsysteme? Das steht zumindest in recht allgemeiner Form im Perspektivantrag drin. Kurzfristig ist das auch nicht machbar. Gerade die Beamtenschaft ist ja immer sehr begeistert, wenn wir das vorschlagen. Oder auch die Freiberufler. Das sind ja die beiden Gruppen, die unbedingt integriert werden müssten in die Finanzierung. Natürlich auch die Zinsen und die Einnahmen aus Verpachtung und Zinsen. Da brauchen wir Mut zu Veränderungen.Schröder hat leider nur den Mut, Lobbyinteressen und bestimmten Stimmungen hinterher zu hecheln. Das ist beleidigend. Darauf antworte ich nicht.Fühlen Sie sich in der SPD noch wohl? Immer. Das ist eine Partei, die auch nicht nur von Einzelpersonen oder von Einzelkonflikten lebt. Die SPD ist die einzige Kraft, die wirklich Mehrheiten für eine linke Politik in Deutschland organisieren kann. Schauen Sie sich doch die PDS an: Mehr Vorlagen für eine Opposition von links kann sie doch kaum bekommen. Und was machen die? Die implodieren.Sollte sich die Linke in Deutschland neu organisieren? Auf jeden Fall brauchen wir auch diejenigen, die von der SPD enttäuscht sind, um eine andere Politik durchzusetzen. Ich selbst unterstütze seit Jahren Attac und andere Organisationen. Wenn man die Demokratie nur den Parlamentariern, den Lobbyisten und den Profis von der Wirtschaftsfraktion überlässt, wird sie stumpf.Stumpf wird die Demokratie aber vor allem auch dadurch, dass ausgerechnet die SPD eine Politik des Sozialabbaus betreibt und den Widerstand schwächt, der bei einer anderen Bundesregierung vermutlich viel stärker wäre. Im Moment widersetzen sich ja nur die Gewerkschaften. Das beschäftigt mich auch, und ich habe darauf keine richtige Antwort. Es wäre schon an der Zeit, dass sich mehr Menschen kräftig artikulieren. Auch für uns Kritiker in der SPD wir es ja nicht einfacher, wenn die öffentlich geäußerte Kritik verhalten bleibt.Das Gespräch führte Hans Thie
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